FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2003

 

Kommentar zu den Ausführungsvorschriften über Hilfe zur Erziehung in Vollzeitpflege des Berliner Senats vom 22. 10. 2002.

von Dipl. Psych. Dr. Arnim Westermann

 

 

Vielleicht sollte man sich angesichts eines solchen Papiers an die klassische Komödie erinnern, in der der Held wie der Dorfrichter Adam im Gelächter untergeht, und solche Vorschriften im Gelächter untergehen lassen.

Nichts haben die hochdotierten Senatsbeamten eines verarmten Landes, die ihre Zeit mit einer solchen Regelungswut verschwenden, verstanden. Sie haben gar nicht die Aufgabe verstanden, um die es geht: daß ein Kind, das bei seinen leiblichen Eltern keine Annahme und Bestätigung erfahren hat, das mit seinen Wünschen und Bedürfnissen nicht respektiert, sondern vernachlässigt, mißhandelt oder sexuell mißbraucht wurde, in einer Pflegefamilie noch einmal die Chance erhält, neue befriedigende Eltern-Kind-Beziehungen zu entwickeln.

Der mangelnde Realitätssinn fängt ja schon damit an, daß nach dem Kinder- und Jugendhilfe-Gesetz (KJHG) die Unterbringung eines Kindes in einer Pflegefamilie nicht eine Hilfe für das Kind, sondern eine Hilfe für die Eltern ist. Das Kind hat keinen Anspruch auf Hilfe, auch nicht das geschlagene, vernachlässigte oder mißhandelte Kind, es hat keinen Anspruch auf Schutz vor mißhandelnden Eltern, keinen Anspruch auf Psychotherapie, keinen Anspruch auf Wiedergutmachung. Es gibt bei uns zwar ein Embryonenschutzgesetz, ein Tierschutzgesetz. Aber ein Kinderschutzgesetz gibt es nicht.

Natürlich kann der Aufenthalt eines Kindes bei einer freundlichen Nachbarin eine Hilfe für die Mutter und vielleicht ein Vergnügen oder ein Trost für das Kind sein, wenn die Mutter Besorgungen machen muß oder einen Termin beim Arzt hat oder mehrere Wochen im Krankenhaus ist. Aber ist die Unterbringung von Kindern in Pflegefamilien eine so harmlose Sache? Die Unterbringung eines Kindes in einer Pflegefamilie als Hilfe für die Mutter oder die Eltern zu definieren, ist nichts anderes, als der Versuch, die tatsächlichen Gründe zu verleugnen: Die Erziehungsunfähigkeit der Eltern und die traumatischen Erfahrungen des Kindes. Und folglich ist auch nirgendwo in den Ausführungsvorschriften von diesen Gründen die Rede. Man verleugnet aber nicht nur diese bei den Eltern liegenden Gründe, sondern auch das Leid der Kinder. Von Ablehnung, Vernachlässigung, Mißhandlung, sexuellem Mißbrauch ist gar nicht die Rede. Dieser Mangel an Realitätssinn und Einfühlung hat schon pathologische Ausmaße.

Diese die Realität verleugnende Sicht setzt sich fort, wenn nicht von Pflegeeltern und Pflegefamilien, sondern von Erziehung und Betreuung eines Kindes in „einem familiären Lebenszusammenhang“ oder von der „Integration des in seiner Entwicklung beeinträchtigten Pflegekindes in einen familiären Rahmen“ oder von „Erziehungspersonen“ und deren „Erziehungsleistungen“ die Rede ist. Denn man will gar nicht sehen, worum es geht: daß ein Kind, gesteuert durch seine vitalen Bedürfnisse, noch einmal neue befriedigende Eltern-Kind-Beziehungen, also Liebesbeziehungen in einer Pflegefamilie entwickelt, eine andere Frau als seine leibliche Mutter zu seiner Mutter, einen fremden Mann zu seinem Vater macht. Familiale Beziehungen werden nicht durch Zeugung und Geburt, sondern durch die kindlichen Bedürfnisse und deren Beantwortung hergestellt (vgl. Zenz 2000).

Die meisten Menschen, die als Pflegeeltern ein Kind aufnehmen, tun dies nicht, um den leiblichen Eltern zu helfen, sondern weil sie Eltern sein wollen und weil sie einem Kind helfen wollen, die in der Ursprungsfamilie gemachten leidvollen Erfahrungen zu bewältigen. Kein Gesetzgeber, keine Behörde kann eine andere Motivation schaffen, auch dann nicht, wenn man von „Pflegestellen“ spricht und „die Erziehungsperson“ verpflichten will, „die entwicklungsfördernde Beziehungskontinuität zwischen Kind und Herkunftsfamilie“ zu sichern. Das wäre nur möglich, wenn auch die Pflegeeltern die Erziehungsunfähigkeit der leiblichen Eltern und die traumatischen Erfahrungen des Kindes verleugnen, wenn sie auch so tun, als wäre nichts geschehen und folglich die Angst- und Ohnmachtsgefühle des Kindes gar nicht mehr wahrnehmen. Aber dann gelingt auch nicht das, was sie sich wünschen, daß das Kind ihr Kind wird, und daß sein Leben nicht mehr von Angst und Angstabwehr geprägt ist.

Die Senatsbeamten, die „Erziehungsleistungen“ der „Erziehungsperson“ in einer Pflegestelle kontrollieren und prüfen wollen, reden sich eine Wirklichkeit herbei, die es nicht gibt. Eine Pflegefamilie ist kein Dienstleistungsunternehmen, weil es um etwas anderes als Dienstleistungen geht, nämlich um die Herstellung von menschlichen Beziehungen. Folglich gibt es auch keine Pflegestellen, die, wie andere Einrichtungen, der Jugendhilfe zur Verfügung stehen. Weder der Gesetzgeber, noch ein Richter oder eine Behörde kann durchsetzen, daß ein Kind in einer Pflegefamilie untergebracht wird, weil kein Mensch verpflichtet ist, ein fremdes Kind aufzunehmen. Ein Jugendamt kann nur Menschen werben, eine solche gesellschaftliche Aufgabe freiwillig zu übernehmen. Das geht aber nur dann, wenn ihnen nicht unzumutbare Bedingungen diktiert werden, sondern auf die Wünsche und Bedürfnisse der Pflegeeltern Rücksicht genommen wird (vgl. Kötter 1994). Das ist in erster Linie der Wunsch von erwachsenen Menschen, Eltern eines Kindes zu werden. Und das ist etwas anderes als die Übernahme einer Dienstleistung, die jederzeit durch andere gekündigt werden kann.

Trotzdem tut man so, als könnte man mit Pflegeeltern so wie mit weisungsabhängigen Angestellten oder Dienstleistern umgehen, als ginge es um die Unterbringung eines Pferdes in einem Stall. Wieviel Futter muß für den Gaul bereitgestellt werden, wieviel Platz braucht er, wie oft soll er von wem bewegt werden, welche Dressurleistungen werden erwartet, wann und wie oft muß der Gaul für den Besitzer bereitstehen. Und wenn eine dieser Leistungen nicht erfüllt wird, kann die Unterbringung des Gauls jederzeit gekündigt werden. Nach den Ausführungsvorschriften des Berliner Senats sind Pflegeeltern in keiner anderen Lage.

Aber Pflegeeltern sind keine Angestellten einer Behörde, die solche Dienstverträge schließen müßten, mit denen sie verpflichtet werden, wie und mit wem sie zusammenarbeiten müssen (wie den leiblichen Eltern), an welchen Konferenzen (Hilfeplankonferenzen), und an welchen Fortbildungsveranstaltungen sie teilzunehmen haben. Solche Vorschriften macht man aber nicht ohne Grund. Mit solchen Ausführungsvorschriften und Dienstverträgen wird versucht, das vom Deutschen Jugendinstitut 1985 propagierte Konzept der „Ergänzungsfamilie“ durchzusetzen. Aber nirgendwo ist gezeigt oder beschrieben worden, daß die Unterbringung eines Kindes in einer Pflegefamilie, wenn es nicht eine kurzfristige Unterbringung ist, entsprechend dem Konzept der Ergänzungsfamilie überhaupt erfolgreich ist. Da, wo Jugendämter nach diesem Konzept verfahren, werden die damit verbundenen Ziele nicht erreicht (vgl. Eckert-Schirmer 1997): Das Ziel der Rückgliederung wird nicht erreicht und kein Kind entwickelt auf diese Weise in der Beziehung zu seinen leiblichen Eltern befriedigende Eltern-Kind-Beziehungen. Das Gegenteil ist der Fall.

Die Verleugnung der tatsächlichen Gründe, die zur Unterbringung in einer Pflegefamilie führen, und die Verleugnung der traumatischen Erfahrungen, die das Kind in der Ursprungsfamilie gemacht hat, führen dazu, daß auch die Chancen, die das Kind in einer Pflegefamilie hätte, nicht genutzt werden können: daß ein Kind die traumatischen Erfahrungen bewältigen und neue, befriedigende Eltern-Kind-Beziehungen entwickeln kann, die es als Basis für eine gesunde Entwicklung braucht (vgl. Nienstedt, Westermann 1989).

Wenn eine Behörde die „Beziehungskontinuität“ zu den leiblichen Eltern sichern will, dann muß sie ein Kind in einem Kinderheim, aber nicht in einer Pflegefamilie unterbringen. Vielleicht nicht jedem Kinderheim, aber gewiß vielen, kann dann auch vorgeschrieben werden, wie die Kontakte zwischen dem Kind und seinen Eltern gestaltet werden sollen. Aber Pflegeeltern kann und darf man dazu nicht verpflichten. Oder: Pflegeeltern sollten sich nicht verpflichten lassen. Sie sollten sich auf solche Verträge nicht einlassen, weil sie sonst das wichtigste verlieren, was sie für eine solche Aufgabe brauchen: Realitätssinn und Einfühlungsvermögen.

Literatur:

Eckert-Schirmer, J.: Einbahnstraße Pflegefamilie? Zur (Un)Bedeutung fachlicher Konzepte in der Pflegekinderarbeit. Arbeitspapier Nr. 25.1. Forschungsschwerpunkt Gesellschaft und Familie. Sozialwissenschaftliche Faktultät, Universität Konstanz , 1997.

Kötter, S.: Besuchskontakte in Pflegefamilien. Das Beziehungsdreieck Pflegeeltern-Pflegekind- Herkunftseltern. S. Roderer Verlag, Regensburg, 1994.

Nienstedt, M., Westermann, A.: Pflegekinder. Psychologische Beiträge zur Sozialisation von Kindern in Ersatzfamilien. Votum, Münster 1989, 5. Aufl., 1998.

Westermann, A.: Entwurf eines Kinderschutzgesetzes. In: Stiftung "Zum Wohl des Pflegekindes" (Hrsg.): 1. Jahrbuch des Pflegekinderwesens. S. 234-244, Schulz-Kirchner, Idstein 1998.

Zenz, G.: Zur Bedeutung der Erkenntnisse von Entwicklungspsychologie und Bindungsforschung für die Arbeit mit Pflegekindern. In: Zentralblatt für Jugendrecht, 87. Jg., Heft 9, S.321-327, 2000.

Anschrift des Verfassers: Dipl. Psych. Dr. Arnim Westermann, Psychologische Praxis der Gesellschaft für soziale Arbeit. Wolbecker Windmühle 25, 48167 Münster.

 

 

 

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