FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2002

 

Fachliche Leitbilder im Pflegekinderbereich –
Neue Entwicklungslinien und Handlungsfelder in der Familienerziehung

von Prof. Dr. Jürgen Blandow

 

Vorbemerkung: Das Pflegekinderwesen ist aus ganz unterschiedlichen Gründen unter erheblichen Druck geraten: die vermittelten Kinder werden immer schwieriger, die Ansprüche und Rechte der Herkunftseltern nehmen zu, erst recht die Anforderungen an die Pflegeeltern, die Sparzwänge aber sind massiv, in vielen Jugendämtern werden die Pflegekinderdienste reduziert oder gar aufgelöst, freie Träger konkurrieren um das Erbe. Wenn aus dieser komplizierten und unübersichtlichen Situation eine sinnvolle Reformbewegung wachsen soll, brauchen wir erfahrene Diagnostiker. Jürgen Blandow, der Nestor der deutschen Pflegekinderforschung, ist dazu wie kein anderer berufen. Während der Tagung „Update für das Pflegekinderwesen“ am 1. und 2. Februar 2002 in Berlin hat er sich dieser Aufgabe in bewährter Sachkunde gestellt.
K.E. (März, 2002)


Diese Tagung könnte zu einem Meilenstein in der Geschichte des deutschen Pflegekinderwesens werden, und zwar dann, wenn von ihr – von seltenen Strohfeuern abgesehen – erstmals in der langen Geschichte des deutschen Pflegekinderwesens der Impuls ausginge, die bisherigen Organisationsmittel für diesen Bereich erzieherischer Hilfen zumindest kritisch unter die Lupe zu nehmen und nach ihrer Optimierung zu suchen. Die Zeit, scheint mir, ist dafür reif geworden. Die Notwendigkeit eines Updates für das Pflegekinderwesen, die Formen seiner Organisation, seiner Organisationsmittel und einer mit ihnen korrespondierenden Fachlichkeit ergibt sich aus diversen Gründen:

  • Mit dem SGB VIII (KJHG) und dessen Implikationen sind die Anforderungen an Pflegepersonen deutlich gewachsen; von dem größeren Teil der Pflegepersonen wird – auch da, wo dies nicht offiziell über Status und Finanzierung anerkannt wird – zumindest eine semiprofessionelle Haltung ihrer Aufgabe gegenüber erwartet. Dies gilt unabhängig davon, ob sich die Erwartungen darauf richten, dass sie ihre Aufgabe der Betreuung und Erziehung aus systemischer Perspektive erfüllen oder aus bindungstheoretischer – psychoanalytischer Sicht. Den Pflegepersonen wird – anders als in früheren Jahrzehnten – nicht mehr einfach abverlangt, ein Kind ‚wie ein eigenes‘ liebevoll zu umsorgen. Verlangt von ihnen wird die bewußte Gestaltung einer erzieherischen Hilfe in enger Bindung an gesetzliche Normen und in enger Kooperation mit den Pflegekinderdiensten.
  • Die Kinder, die in Pflegefamilien untergebracht werden, stellen ebenfalls erhöhte Anforderungen an die Pflegeeltern. Pflegeeltern können kaum noch einmal mit einem nicht erheblich beeinträchtigten Kind rechnen. Dies gilt selbst dann, wenn es – ohnehin seltener werdend – um die Vermittlung von Säuglingen und Kleinkindern in eine Familie geht; sie kommen häufiger als früher mit Geburtsschäden, mit chronischen Erkrankungen, Vergiftungen, leichten und schweren Behinderungen. Und je älter die Kinder bei der Vermittlung sind, desto stärker waren sie bereits gravierenden Belastungen in der Herkunftsfamilie ausgesetzt. Die früher üblichen, ebenfalls nicht leckeren institutionellen Karrieren von Kindern vor der Inpflegegabe, wurden abgelöst durch privat arrangierte Karrieren mit wechselnden Bezugspersonen und wechselnden Unterstützungsangeboten. Eine Herausnahme von Kindern aus ihren Geburtsfamilien erfolgt längst nicht mehr aus dem Grund, dass das Kindeswohl gefährdet wäre, sondern faktisch nur noch, wenn elementare Schutzbedürfnisse des Kindes nicht mehr gewährleistet sind. Zunehmend mehr Pflegeeltern haben sich folglich mit den Folgen von Mißhandlung und sexuellem Missbrauch, vor allem von chronifizierter Vernachlässigung durch Personen, denen es an jeglichen empathischen Kompetenzen mangelt, auseinander zu setzen. Die Betreuung von Pflegekindern läßt sich deshalb über lange Jahre nach der Inpflegegabe nicht mehr über normale pädagogische Kompetenzen leisten.
  • Dies gilt auch für den von den Pflegepersonen zumeist erwarteten Umgang mit den Geburtseltern. Sofern es sich nicht um sehr junge, sich manchmal noch wieder zurecht ruckelnde, Mütter und Väter handelt, handelt es sich bei ihnen zu einem hohen Umfang um Frauen und Männer mit Suchtkarrieren – Alkohol und Drogen – , um psychisch kranke Frauen und Männer, um Personen am Rande der geistigen Behinderung und um über Generationen hinweg verelendete Familien. Unabhängig davon, wie Besuchskontakte gestaltet werden und ob von den Pflegepersonen eine engere Unterstützung erwartet wird, die Probleme der Geburtseltern schwappen über die Ambivalenzen der Eltern ihrem Kind und der Unterbringung gegenüber, über ihre oft hilflosen Versuche, sich doch noch einmal im Leben und in ihrer Elternrolle zu bewähren, über den Zwiespalt zwischen den Elternteilen, über nicht eingelöste und nicht einlösbare Versprechungen und häufig über die Unfähigkeit, sich dem Kind in einer der Situation angemessenen Weise bei Besuchen zu nähern, in die Pflegefamilie hinein.
  • Die gegenwärtige Pflegeelternschaft entspricht (obwohl natürlich keine einheitliche Gruppe) in ihren sozialstatistischen Merkmalen, ebenso wie in ihrem Selbstverständnis und ihrer grundlegenden bewußten Motivationslage in wachsendem Umfang den veränderten Anforderungen. Pflegepersonen in der Vollzeitpflege sind mit deutlich wachsenden Anteilen pädagogisch reflektierende, die pädagogische Aufgabe bewußt suchende Angehörige mittlerer Schichten, nicht selten Angehörige sozialer, pädagogischer und pflegerischer Berufe oder Angehörige des Bildungsbürgertums. Anders als frühere Pflegeeltern-Populationen treten sie entsprechend selbstbewußt auf, verlangen nach Akzeptanz als gleichberechtigte PartnerInnen und kundige Experten in pädagogischen Angelegenheiten allgemein, in Angelegenheiten des von ihnen betreuten Pflegekindes im besonderen. Dennoch müssen sie die Spannungen und Widersprüche aushalten (lernen), die sich aus dem Ineinander der Organisation eines familiären Alltags und den Anforderungen an sie durch ein besonderes Kind ergeben, aus dem Bedürfnis nach ungestörter Privatheit und Zeit für private Intimität und der Getriebenheit, den Anforderungen der Erziehung des Pflegekindes gerecht zu werden, und aus der – zunehmend häufiger zu beobachtenden – Zerrissenheit zwischen der Sorge um das Kindeswohl und dem aufgeklärten Verständnis für das Schicksal der Kindeseltern. Die professionelle Attitüde wird so zu einem schwankenden, anfechtbaren und instabilen Konstrukt, das ohne verläßliche Unterstützung stets in der Gefahr steht, zu kippen.
  • Auch zu den Beobachtungen über die gegenwärtige Pflegeeltern-Population gehört, dass auch sie natürlich ‚Kinder‘ ihrer Zeit sind. Zwar sind Pflegepersonen wohl immer noch deutlich kindzentrierter und in gewisser Weise wertkonservativer als der Durchschnitt der Bevölkerung, - eine bedeutende Voraussetzung für das Wagnis, die Erziehung eines fremden Kindes auf sich zu nehmen - aber was in der Gesellschaft im Zuge von Individualisierungs- und Enttraditionalisierungsprozessen bröckelt, bröckelt auch bei ihnen. Nicht eheliche Partnerschaften, manchmal auch gleichgeschlechtliche, Alleinerziehung, Scheidung und Trennung, Orientierungs- und Sinnkrisen und die Suche nach Lösungen in Esoterik und anderen originellen Verhaltensstilen sind auch unter Pflegepersonen nicht mehr die große Ausnahme. Sie verlangen nach Akzeptanz ihrer besonderen Situation, ihrer besonderen Persönlichkeit und ihres besonderen Lebensstils. Für die Fachkräfte der Pflegekinderdienste ist dies die Aufforderung, sich selbstreflexiv und verstehend auf die jeweiligen Individualitäten einzulassen und Abschied zu nehmen von schematischen Erhebungs- und Beurteilungsraster, von Standard-Beratungsprogrammen und demütigendenden Abfertigungsprozeduren.
  • Die Zahl von BewerberInnen um Kinder in der Dauer-Vollzeitpflege ist im gleichen Zuge, zusätzlich unterstützt durch allgemeine gesellschaftlichen Tendenzen, zurück gegangen. Vor 20 Jahren gab es (in den Alten Bundesländern) noch um die 80.000 Pflegefamilien, jetzt sind es deutlich unter 40.000. Und selbst diese in der Jugendhilfestatistik, nur über die Zahl der untergebrachten Kinder abschätzbare Zahl , spiegelt die Dramatik nur unvollständig, weil die Statistik keine Unterscheidung nach Dauerpflege und Kurz- und Bereitschaftspflege zuläßt. (Weit mehr als früher sind Pflegepersonen im Bereich der Kurzzeit- und Bereitschaftspflege tätig und betreuen entsprechend viele Kinder pro Jahr.) Ein gewichtiger Grund für den Rückgang von BewrerberInnen ist, dass eine ernsthafte Bewerbung nur noch selten aus ‚naiven‘ Gründen erfolgt. Man setzt sich lange mit dem Partner und den eigenen Kindern auseinander, es wird abgewogen zwischen beruflichen und persönlich-familiären Interessen, die Folgen für das Familienleben und das Wohlergehen jeder einzelnen Person im Haushalt werden bedacht, man hat davon gelesen oder spätestens beim ersten Bewerbungsgespräch oder dem Informationsabend davon gehört, dass ‚normale‘ Kinder nicht zur Vermittlung anstehen und dass es fast immer Kinder ‚mit Anhang‘ sind und mit dem dauerhaften Verbleib des Kindes nicht gerechnet werden kann. Auf diesem Weg des Abwägens und der Informationsverarbeitung bleiben viele BewerberInnen auf der Strecke. Gleichzeitig bleiben die früher das Pflegekinderwesen tragenden Schichten und Personengruppen , abgeschreckt von all dem, was ihnen an Kompetenz und Selbstreflexivität und Ungewissheit abverlangt wird, aus. Auch früher noch relevante Motive für die Bewerbung um ein Pflegekind, die Langeweile der in die familiäre Häuslichkeit eingesperrten „Nur-Mutter“ oder der empty-Nest-Frau und der Wunsch die Isolation eines Einzelkindes zu durchbrechen, haben mit der Akzeptanz mütterlicher Erwerbstätigkeit und mit der Durchsetzung von Tagesbetreuungseinrichtungen für Kinder, erheblich an Bedeutung verloren. Schließlich: Es gibt mehr gesellschaftlich akzeptierte Alternativen für kinderlose Paare und alleinlebende Personen und höhere Ansprüche nach selbstbestimmter Freizeit. Der Kreis von Menschen, die dem Gedanken Pflegeeltern zu werden näher treten, hat sich also verengt, was weniger mit mangelnder Solidarität in der Gesellschaft zu tun hat, mehr damit, dass Aufklärung und Folgenabschätzung verbreiterter als früher sind und zusätzlich von den Sozialen Diensten vorausgesetzt werden.

Dies also sind die sich verbreiternden, wenn auch noch nicht überall vorfindbaren, Gegebenheiten (in jedem gesellschaftlichen Bereich gibt es Ungleichzeitigkeiten), die ein update für das Pflegekinderwesen nicht nur wünschenswert, sondern – soweit es dann jugendhilfepolitisch und fachlich noch gewollt wird – dringend erforderlich machen; bei Drohung seines Untergangs oder seiner Transformation zu einem Anhängsel der Heimerziehung.

Ob es gegenwärtig ein ernsthaftes – jugendhilfepolitisches, jugendamtliches, fachliches Interesse an den erforderlichen Reformen gibt, lässt sich noch nicht wirklich überblicken. Es gibt alte und neue Vorbehalte, Ambivalenzen und Reformbarrieren. Die älteste Barriere ist natürlich, dass zwar mit großer Regelmäßigkeit die Forderung an die Jugendämter ergeht, mehr Kinder in Pflegefamilien unterzubringen, um den Jugendhilfeetat und besonders den Heimetat zu entlasten, dass aber ebenso regelmäßig festgestellt wird, dass hierfür keine zusätzlichen Mittel bereit gestellt werden können. Dies kann pragmatische Gründe haben, so, wenn einfach auf leere Kassen verwiesen wird oder – wie dies das Argument beim letzten Hamburger Aufschrei nach mehr Pflegekindern (100 +) der Fall gewesen ist, dass mit Bedauern festgestellt wird, dass die eigentlich zu bekämpfenden ständig steigenden Heimkosten dummerweise den Spielraum für die Investition in eine Alternative auf Null reduziert hat. Wichtiger als dieses ist möglicherweise aber eben die Grundüberlegung, dass das Pflegekinderwesen möglichst wenig kosten darf. Es nicht als Sparstrumpf, sondern als eine wertvolle Alternative, als eine eigenständige Form erzieherischer Hilfen mit eigenen Entwicklungsbedarfen zu betrachten, fällt der Jugendhilfepolitik offenbar schwer; ich denke, weil es im Alltagsbewußtsein mit „privat“, „natürlich“, persönlich motiviert, den eigenen Bedürfnissen der Pflegepersonen dienend, Ausdruck von sozialem oder bürgerschaftlichem Engagement, in Verbindung gebracht wird, und dies Angelegenheiten sind, die sich sperrig gegenüber den Politikern bekannten Steuerungsmitteln Macht, Recht und Geld erweisen. Es ist dies ähnlich wie etwa bei der allgemeinen Förderung von ehrenamtlichem, bürgerschaftlichem Engagement oder bei gemeinwesen-, sozialraumorientierten Projekten. Es gibt eine hohe Wertschätzung, auch mal eine Enquetekommission, symbolische und manchmal kleine finanzielle Anreize, insgesamt aber die untergründige Auffassung, dass Freiwilliges ‚selbst verschuldet‘ ist und keiner besonderen, schon gar nicht einer besonderen finanziellen Förderung bedarf; auch das untergründige Misstrauen, dass man hier nur am Rande wirkliche Politik betreiben kann und sich das Hauptinteresse darum weiterhin auf die gut steuerbaren Bereiche konzentrieren sollte. Auch zur nur halbherzigen Förderung des Pflegekinderwesens trägt bei, dass Pflegefamilien als vereinzelte so wenig sichtbar sind. Ein Heim ist etwas Handfestes, in ihm gibt es Arbeitsplätze, es gibt Leitungen an der Spitze, die sich leicht ansprechen lassen und selbst verlangen, dass ihre Angelegenheiten zur Kenntnis genommen werden, sie werden häufig von lokalen Honoratioren repräsentiert und sind in Spitzenverbänden organisiert, Verhandlungspartner im alltäglichen Verwaltungsgeschäft, sie können Skandale produzieren, die in die Öffentlichkeit geraten und Politiker in Bedrängnis bringen können. Heime lassen sich auch besichtigen, für sie kann gesammelt oder eine Lotterie veranstaltet werden, man kann sie vor der Wahl besuchen und sich mit Kindern fotografieren lassen. In früheren Zeiten konnten Anstalten gestiftet und mit dem Namen des Stifters geschmückt werden (was heute noch manchmal im Bereich der SOS-Kinderdörfer vorkommt). Pflegefamilien und Pflegekinderdiensten mangelt es – nicht ganz, aber doch in größerem Umfang – an solchen Eigenschaften. Zwar kann ich sie alle paar Jahre, mal im Jahr zum Pflegeeltern-Pflegekindertag ins Rathaus bitten, aber solchen rein symbolischen Akten kommt eben nicht die gleiche Bedeutung zu wie solchen, die eingebettet sind in die alltäglichen, überschaubaren und streng formalisierten politischen- und Verwaltungsstrukturen und die bekannten Verhandlungsrunden.

Ähnliches, ohnehin eingebettet in die jugendhilfepolitischen und fiskalischen Rahmenbedingungen der jeweiligen Kommune, gilt für die Stellung des Pflegekinderwesens in den Jugendamtsverwaltungen. Auch die Jugendamtsleiter neigen – mit Blick auf den Haushalt fast immer, manchmal auch aus Überzeugung – dazu, mehr Vermittlungen anzumahnen, aber auch hier folgen den Appellen zumeist nur halbherzige Maßnahmen. Pflegekinderdienste wurden in den Jugendämtern etabliert zu einer Zeit, als es – weil Pflegekinder ein gesellschaftsübliches Mittel zum Ausgleich bestimmter persönlicher, sozialer, familiärer oder ökonomischer Mängellagen waren - keinen Mangel an BewerberInnen gab und diese als BittstellerInnen gelten konnten. Die BewerberInnen mussten, des Kindesschutzes, der Vorbeugung von Ausbeutung wegen, überprüft und kontrolliert werden. Dies entsprach auch anderen jugendamtlichen Aufgaben in der Kontrolle der Armutsbevölkerung und ließ sich mit den gewohnten bürokratischen Mitteln und in den gewohnten Organisationsstrukturen bewältigen. Warum also eine andere Organisationsform für das Pflegekinderwesens als für den allgemeinen Sozialdienst oder – früher – die Familienfürsorge? Inzwischen ist es natürlich weitgehend – was freilich nicht heißt, überall - akzeptiert, dass es sich beim Pflegekinderwesen eigentlich um etwas anderes handelt, einen speziellen Fachdienst, aber das alte Verständnis wirkt nach, in Bemessungsgrenzen, in der Ausstattung, bei Entscheidungen über besondere Mittel, bei der Deutung von Pflegeeltern als Klientel; auch weil Personalräte und KollegInnen auf Gleichbehandlung mit anderen Diensten pochen. Auf jeden Fall ist es so, dass es Jugendämtern keinerlei Probleme macht, (durchschnittlich) eine Leitungskraft auf zwölf ausgebildete PädagogInnen in der Heimerziehung zu akzeptieren und zu finanzieren, wie selbstverständlich davon auszugehen, dass diese Urlaubs- und Fortbildungsansprüche haben, Teambesprechungen notwendig sind, die PädagogInnen Supervision benötigen, das Heim Mittel für konzeptionelle Arbeiten und für die Öffentlichkeitsarbeit benötigt, Gehälter rechtzeitig überwiesen werden müssen, die PädagogInnen ein Handgeld benötigen, Zusätzliches, wie Bekleidung und Ausstattung pauschalisiert zu zahlen ist, und Investitionen und Abschreibungen bei der Kalkulation berücksichtigt werden dürfen. Warum also wird das meiste hiervon – meistens jedenfalls – Pflegekinderdiensten und Pflegepersonen vorenthalten oder ihnen langwierige und oft diskriminierende Antragsverfahren zugemutet? Warum glaubt man, dass für die Koordinierung von Laienarbeit und für Leitungsaufgaben ein/e SozialarbeiterIn auf – wo es mal ganz großzügig gehandhabt wird – 35 Pflegekinder, was etwa 30 Pflegefamilien entspricht, ausreichen oder sogar – wie ich es neulich von einem Kollegen während einer Fortbildungsveranstaltung erfahren habe, auch schon mal 100? Um nicht der Polemik geziehen zu werden: Ich weiß natürlich, dass es im Pflegekinderwesen auch wenig Arbeit verursachende „Altfälle“ gibt (zum Glück, da hierin ja ein Qualitätsmerkmal zu sehen ist), und eine geringere Bemessungszahl als in der Heimerziehung damit zunächst berechtigt, ich mache allerdings auch geltend, dass jede neue Pflegeperson neu geworben, neu geschult, sehr individuell beraten werden muss, jede Rückführung sehr detailliert vorbereitet werden muss, viele Besuchskontakte begleitet werden müssen und und und. Alles in allem: Eine Ungleichbehandlung von Pflegekinderdiensten und Pflegepersonen mit Heimen und Heimerziehern, mit Sozialpädagogischen FamilienhelferInnen oder Erziehungsbeiständen, ist fachlich kaum zu legitimieren, nichts anderes eben als Tradition und Nicht-Passung von Fachdiensten in die allgemeinen Jugendamtsstrukturen und eben auch die Auffassung, dass die doch eigentlich hoch geschätzte erzieherische Hilfe außerhalb des Elternhauses etwas zu sein hat, was zur Kompensation der nicht beeinflussbaren hohen Kosten in anderen Erziehungshilfen zu dienen hat. Welche Blüten dies treiben kann, habe ich vor einigen Jahren in einem Hamburger „Reformpapier“ zum Pflegekinderwesen gelesen. In einem Absatz war, in einem Kontext, in dem es darum ging, einen Freien Träger mit Aufgaben des Pflegekinderdienstes zu betrauen, zu lesen: „es genügen 3,5 Neuvermittlungen in einem Jahr, um die Kosten einer Pflegestellenberaterin zu kompensieren“, während es im nächsten Absatz dann heißt, die Übertragung an den Freien Träger kann nur um ein weiteres Jahr verlängert werden, wenn die einzustellende Beraterin mindestens 35 Pflegekinder in neu geworbenen Pflegefamilien unterbringt. 900 Prozent Profit werden in sonstigen Geschäftsbeziehungen selten erreicht und verlangt.

Ambivalenzen und Vorbehalte gibt es auch in fachlicher Hinsicht, weniger bei den Pflegekinderdiensten, umso mehr bei vielen KollegInnen aus den Allgemeinen Sozialdiensten. Als pflegefamilien-tauglich gelten weiterhin – entgegen den gesetzlichen Intentionen - häufig nur kleine Kinder ohne Anhang, worauf unter anderem die hohe Quote von Sorgerechtsentzügen verweist. Pflegefamilien, Laien im privaten Kontext, wird von den Profis in den Ämtern nicht viel zugetraut. Das mag auch auf Erfahrungen beruhen, aber die Erfahrung wurde oft eben auf dem Hintergrund eines schlecht ausgestatteten Pflegekinderwesens gewonnen, was einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung nahe kommt. Von mindestens gleich großer Bedeutung für Vorbehalte gegen das Pflegekinderwesen ist, dass es Argwohn gegen die Vermittlungsprozeduren und vor allem die Vermittlungsdauer gibt, die nun tatsächlich bei sorgfältiger Arbeit eines Pflegekinderdienstes kaum unter 2 Monaten liegen kann und – wenn es z.B. rechtliche Komplikationen gibt – auch manchmal noch weit mehr Zeit beansprucht. Schneller vom Tisch und mit geringerem Nachfolgeaufwand bekommt man die Akte, wenn man den kurzen Draht zu dem seit langem bekannten Heim nutzt.

Ein Update für das Pflegekinderwesen muss mit diesen Vorbehalten und Ambivalenzen ernsthaft rechnen. Es gibt aber – erst dies macht dann eigentlich die Ambivalenz aus – aber Gegenbewegungen, die in neue Chancen münden könnten. Auf jugendhilfepolitischer und Amtsebene sind es – was immer man insgesamt davon halten mag – die Neuen Steuerungsmodelle, incl. die neuen Finanzierungsmodelle – die Bewegung in die Sache bringen. Die Vermittlung von Pflegekindern als „Produkt“ zu beschreiben, nötigt dazu, sich im Detail mit den Aufgaben eines modernen Pflegekinderdienstes auseinander zu setzen, diese zu beschreiben und den erforderlichen Zeitaufwand und die erforderlichen Mittel zu berechnen; was für Fallbemessungszahlen eigentlich nur positive Wirkungen haben kann. Budgets mit wechselseitig deckungsfähigen Einzelpositionen und der Möglichkeit, Rücklagen zu bilden und diese in innovative Projekte zu stecken, bieten zumindest die Chance, sich Gedanken um die Optimierung von Pflegekinderdiensten zu machen. Die neue Generation von betriebswirtschaftlich denkenden Managern, zumindest in großstädtischen Jugendämtern, könnte ein Interesse daran entwickeln, Preise realistisch zu vergleichen und auch die Differenz von 20% oder 30% zwischen Leistungen vergleichbarer Art als wirtschaftlich vernünftig anzuerkennen. Die Qualitätsdebatte wird sich, wenn sie einmal aus ihrem formalen Stadium herausgetreten ist und sich ernsthaft um fachliche Standards zwischen Input und Output bemüht, notwendiger Weise mit den erfolgreiches Handeln und gute Erfolge ermöglichenden direkt wirksamen und den hierauf einwirkenden intervenierenden Variablen beschäftigen müssen und über adäquate Mittel zur Optimierung von Bedingungen und Voraussetzungen nachdenken müssen. Interkommunale Vergleiche in Vergleichsringen werden zu Tage bringen, dass Spielräume für das Entscheidungshandeln in Jugendämtern auch unter vergleichbaren Bedingungen sehr unterschiedlich genutzt werden, Nachfragen provozieren und Erfahrungstransfer ermöglichen. Schließlich könnte zur Aufwertung des Pflegekinderwesens beitragen – beide Tendenzen sind zu beobachten – dass sich Jugendämter zunehmend in Form von Fachdiensten organisieren (familienaufsuchende Dienste; case manager, Fachdienst wie Trennungs- und Scheidungsberatung, Ausbau des Vormundschaftswesens zu einem Fachdienst) und damit auch für das Pflegekinderwesen bessere Rahmenbedingungen schaffen, oder aber die spezielleren Fachaufgaben auszugliedern, wobei sich diese Tendenz mittelfristig und angesichts des Drucks auf die Jugendämter Personal einzusparen wohl eher durchsetzen wird als die andere.

Natürlich. Noch sind dies zarte Pflänzchen und noch werden diese oft von ungeübten Gärtnern zur falschen Zeit und in die falsche Erde umgetopft und mit dem falschen Dünger begossen, aber auch der schlechte Gärtner ist nicht davor gefeit, dazu zu lernen und ausgebildete GärtnerInnen werden nachrücken. Dies gilt auch für den allmählichen Wandel fachlicher Positionen. Auch wenn es noch einige Zeit dauern mag – zumal noch gegen Gegentendenzen durchzusetzen – die in Aus-, Fort- und Weiterbildungs- sowie und Wissenschaftszirkeln kursierenden neuen Paradigmen, - Dienstleistungs- und ‚Kunden’orientierung, Empowertmentstrategien, reflexives Professionalitätsverständnis und anderes – werden früher oder später – wenn auch wie immer vom Weg von der Theorie zur Praxis wohl mit gewissen Verwässerungen - in die breitere Praxis eindringen. Für Pflegekinderdienste, die noch mehr als andere Dienste darauf angewiesen sind, in den Pflegepersonen, auch den Pflegekindern und häufig auch in den Geburtseltern Koproduzenten am Kindeswohl zu sehen (hierauf komme ich noch zurück), ferner darauf, sich dem komplexen Gefüge Pflegefamilie in verstehender, reflexiver Haltung zu nähern und mit den Stärken der Beteiligten zu arbeiten, kann eine Verbreiterung neuer fachlicher Optionen in den Ämtern nur zum Nutzen sein.

Auch wenn zu prognostizieren ist, dass sich manches Jugendamt noch lange (oder für ewig) hilflos oder borniert gegen neue Diskurse abschotten wird, zur Entwicklungstendenz gehört doch, dass sich mehr Jugendämter – ihre inzwischen oft hoch professionellen Leitungen, Stabs-Referenten und Abteilungsleiter, auch einzelne kreative Teams innerhalb der ausführenden Mitarbeiterschaft – selbstkritisch und reflexiv auch ihrer eigenen – nur bedingt intern zu regulierenden – Bedingungen stellen und in Überlegungen über einen Befreiungsschlag durch Ausgliederung von Pflegekinderdiensten an Freie Träger treten werden, oder doch zur Ausgliederung von spezifischen Funktionen, wie Schulung, amtsunabhängige Begleitung von Pflegepersonen und Öffentlichkeitsarbeit, oder besonderer Pflegeformen wie der Bereitschaftspflege und den Erziehungsstellen sowohl nach § 33 als auch nach § 34. Noch haben zwar – mal abgesehen von den immerhin rund 50 konfessionellen und nicht immer wirklich als eigenständiger Fachdienst organisierten Adoptiv- und Pflegestellen-Vermittlungen – nur wenige Kommunen den Schritt tatsächlich vollzogen, aber allein dass es einige sind – die spektakulärsten hier in Berlin, in Hamburg und – hier allerdings unter eher kuriosen, eher an Personal- als an Fachpolitik interessierten, Bedingungen in Bremen – kann mittelfristig nicht ohne Konsequenzen für das Ganze bleiben. Wie schon in den vergangenen Jahrzehnten die Gründung und dann die Arbeit von Pflegeelternvereinigungen auf kommunaler und überregionaler Ebene eine neue, wenn auch gelegentlich abgewehrte, Dynamik in das Pflegekinderwesen gebracht haben, werden dies erfolgreich arbeitende Ausgründungen ebenfalls tun. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Hamburger Freie Träger PFIFF, aber natürlich auch der schon viel ältere Berliner AK Pflegekinder. Beide haben an Prestige nicht nur gewonnen, weil sie sich als lernende, innovative und auf hohe fachliche Standards setzende Pflegekinderdienste einen Namen gemacht haben, sondern auch – und hierauf kommt es mir in diesem Zusammenhang mehr an – weil ihre Wirkung deutlich über die eigene Arbeit hinaus geht und zu Stachel und Ansporn – durch ihre Publikationen, Tagungen und Kongresse, ihre Schulungen, Fort- und Weiterbildungskonzepte für Pflegeeltern und Pflegekinderdienste, ihre Öffentlichkeitsarbeit geworden sind. Auch zu dieser Dynamik beitragen werden Initiativen, die sich zunächst unabhängig von Jugendämtern gebildet haben, die diversen Pflegeelternvereinigungen, die sich auch in die unmittelbare Schulungs- und Beratungsarbeit einklinken und neuerlich auch vermehrt Pflegekinderfachdienste in Vereins- oder privatrechtlicher Form, die – schon um sich durchzusetzen und Gehör bei öffentlichen Trägern zu finden, gar nicht darum herum kommen, sich nicht allein auf ihre Routine-Aufgaben zu beschränken und eine gute Alltagsarbeit zu leisten, sondern von dieser auch sprechen und schreiben müssen. Auch zu den dynamisierenden Faktoren gehören, wenn auch in Deutschland noch vereinzelt, Initiativen von Einzelpersonen, Forschungseinrichtungen und Fach- und Spitzenverbänden die als freiberufliche Pflegestellenberater, Initiatoren von speziellen forschungs- und praxisorientierten Beratungsstellen, als Anbieter spezieller assessments-, diagnostischer und Beratungsmethoden, auch über das Angebot von Online-Diensten, organisatorische und fachliche Buntheit in das Pflegekinderwesen bringen.

Dies alles wird nicht und muss nach meiner Überzeugung auch nicht, zur Verdrängung öffentlicher Fachdienste beitragen. Es genügt, wenn – wie in anderen außereuropäischen und zunehmend auch europäischen Ländern längst Praxis – sich auch in Deutschland neue Formen von public-private-partnership und – meinetwegen – public-private Konkurrenz entwickeln, und auch über erweiterte Wahlrechte für Pflegepersonen, eine dem Ganzen zugute kommende neue Dynamik entfalten.

Ich mache hier einen erneuten Sprung. Nach der Situationsschilderung am Anfang und dann einer Reflexion der gegenwärtigen jugendhilfepolitischen und fachlichen Ambivalenzen und Tendenzen, soll es jetzt um die fachliche Seite gehen, um die qualitativen Anforderungen an moderne, sich souverän auf Fakten und Trends beziehende, Pflegekinderdienste, - unabhängig von ihrer Organisationsform, wenn auch natürlich abhängig von den personellen und organisationsspezifischen Ressourcen.

Wie oben schon einmal erwähnt und in dem diesen Kongress vorbereitenden Heft 2/ 2001 von „Pflegekinder“ bereits thesenartig vorgetragen, erscheint es mir – jenseits aller Detaildiskussionen um einzelne methodische Ansätze und Schritte – hilfreich und notwendig, sich der grundlegenden Aufgabenstellung, dem Auftrag und der Zielsetzung aller Plegekinderarbeit zuzuwenden, dies aber nicht abstrakt, sondern unter konkreter Berücksichtigung des besonderen Charakters der Vollzeitpflege als kompliziertes rechtliches und soziales Konstrukt. Grundlegende Aufgabe für jeden Pflegekinderdienst ist zweifellos, für sonst – vorübergehend oder dauerhaft – nicht angemessen versorgte Kinder ein Arrangement zu finden, dass ihren körperlichen, seelischen, geistigen und sozialen, manche würden zusätzlich sagen, auch spirituellen Bedürfnissen gerecht wird; etwas abgegriffen nennt man dies wohl auch „Kindeswohl“. Pflegekinderdienste sorgen, wie mit „Arrangement schaffen“ angedeutet, aber bekanntlich nicht unmittelbar für das Kindeswohl, sondern nur mittelbar dadurch, dass sie für das Kind (und vielleicht mit dem Kind und seinen Angehörigen) Personen suchen, die nach Menschen Ermessen das dem Kind Zustehende geben können. Diese erbringen die eigentliche „personenbezogene soziale Dienstleistung“, was sie allerdings zum Glück so nicht nennen. Dennoch ist es sinnvoll die Aufgabe der Pflegepersonen aus struktureller Sicht so zu nennen, da Pflegeeltern ja etwas anderes, zumindest immer mehr, machen, als ein Kind einfach wie „ein eigenes“ zu ver- und umsorgen, zu lieben und zu lehren, zum einen weil das Kind eben nicht das „Eigene“ ist und darum – zwischen Kind und Pflegefamilie - zunächst Aneignungsprozesse stattfinden müssen -, zum anderen, weil das Kind einmal ein „eigenes“ war (und sei es auch nur kurze Zeit im mütterlichen Leib) – und es möglicherweise wieder werden soll – und zum dritten, weil Pflegepersonen ihre Aufgabe im Rahmen eines öffentlichen, rechtlich und institutionell gerahmtes Auftrags wahrzunehmen haben, gewissermaßen mit ihm beamtet wurden.(so wie noch bis in die 30 Jahre des letzten Jahrhundert Ehrenamtliche per Urkunde und allem möglichen Schnickschnack beamtet, mit einem Amt versehen wurden). In manchen Fällen wird es noch komplizierter, dann nämlich, wenn die Pflegepersonen nicht nur beamtet werden, sondern auch noch mit ihr – von Angehörigen des Kindes - betraut. Ein Kind unter solchen Voraussetzungen zu lieben etc. ist zweifellos etwa anderes, als ein Kind nur zu lieben. Bekanntlich geht’s „in die Büx“, wenn Pflegepersonen die Differenz nicht wahr haben wollen, es geht aber auch „in die Büx“ wenn sie nicht alles tun, um entweder die Differenz bis nahe an den Nullpunkt heran zu überwinden oder aber lernen, die Differenz gemeinsam mit dem Kind und anderen beteiligten Personen in etwas Anderes, aber für alle Tragbares zu transformieren. Davon würde man z.B. sprechen, wenn ein „Tante/ Onkel - Verhältnis“ oder ein „gute Freunde-sein-Verhältnis“ oder auch ein freundliches professionelles Verhältnis oder ein freundliches Untermieterverhältnis entsteht. Egal wie, auch die Pflegepersonen können nicht einfach von sich heraus etwas entwickeln, sondern sind darauf angewiesen, dass das Kind mitmacht und in bestimmten Konstellationen auch die Angehörigen des Kindes. Dienstleistungstheoretisch nennt man das „Koproduzentenschaft“. Das „Produkt“ gelungenes Pflegeeltern-Pflegekindverhältnis entsteht nur in einer gemeinsamen Anstrengung, oder es entsteht eben nicht, wenn sich einer der Beteiligten dagegen stemmt. Das selbe gilt im übrigen auch für das Verhältnis und die Verhältnis-Definition zwischen dem Pflegekind und seinen Angehörigen. Kommt es hier nicht zu einer koproduzierenden Einigung schwammt die Nicht-Einigung notgedrungen auch als ein bedeutsames Element in die Einigungsversuche zwischen Pflegeeltern und Kind hinein und dies gilt natürlich auch, wenn es zu keiner guten Koproduzentenschaft zwischen den Angehörigen und den Pflegepersonen kommt - das sind dann die berühmten Loyalitätskonflikte von Pflegekindern.

Man sieht, es gibt mehrfach geschichtete, sich überlappende und sich wechselseitig beeinflussende Notwendigkeiten zu Einigungsprozessen auf der Basis Koproduktion. Wenn sie auch nur an einer Stelle nicht klappt, hat dies erhebliche Konsequenzen auch für alle anderen Beziehungen.

Dies alles, was Kind, Pflegepersonen und Angehörige an gemeinsamer und wechselseitiger Anstrengung erbringen müssen, könnte grundsätzlich - wie dies im parallelen Fall einer Nachscheidungssituation ja auch nicht ausgeschlossen ist und auch in Pflegeverhältnissen außerhalb der rechtlichen Normierungen der §§ 27/33 vorkommt - ganz ohne Zutun eines Pflegekinderdienstes erfolgen. Bei einer Hilfe zur Erziehung geht dies schon aus rechtlichem Grund nicht, vor allem aber ist der Pflegekinderdienst und oft auch der ASD bereits vorgängig ein wichtiger Weichensteller für das, was dann innerhalb der Pflegefamilie und zwischen ihr und den Angehörigen geschehen kann. Der PKD hat die Pflegepersonen ausgesucht - dies hoffentlich unter dem Gesichtspunkt, dass diese ein gutes Verständnis über die Notwendigkeit von Einigungsprozessen mitbringen -, er hat das Matching arrangiert - dies hoffentlich unter dem Verständnis, dass die Verhältnisse zwischen dem Kind und seinen Angehörigen einigermaßen geklärt sind oder jedenfalls als klärbar erscheinen und dass sich das Kind und die Pflegepersonen ‚riechen‘ können. Er hat den Pflegepersonen Vorinformationen über das Kind und seine Angehörigen gegeben - dies hoffentlich unter dem Verständnis, dass es für die nachfolgend zu initiierenden Einigungsprozesse hilfreich ist, wenn die Pflegepersonen über vielfältige Informationen über das Kind, seine Beziehungen, Bindungen, Sorgen und Probleme, seine inneren Bilder, seine Vorlieben und Abneigungen wissen. Was für den PKD gilt, gilt natürlich auch für den familienbetreuenden ASD. Er kann alles nachfolgende erleichtern oder erschweren, erleichtern z.B. dadurch, dass er sich schon vorgängig um Einigungsprozesse zwischen Angehörigen und Kind bemüht, die Trauerarbeit der Trennung vorbereitet, für die nachfolgenden Prozeduren Informationen zum Kind und zur Interaktionssituation zwischen ihm und seinen Angehörigen sammelt, die Angehörigen dabei unterstützt, neue Perspektiven mit oder ohne das Kind zu entwickeln usw., und erschweren z.B. dadurch, dass er dies alles nicht tut oder falsche Vorstellungen vermittelt oder was weiß ich.

Da hab ich nun schlichte Weisheiten ziemlich langatmig ausgebreitet; aber das war Absicht, weil es sich ja auch in der Praxis durchaus um einen langatmigen - einen langen Atem erforderlich machenden - komplizierten und komplexen Vorgang handelt. Es geht in ihm darum, diverse Prozesse der Koproduktion zwischen den einzelnen Beteiligten so zu unterstützen, dass sie sich wechselseitig fundieren, Rückkopplungsprozesse anstoßen und offen bleiben für Neues. Was ich auch zeigen wollte ist, dass den Sozialen Diensten - wegen der ihnen eigenen Macht - eine besondere Schlüsselrolle zu kommt, sie andererseits dies alles wiederum nicht alleine produzieren können, sondern auf die Koproduktion der anderen Beteiligten angewiesen sind.

Nun, wir wissen alle, dass es so ideal fast nie läuft. Wie in Scheidungsfamilien gibt es Gehässigkeiten, Konkurrenz, Verletztheiten; und außerdem kann es Dummheit, Dreistigkeit, Gleichgültigkeit, Überschätzung und Überforderung geben. Manchmal läßt sich dies überhaupt nicht überwinden, aber es kann mehr oder weniger gekonnte Versuche geben, sich dem Ideal ausgeglichener Bedürfnisse und allseitiger Zufriedenheit anzunähern. Eine erste gute Voraussetzung hierfür ist, dass sich alle Beteiligten auf ein gemeinsames Ziel einigen, in Pflegeverhältnissen kann dies nur das Wohlergehen des schwächsten Gliedes im Gesamtgefüge, des Kindes sein (was freilich, wie schon erwähnt, keineswegs bedeutet, dass das Kind völlig machtlos ist). „Qualität im Pflegekinderwesen“ läßt sich deshalb am besten mit „Koproduktion im Interesse des Kindeswohls“ umschreiben oder weil diese immer nur prozesshaft entstehen kann, vielleicht besser mit „gelingender Koproduzentenschaft zum Wohle des Kindes“. Das gilt zwar für jede einzelne Dyade im System Pflegeverhältnis, es gilt aber insbesondere für die Sozialen Dienste mit ihrer Verantwortung für das Ganze und ihrem Überblick über das Ganze. Sie haben sich darum zu sorgen, dass in jeder der Dyaden sich Koproduzentenschaft entwickeln kann, dass schieflaufende Prozesse rechtzeitig erkannt und Gegenstrategien entwickelt werden und dass Knoten und Blockierungen aufgelöst werden. Aber noch einmal: Es liegt nicht in der Macht der Sozialen Dienste, dies alles selbst zu machen, in ihrer Macht liegt es nur, ihre Macht so einzusetzen, dass möglichst viel und längerfristig gesehen möglichst viel an selbstorganisierter, sich wechselseitig unterstützender, Koproduzentenschaft zustande kommt. Und weil die Sozialen Dienste hierfür selbst die Koproduktion der Anderen brauchen, braucht es neben und vor dem Versuch, sich auf das gemeinsame Ziel Kindeswohl zu einigen, einer ganz besonderen, Koproduktion fördernden, Haltung. Diese nenne ich Respekt, oder Achtung oder Wohlwollen, denn warum sollte jemand, dem nichts von dem entgegengebracht wird, zur Koproduktion bereit sein? Gedemütigte, an den Rand Gedrängte, Belogene und in die Irre Geführte sind es jedenfalls nicht.

Alles weitere, etwa das professionelle methodische Vorgehen, läßt sich ohne weiteres aus Zielsetzung und Haltung ableiten.

  • Wenn ich den Angehörigen im Vorfeld einer Inpflegegabe mit Respekt - wozu auch Respekt vor ihrem Eigensinn, ihren Zweifeln, Ambivalenzen und Unwissen gehört - begegne, dann kann ich auch leichter mit ihnen an einer Definition über das Wohl dieses speziellen Kindes arbeiten und sie zum Koproduzieren verführen, vielleicht auch dazu, das Kind freizugeben.
  • Wenn ich dem Kind, das sich in der Sorge um seine trinkende oder psychisch kranke Mutter verzehrt und sich eines eigenen Lebens beraubt, meine Achtung zeige, dann schließe ich es dazu auf, auch seine Sorgen zu zulassen und über neue Wege für sich und die Mutter nach zu denken
  • Wenn ich wohlwollend betrachte, wie die sich gewiß nicht zur Pflegemutter geeignete Nachbarin oder Oma das geliebte Kind vor dem Heim oder der fremden Pflegefamilie retten will, dann habe ich die Basis für ein gemeinsames Nachdenken über kindliche Bedürfnisse und die notwendigen Mittel zu ihrer Befriedigung geschaffen
  • Wenn ich BewerberInnen um ein Pflegekind in Schulung und Erstgesprächen einen respektvollen Umgang mit ihrer Biographie vermittle, wenn ich sie später in ihren Ambivalenzen und Unsicherheiten im Umgang mit Angehörigen achte, dann kann ich auch mit ihrer Achtung und ihrem Respekt rechnen.

Ich muss die Beispiele dafür wo Respekt und Achtung die Voraussetzung für Koproduktion sind nicht vermehren; Sie kennen sie und Sie kennen auch die vielen Situationen, wo Respekt und Achtung schwer fallen und manchmal nicht mehr möglich sind, und wo Demütigung, Isolierung, Koalitionsbildung gegen einen Dritten an deren Stelle treten. Gerade deshalb ist darauf zu verweisen, dass auch der Respekt der Sozialarbeiter nicht einfach Ergebnis einer persönlichen Haltung ist, sondern abhängig davon, ob ihm selbst von seinem Auftraggeber Respekt entgegen gebracht wird. Und hier komme ich dann also noch einmal auf die Frage der Freien Trägerschaft. Selbstverständlich garantiert sie nicht, dass sich unter ihr jene Bedingungen durchsetzen, die für eine qualifizierte Fachlichkeit und eine für Koproduktion förderliche Haltung voraussetzbare Dienstleistungsorientierung, erforderlich sind, - wie umgekehrt eine öffentliche Trägerschaft solche Bedingungen nicht ausschließt -, aber die Chancen dafür sind unter gegebenen Voraussetzungen einfach besser: Übersichtlichkeit und damit Transparenz, statt Einbindung in ein bürokratisches Geflecht; die Chance zur Herausbildung einer spezifischen Kultur der Institution; günstigere Voraussetzungen für die Herausbildung einer spezifischen Fachlichkeit; und – insbesondere wenn mit finanziellen Anreizen, z.B. über fallbezogene Entgelte verbunden – für alles das, was sich positiv mit Eigeninteresse verbinden läßt, z.B. der Ausweis der Fachlichkeit in Veröffentlichungen und in der Öffentlichkeitsarbeit, Suche nach verläßlichen Kooperationspartnern und Förderern und vor allem Anstrengungen, up to date zu bleiben, sich neu zu orientieren, neue Entwicklungen aufzugreifen und initiativ zu werden.

Wenn sich dies alles auch bei öffentlichen Trägern durchsetzen läßt, - mir wäre es gleichermaßen lieb. Wichtig und für das Pflegekinderwesen überlebensnotwendig ist es aber, dass die KollegInnen der einzelne Dienste in ihrer eigenen Institution und mit Blick auf ihre eigene Person jene Erfahrungen machen, die auch für die Arbeit mit Pflegeeltern, Pflegekindern und seinen Angehörigen unerläßlich sind:

  • Respekt vor der Autonomie des Einzelnen und individuellen Zugangswegen
  • Förderung seiner besonderen Stärken und deren Vernetzung mit den Stärken anderer
  • verläßlich im Umgang miteinander und Zuverlässigkeit in Absprachen
  • qualifizierte Unterstützung bei der Suche nach einer besten Lösung im Interesse des Kindeswohls und bei der Bewältigung des Alltags
  • Vernetzung von Initiativen und Ressourcen.

Pflegeverhältnisse sind zu komplexe Gebilde, zu determiniert und oft zu über determiniert durch zu viele Interessenlagen, Bedürfnisse, Unübersichtlichkeiten und Risiken, als dass nicht auch immer mit dem Scheitern gerechnet werden müsste, nicht optimales akzeptiert werden müsste und nicht auch manchmal mit der Autorität des Gesetzes und der am Kindeswohl und dem Kindesschutz ausgerichteten Fachlichkeit ein Knoten durchschlagen werden müsste. Ebenso klar ist aber, dass nur ein Modernisierungsschub dem in Deutschland stagnierenden und es auf eine europäische Hintertreppe verweisenden, Pflegekinderwesen die Möglichkeit eröffnet, ein eigenständiges Verständnis als professioneller Fachdienst zu entwickeln. Der Schlüssel hierfür ist die Entwicklung einer Fachlichkeit, die sich nicht allein auf die individuelle Fortbildung in irgendeiner neuen Form methodischer Einzelfallarbeit stützt, sondern sich als Gestalter und Organisator von gelingender Koproduzentenschaft und als Manager von komplexen Systemen, definiert.

Neue Handlungsfelder und neue Leitbilder werden sich dann – um noch zwei bislang nicht behandelte Stichworte des Titels meines Referats wenigstens kurz aufzugreifen – von alleine ergeben, wenn sich die Pflegekinderdienste der Voraussetzungen ihres Handelns vergewissern.

So wird sich ein Pflegekinderwesen, dass die veränderten Motivationslagen in der Bevölkerung beobachtet und ernst nimmt, dies nicht nur in den Werbestrategien und der Öffentlichkeitsarbeit berücksichtigen müssen, sondern auch neue Wege für engagementbereite Personen suchen und eröffnen müssen. Ein exzellentes Beispiel hierfür ist das neue bzw. neu konzeptionierte Modell „Patenschaften für Kinder psychisch kranker Mütter in Hamburg“ (von dem ja noch berichtet wird) , da sich in ihm ein milieunaher, Mutter und Kind schonender neuer Ansatz mit dem Bedürfnis vieler Menschen, etwas sinnvolles zu tun, sich aber nicht für sehr lange Zeit und über Tag und Nacht zu binden, verbindet.

Auch zu diesem Komplex gehören die in Deutschland noch kaum bekannten, in England, Schweden, den Niederlanden und in den USA aber weit verbreiteten, Paten- oder Unterstützungsfamilien aus dem Stadtteil für überlastete alleinerziehende Mütter, kranke Mütter, vom Alltag gestresste Jugendliche, junge Schwangere, zuziehende Familien und ausländische Familien. Mit der Organisation solcher niedrigschwelligen Formen der Laienhilfe könnte das Pflegekinderwesen Anschluss an sozialräumlich und präventiv orientierte Hilfen gewinnen und sich darüber ein interessantes neues, noch nicht besetztes und der öffentlichen und politischen Aufmerksamkeit gewisses Feld erschließen.

Ein Pflegekinderwesen, dass das sich in der Pflegeelternschaft entwickelnde Selbstbewußtsein ernst nimmt und nicht als Störfaktor betrachtet, wird Pflegepersonen nicht nur in Sonntagsreden als Partner ernstnehmen , sondern sie in kollegiale Beratungsprozesse real einbeziehen, ihnen z.B. eine gewichtige Rolle in Hilfekonferenzen zugestehen. Und eines, das von den eigenen institutionellen Begrenzungen weiß und ihnen nicht allen stöhnend begegnet, wird weit stärker als bisher auf Selbstorganisationskräfte innerhalb der Pflegeelternschaft setzen und diese fördern, z.B. durch den Aufbau von Unterstützungsnetzen unter Pflegeeltern.

Ein Pflegekinderwesen, das Pflegeeltern mit nicht durch Alltagserfahrung und gutem Herzen zu lösenden Problemen konfrontiert, wird sich über rechtliche Belehrungen und gruppendynamische Übungen hinausgehende, Qualifikationsangebote für Pflegepersonen Gedanken machen und erreichte Qualifizierungsnachweise honorieren.

Ein Pflegekinderwesen, dass nicht nur von Überforderungssituationen und Phasen der Resignation weiß, wird sich um – die Bedürfnisse der Kinder berücksichtigende – Entlastungsmöglichkeiten für Pflegepersonen sorgen müssen, z.B. durch die Organisation von Ferienaufenthalten für die Kinder, durch Bereitstellung von Babysitter-Diensten oder - auch hier - durch den Aufbau von Unterstützungsnetzen zwischen Pflegepersonen. Wer anerkennt, dass auch Pflegeeltern keine homogene Gruppe sind, sondern Personen mit Eigensinn und ganz unterschiedlichen Bedürfnissen, wird auch nach individuell passenden Lösungen suchen müssen, z.B. was Sozialversicherungs- und Honorierungsfragen, Fortbildungs- und Supervisionsbedarfe angeht.

Pflegekinderdienste, die von den oft zersplitterten Biographien von Pflegekindern wissen, werden Kontinuitätsstränge schaffen und Ankerplätze für die biographische Selbstvergewisserung erfinden müssen: das reicht von organisatorischen Vorkehrungen für die langfristige Zuständigkeit eines Mitarbeiters für ein Kind über die Anlage eines life-books für und mit einem Kind bis hin zur Initiierung biographischer Erzählungen. Und ein Pflegekinderwesen, dass darum weiß, dass selbst bei qualifiziertester Beratung und Unterstützung, die Plazierung eines Kindes bei ihm zunächst immer fremden Personen immer ein Risiko bleibt, wird weit stärker als bisher im Sinne eines aktiven ‚home-finding‘ nach Personen suchen müssen, die sich dem Kind vorgängig verbunden fühlen, Freunde, Nachbarn, Verwandte, andere dem Kind vertraute und verbundene Personen.

Ein Pflegekinderwesen, das von der dominierende Rolle der leiblichen Angehörigen im Leben oder doch der Phantasie des Kindes weiß, kommt nicht umhin, auch die Herkunftseltern aktiv als Koproduzenten des Kindeswohls anzusprechen: Es wird sie im Vorfeld der Entscheidung als um Wohl ihres Kindes interessierte, verantwortungsvolle Personen ansprechen und sie konkret in Entscheidungsprozesse einbeziehen; es wird sie nach der Inpflegegabe nicht ihren Phantasien und Sorgen überlassen, sondern sie bei der Trauerarbeit oder bei ihren Versuchen, wieder Souverän des eigenen Lebens zu werden, unterstützen.

Das sind die Sachen, die mir einfallen, wenn ein update für das Pflegekinderwesen nicht allein eine Organisationsreform werden, sondern auch einen neuen Schwung in die Sache bringen soll.

 

 

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