FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2003

 

Probleme des Umgangs zwischen Pflegekindern und ihren leiblichen Eltern

von Meriem Diouani

 

Vorbemerkung: Meriem Diouani hat ihre Diplom-Arbeit über den ’Umgang bei Pflegekindschaft’ bei Frau Prof. Zenz in Frankfurt geschrieben, dabei die beträchtlichen Probleme behandelt, die sich aus dem neuen Kindschaftsrecht bei seiner Anwendung auf Pflegekinder ergeben, zwischen Umgangskontakten bei traumatisierten Pflegekindern und Umgangskontakten bei nicht-traumatisierten Pflegekindern diffenrenziert und gelangt zu der bemerkenswert klaren Bilanz, daß bei traumatisierten und in ihrem Bindungsverhalten gestörten Pflegekindern “ein dauerhafter Ausschluß des Umgangsrechts der leiblichen Eltern“ die notwendige Konsequenz aus der entwicklungspsychologischen Forschung wie auch aus den klinischen und praktischen Erfahrungen sei.
(K. E., Mai 2003)

 

Immer wieder wird aus der Praxis über Konflikte aufgrund von Umgangskontakten zwischen Pflegekindern und ihren leiblichen Eltern berichtet. Sie bieten Anlass zu fachlichen Kontroversen innerhalb der Jugendhilfe und sind Auslöser familiengerichtlicher Verfahren. Die Gründe für diese Streitigkeiten um persönliche Kontakte sind vielfältig und im Einzelfall genau zu prüfen, häufig weisen die Konflikte allerdings symptomatisch auf tieferliegende Probleme hin.

Ein wesentlicher Aspekt der wiederkehrenden Konflikte betrifft die fast unvermeidbaren Spannungen zwischen der inhaltlichen Zielsetzung des §1684 BGB und der komplexen psychosozialen Lebenssituation von Pflegekindern.

Das durch die Kindschaftsrechtsreform 1998 novellierte Umgangsrecht unterstellt nämlich im Interesse der Kinder die grundsätzliche Kindeswohldienlichkeit persönlicher Umgangskontakte mit den Eltern und zielt auf den Erhalt tragfähiger Eltern-Kind-Bindungen auch nach einer räumlichen Trennung. Der Hintergrund dieser verstärkten Betonung des Umgangsrechts bildete allerdings nicht das Kindeswohl von in Heimen oder Pflegefamilien lebenden Kindern, sondern hierdurch sollte den häufigen Kontaktabbrüchen nach einer Scheidung entgegengewirkt sowie die Gleichstellung der Rechtsansprüche ehelicher und nichtehelicher Väter erreicht werden (1). Die Anforderungen an einen Umgangsausschluss sind verfahrensrechtlich entsprechend hoch und werden in der fachgerichtlichen Rechtsprechung auch restriktiv umgesetzt (2).

Dauerpflegekinder sind von dieser Rechtslage und durch die an sie herangetragenen Umgangsansprüche ihrer Herkunftseltern häufig mehrfach nachteilig betroffen. Für alle diese Kinder und ihre Pflegeeltern bedeuten anhaltende Streitigkeiten um die Umgangsfrage zum einen eine zusätzliche Belastung des - in Bezug auf die Zukunftsperspektive bezüglich Verbleib oder Rückführung häufig unsicheren - Pflegeverhältnisses. Zum anderen bedingen die (notwendigen) strengen rechtlichen Anforderungen an eine Fremdunterbringung außerhalb der Herkunftsfamilie und der Ausbau ambulanter Hilfen, dass die dauerhafte Inpflegegabe von Kindern heute als Ultima Ratio in einem spezifizierten Katalog sozialpädagogischer Hilfen anzusehen ist. Infolgedessen ist ein Anstieg des Alters zum Zeitpunkt der Fremdunterbringung sowie der emotionalen Probleme der Kinder zu verzeichnen (3). Die sozialen, psychischen und emotionalen Belastungen, denen diese Kinder vor ihrer Inpflegegabe ausgesetzt waren, haben bei einem nicht unerheblichen Teil von ihnen traumatisches Ausmaß angenommen (4). Bezüglich der Umgangskontakte zwischen Herkunftseltern und Pflegekindern geht es deshalb neben den (auch bei Trennungs- und Scheidungskindern) häufig beobachteten Loyalitäts- und Ambivalenzkonflikten entscheidend um die verstärkte Wahrnehmung und Berücksichtigung traumatischer Lebenserfahrungen der Kinder, die sie in bindungsrelevanten Situationen erlebten (5).

Die destruktiven entwicklungspsychologischen Auswirkungen von Kindesmisshandlung, schwerer Vernachlässigung und sexuellem Missbrauch auf das kindliche Bindungsverhalten, die zur Lebensrealität vieler Pflegekinder gehören, sind inzwischen durch die Befunde der Bindungsforschung vielfach empirisch belegt. Neuere Studien zeigen, dass ca. 80% der untersuchten (körperlich) misshandelten Kinder desorganisiert-desorientiert gebunden sind (6). Hinweise auf die klinische Relevanz desorganisierten Bindungsverhaltens führen Main u.a. deshalb zu der These, dass "desorganisiertes/desorientiertes Verhalten (...) immer dann zu erwarten (ist), wenn das Kind sich besonders vor seinen primären, sicheren Zufluchtsorten, d.h. den Bindungsfiguren, fürchtet" (7). Nach Lyons-Ruth u.a. führt ein in dieser Weise geprägtes Familienklima neben dem desorganisierten Bindungsmuster bereits zur kumulativen Traumatisierung der Kinder (8). Die Herausbildung einer tragfähigen Eltern-Kind- Bindung ist unter diesen Umständen nicht gegeben.

Die kinderpsychiatrische Forschung hat ihrerseits festgestellt, dass schwere Bindungsstörungen als Disposition für psychopathologische Folgen im Leben mancher Pflegekinder psychiatrisch behandlungsbedürftiges Ausmaß erlangen. Dies wird durch die Analyse der Inanspruchnahmepopulation der kinderpsychiatrischen Abteilung des Virchow Klinikums Berlin zum Zusammenhang zwischen Herkunftsfamiliensituation und Bindungsqualität deutlich: Bei 26,4% der untersuchten Pflegekinder wurde eine schwere Bindungsstörung nach den Kriterien der ICD-10 der WHO diagnostiziert (9).

Bindungsstörungen, kumulative frühkindliche Traumatisierung, Angstbindungen und ihre psychopathologischen Folgen zu lindern oder zu heilen bedeutet häufig eine lebenslange Aufgabe, die gezielte therapeutische Unterstützung erfordert - und auch das ist kein Garant für eine gelingende Bewältigung (10). Entwicklungspsychologen, Traumaforscher und Neurobiologen sind sich jedoch einig, dass Sekundärprävention in der Arbeit mit bereits traumatisierten Kindern der Vorrang vor allen anderen Hilfeansätzen einzuräumen ist (11). Unter Sekundärprävention ist ganz konkret die Möglichkeit zum Aufbau einer sicheren Bindung als Schutzfaktor vor erneuter Traumatisierung oder Retraumatisierung zu verstehen. Neben einer gezielten Therapie ist darunter für traumatisierte Pflegekinder vor allem die Sicherung eines Lebensumfeldes zu verstehen, in dem sie unter Ausschluss der Wiederbelebung des Traumas angebotene korrektive Bindungserfahrungen zunehmend für sich nutzen können.

Für die mit erheblich gefährdeten Pflegekindern befassten Berufsgruppen, die sich dem Schutz der Kinder vor weiteren (vermeidbaren) Schädigungen verpflichtet sehen, bedeutet dies in jedem Einzelfall die Auseinandersetzung mit dem komplexen Wechselspiel zwischen schwerwiegenden chronischen Beeinträchtigungen innerhalb der Herkunftsfamilien und den damit häufig einhergehenden Bindungsstörungen auf Seiten der Kinder bzw. pathologischen Eltern-Kind-Bindungen. Eine fachgerechte Exploration der Vorgeschichte des Pflegekindes und eine entsprechende kinderpsychologische Diagnostik im Einzelfall sind deshalb unerlässliche Voraussetzungen, bevor über Umgangskontakte oder regelmäßige Besuche entschieden wird.

Für traumatisierte Kinder kann jeder Kontakt mit den Herkunftseltern die Reaktualisierung des Traumas und so das Gefangenbleiben in pathologischen EItern-Kind-Bindungen bedeuten. Dies gefährdet die psychische Integrität der Kinder auch nach der Fremdunterbringung sowie ihre Integration in die Pflegefamilie (12).

Aufrechterhaltene Umgangskontakte können für traumatisierte und in ihrem Bindungsverhalten schwer beeinträchtigte Kinder deshalb gerade nicht im Sinne des §1684 BGB interpretiert werden, der -ausgehend von Scheidungskindern - von einer grundsätzlichen Kindeswohldienlichkeit der Eltern-Kind-Bindung ausgeht und vor diesem Hintergrund Kontakte postuliert. Auch angeleitete "beschützte Umgangskontakte" bieten zwar äußere Sicherheit, nicht aber den für das seelisch verletzte Kind so notwendig gebrauchten psychischen Schutz, auch und gerade zur schrittweisen Herstellung korrigierender Bindungserfahrungen (13). Das haben die Auswirkungen von zunächst im Haus der Pflegeeltern und anschließend im Jugendamt durchgeführten Besuchskontakten auf traumatisierte Pflegekinder in der Praxis deutlich gemacht (14).

Vor dem Hintergrund der entwicklungspsychologischen Forschungsergebnisse sowie der klinischen und praktischen Erfahrungen mit in ihrem Bindungsverhalten gestörten und traumatisierten Pflegekindern ist ein dauerhafter Ausschluss des Umgangsrechts der leiblichen Eltern deshalb aus Sicht eines umfassend verstandenen Kindesschutzes die notwendige Konsequenz aus den Lebenserfahrungen dieser Kinder.

Literatur:

1 Vgl. Bundestag-Drucksache 1314899: Deutscher Bundestag, Entwurf eines Gesetzes zur Reform des Kindschaftsrechts. Kindschaftsrechtsreformgesetz - KindRG, S.68.

2 Vgl. Oelkers, H.: Die neueste Rechtssprechung zum Umgangsrecht. In: FPR- Familie, Partnerschaft, Recht 2002, S.248.

3 Vgl. KOMDat - Jugendhilfe: Vollzeitpflege im Wandel. In: Kommentierte Daten der Kinder- und Jugendhilfe, Informationsdienst der Dortmunder Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik. Heft 2,1998, S.2.

4 Vgl. die von Blandow u.a 1999 formulierten Ergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung von Pflegeverhältnissen in: Ders.: Spezialisierung und Qualifizierung der Vollzeitpflege durch einen Freien Träger. Unter besonderer Berücksichtigung qualitativer und quantitativer Standards. Bremen: Universitätsverlag, 1999, S.177ff.

5 Auf diese Notwendigkeit weisen bereits die empirischen Befunde von Kötter hin. Vgl. Kötter, S.: Besuchskontakte in Pflegefamilien. Das Beziehungsdreieck "Pflegeeltern -Pflegekind -Herkunftseltern". Regensburg: Roederer, 1997, S.84ff und S.220ff.

6 Vgl. Dornes, M.: Die emotionale Welt des Kindes. 2.Aufl., Frankfurt: Fischer, 2001. S.52.

7 Hesse, E.; Main, M.: Desorganisiertes Bindungsverhalten bei Kleinkindern, Kindern und Erwachsenen. In: Brisch u.a.: Bindung und seelische Entwicklungswege, 2002, S.224.

8 Lyons-Ruth, K.; Melnick, S.; Bronfman, E.: Desorganisierte Kinder und ihre Mütter. Modelle feindselig-hilfloser Beziehungen. In: Brisch u.a.: Bindung und seelische Entwicklungswege, 2002. S.267.

9 Vgl. Fegert, J.: Die Auswirkungen traumatischer Erfahrungen in der Vorgeschichte von Pflegekindern. In: 1. Jahrbuch des Pflegekinderwesens 1998, S.25.

Die von der Bindungsforschung beschriebenen Bindungsstörungen sind nicht mit der durch die WHO -Diagnoseschlüssel kodierten "Schweren Bindungsstörung des Kinder- und Jugendalters" zu verwechseln.

10 Vgl. Zitelmann, M.: Kindeswohl und Kindeswille im Spannungsfeld von Pädagogik und Recht. Münster: Votum, 2001, S.287.

11 Vgl. Egle, U.T.; Hoffmann, S.0.; Joraschky, P. (Hg.): Sexueller Mißbrauch, Mißhandlung, Vernachlässigung. 2. erw. Aufl., Stuttgart: Schattauer, 2000, S.516.

Fischer, G.; Riedesser, P.: Lehrbuch der Psychotraumatologie. München/Basel: Psychologie Verlags Union, 1998, S.253, 257.

Hüther, G.: Die Folgen traumatischer Kindheitserfahrungen für die weitere Hirnentwicklung. In: Traumatisierte Kinder in Pflegefamilien und Adoptivfamilien . Hrsg. von PAN 2002, S.32.

Van der Kolk, Bessel: Zur Psychologie und Psychobiologie von Kindheitstraumata. In: Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie. Ergebnisse aus Psychoanalyse und Familientherapie. 47.Jg., 1, 1998. S.33.

12 Zur Reaktualisierung des Traumas durch Besuchskontakte vgl. Lambeck in Paten 1/1999.

Zur Gefährdung der Integration in die Pflegefamilie vgl. Nienstedt, M.; Westermann, A. : Pflegekinder. Psychologische Beiträge zur Sozialisation von Kindern in Ersatzfamilien. 5.Aufl., Münster: Votum, 1998, S.211f.

13 Vgl. Zenz, G.: Zur Bedeutung der Erkenntnisse von Entwicklungspsychologie und Bindungsforschung für die Arbeit mit Pflegekindern. In: 2.Jahrbuch des Pflegekinderwesens, 2001. S.31.

14 Vgl. hierzu die Falldarstellungen bei Ertmer, H.: Begleitung und Beratung traumatisierter Pflegekinder oder ein Plädoyer für die rückhaltlose Annahme von vernachlässigten, missbrauchten und misshandelten Kindern in Ersatzfamilien. In: 1.Jahrbuch des Pflegekinderwesens, 1998, S. 42ff

veröffentlicht in PATEN 2/03 (s.a. www.moses-online.de)

 

 

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