Michael Märtens und Hilarion Petzold haben wir die deutsche Ausgabe des von Kolk, McFarlane und Weisaeth herausgegebenen Sammelbandes über traumatischen Streß zu verdanken. Bessel van der Kolk und seine Mitarbeiter gehören zu den Großen der Traumaforschung. Seitdem Einigkeit besteht, daß auch die vernachlässigten, mißhandelten und mißbrauchten Kinder zum umfangreichen Kreis der Traumatisierten zählen, geht die Traumaforschung alle Heimerzieher und Pflegeeltern an sowie diejenigen, die sie beraten.
Das (gekürzte) Inhaltsverzeichnis gibt einen Überblick über deren Themen:
- B. A. van der Kolk et al.: Trauma - ein schwarzes Loch
- A. C. McFarlane et al.: Trauma und seine Herausforderung an die Gesel1schaft
- B. A. van der Kolk et al.: Die Geschichte des Traumas in der Psychiatrie
- A. Y. Shalev: Belastung versus traumatische Belastung
- Z. Solomon et al.: Posttraumatische Akutreaktionen bei Soldaten und Zivilisten
- E. A. Brett: Die Klassifikation der posttraumatischen Belastungsstörung
- A. C. McFarlane et al.: Widerstandskraft, Vulnerabilität und der Verlauf posttraumatischer Reaktionen
- B. A. van der Kolk: Die Vielschichtigkeit der Anpassungsprozesse nach Traumatisierung
- B. A. van der Kolk: Der Körper vergißt nicht - Ansätze einer Psychophysiologie der posttraumatischen Belastungsstörung
- B. A. van der Kolk: Trauma und Gedächtnis
- B. A. van der Kolk et al.: Dissoziation und Informationsverarbeitung beim posttraumatischen Belastungssyndrom
- R. S. Pynoos et al.: Traumatische Belastungen in Kindheit und Jugendalter
- P. G. H. Aarts et al.: Eine früher erfolgte Traumatisierung und der Prozeß des Alterns
- B. A. van der Kolk et al.: Ein allgemeiner Ansatz zur Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung
- G.]. Turnbull et al.: Akut-Behandlungsformen
- B. O. Rothbaum et al.: Kognitiv-behaviorale Therapie der posttraumatischen Belastungsstörung
- J. R. T. Davidson et al.: Die psychopharmakologische Behandlung der posttraumatischenBelastungsstörung
- S. W. Turner et al.: Der therapeutische Rahmen und neue Entwicklungen in der Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörung.
Gleich im Vorwort wird auf die verwirrende Komplexität der posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) hingewiesen:
Zum Beispiel sind die generalisierte Affektdysregulation und die Einschränkung der Ich-funktionen, die bei beinahe allen traumatisierten Individuen beobachtet werden, nicht einfach in Zusammenhang mit besonderen Lebensereignissen zu bringen. Dieses Problem ist bei Menschen, die als Kind traumatisiert wurden, noch komplexer, da ein frühes Trauma im Lebenszyklus die Entwicklung der für die Regulierung der psychologischen und physiologischen Prozesse verantwortlichen Systeme grundlegend beeinflußt. Dieser Bruch in den selbst-regulatorischen Prozessen macht die Betreffenden anfällig für die Entwicklung einer chronischen Affektdysregulation, für destruktives Verhalten gegenüber sich selbst und anderen, für Lernbehinderungen, für dissoziative Probleme, für Somatisierung und für Verzerrungen der Vorstellungen von sich selbst und anderen. (S. 13)
In mehreren Kapiteln werden nachvollziehbare Modelle zu den ursächlichen Zusammenhängen zwischen den psychotraumatischen Erfahrungen und den physiologischen Defekten angeboten. Die erschreckend vielfältigen physiologischen Abnormitäten bei der PTBS sind in folgender Übersicht zusammengestellt:
I. Psychophysiologische Effekte
- Extreme autonome Reaktionen auf Stimuli, die Erinnerungen an das Trauma zur Folge haben
- Übererregung durch intensive, aber neutrale Stimuli (Verlust der Fähigkeit zur Reizdiskriminierung)
1. Keine Gewöhnung an akustischen Schreckreflex 2. Reaktionen unterhalb der Geräuschintensitätsgrenze 3. Reduziertes elektrisches Muster bei kortikalen geschehnisbezogenen Potentialen
II. Neurohormonelle Effekte
- Norepinephrin (NE), andere Katecholamine
1. Erhöhte Katecholaminkonzentration im Urin 2. Erhöhte Reaktion der Plasma-NE-Metaboliten auf Yohimbin 3. Verringerung der adrenergen Rezeptoren
- Glukokortikoide
1. Verminderte Glukokortikoidkonzentration in Ruhe 2. Verminderte Glukokortikoidreaktion auf Streß 3. Verringerung der glukokortikoiden Rezeptoren 4. Überreaktivität auf niedrige Dexamethasondosierung
- Serotonin
1. Verminderte Serotoninaktivität bei traumatisierten Tieren 2. Die günstigste pharmakologische Reaktion wird mit Serotoninwiederaufnahmehemmern erreicht
- Endogene Opioide
1. Erhöhte Opioid-Reaktion auf Stimuli, die Erinnerungen an das Trauma zur Folge haben 2. Konditionierbarkeit der streßinduzierten Analgesie
- Verschiedene Hormone: Effekte auf das Gedächtnis
1. NE, Vasopressin: Konsolidierung der traumatischen Erinnerungen 2. Oxytocin, endogene Opioide: Amnesie
III. Neuroanatomische Effekte
- Vermindertes Volumen des Hippocampus
- Aktivierung der Amygdala und damit zusammenhängender Strukturen während Flashbacks
- Aktivierung der sensorischen Felder während Flashbacks
- Verminderte Aktivierung des Broca-Zentrums während Flashbacks
- Auffällige Lateralisierung zugunsten der rechten Hemisphäre
IV. Immunologische Effekte
(S. 201)
Die Entwicklung spezifischer Therapien befindet sich noch am Anfang. Das Ziel der Therapie läßt sich aber bereits umreißen:
Das Therapieziel bei traumatisierten Patienten besteht darin, ihnen zu helfen, von der Heimsuchung durch die Vergangenheit und ihrer Interpretation nachfolgender emotional erregender Stimuli als einer Wiederkehr des Traumas wegzukommen. Statt dessen sollen sie zu einer vollen Anteilnahme an der Gegenwart hingeführt und in die Lage versetzt werden, auf aktuelle Anforderungen reagieren zu können. Um dies zu bewerkstelligen, muß der Patient die Kontrolle über seine emotionalen Reaktionen wiedergewinnen. Er muß das Trauma in eine umfassendere Lebensperspektive einordnen - als ein geschichtliches Ereignis (oder eine Serie von Ereignissen), das zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort stattfand und von dem erwartet werden kann, daß es nicht noch einmal geschieht, wenn das Individuum sein Leben selbst in die Hand nimmt. Das Schlüsselelement bei der Psychotherapie von PTBS-Patienten ist die Integration des Fremden, des Unannehmbaren, des Furchterregenden und des Unverständlichen in ihr Selbstkonzept. Lebensereignisse, die anfänglich als fremdartig und dem passiven Opfer von außen auferlegt erfahren wurden, müssen als integrierte Aspekte der Geschichte und der Lebenserfahrungen des Individuums "personalisiert" werden (van der Kolk & Ducey 1989). Die massive Abwehr, die anfänglich als Notschutzmaßnahme aufgebaut wurde, muß allmählich die Psyche der Leidenden aus ihrer Umklammerung entlassen. Nur so wird verhindert, daß dissoziierte Aspekte der Erfahrung weiterhin in das Leben der Leidenden eindringen und auf diese Weise die bereits traumatisierten Opfer ständig retraumatisieren. (S. 311)
In unserer Arbeit mit traumatisierten Pflegekindern haben wir daraus die Konsequenz gezogen, ergänzend zu den therapeutischen Leitprinzipien ’Liebe, Ruhe, Stetigkeit’ intensiv auf mäeutische Biographiearbeit zu setzen und knüpfen damit an Sigmund Freud an, der auf die Verdrängungen und Abspaltungen seiner sexuell mißbrauchten Patientinnen mit der sogenannten ’Redekur’ reagierte.
Kurt Eberhard (Juli 01)
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