In früher Kindheit vernachlässigte, mißhandelte und mißbrauchte, in der Pubertät persistent und generalisiert dissoziale Jugendliche sind gegenüber den unterschiedlichsten pädagogischen Bemühungen bemerkenswert resistent (vgl. Hartmann, 1977 und 1996). Das wird verständlich, wenn man die neuesten Ergebnisse der Traumaforschung betrachtet. Zu den neurophysiologischen Folgen von Vernachlässigung, Mißhandlung und Mißbrauch im Kindesalter berichten Petermann, Niebank und Scheithauer (S. 24):
„Negative Erlebnisse dieser Art, insbesondere wenn sie wiederholt und/oder anhaltend auftreten, üben über die Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden- und Nebennierenmark-Achse sowie über das Katecholaminsystem einen negativen Einfluß auf die Hirnentwicklung aus (De Bellis et al., 1999; Pollak et al., 1998). Eine erhöhte Kortisol- und Katecholaminausschüttung führt beispielsweise zu einem zunehmenden Verlust an Neuronen oder Verzögerungen in der Myelinisierung (De Bellis et al., 1999). Eine erhöhte Aktivität steroider Hormone und eine erhöhte Ausschüttung katecholaminerger Neurotransmitter beeinflussen Entwicklungsprozesse der neuronalen Migration, Differenzierung und der synaptischen Proliferation. De Bellis et al. (1999) konnten beispielsweise bei mißhandelten Kindern mit diagnostizierter Posttraumatischer Belastungsstörung mit Hilfe bildgebender Verfahren verkleinerte intracraniale und zerebrale Bereiche ermitteln. Pollak, Cicchetti und Klorman (1998) fassen die Zusammenhänge zwischen kindlicher Mißhandlung, Emotionsentwicklung und Gedächtnis zusammen. Sie betonen die Defizite, die mißhandelte Kinder in ihrer Emotionsregulation aufweisen. Darüber hinaus zeigen diese Kinder eine Hypervigilanz gegenüber aggressiven Stimuli und weisen in ihrer sozial-kognitiven Informationsverarbeitung eine Tendenz auf, Stimuli als bedrohlich zu interpretieren.“ (Petermann, Niebank, Scheithauer, 2000, S. 24)
Aus der Deprivationsforschung der Bindungstheoretiker kennen wir die verheerenden psychischen Folgen persistierender traumatischer Kindheitserlebnisse (zusammengefaßt bei Schmalohr, 1968; Dornes, 2000; Brisch, 2000), nun entdecken die Traumaforscher die massiven somatischen Schäden (vgl. auch Perry, 2000 u. 2001; Kolk et. al., 2000; Streeck-Fischer et. al., 2001; De Bellis et al., 1999; Pollak, et. al., 1998). Unsere intensiv traumatisierten Pflegekinder sind also seelisch und körperlich verletzte Kinder, bedürfen primär der Heilung und erst sekundär der Erziehung. Der Begriff ’heilpädagogische Pflegestelle’ ist deshalb sehr ernst zu nehmen. Heilpädagogische Pflegeeltern haben einen therapeutischen Auftrag. Ihr Therapeutikum ist das, was ungeliebte Kinder am meisten brauchen: familiäre Liebe. Eine gute Familienhelferin oder ein gutes Heim können zuverlässige Beziehungen anbieten, keinesfalls aber die tiefen wechselseitigen Bindungen einer liebevollen Lebensgemeinschaft. Liebe allein ist allerdings nicht genug. Die therapeutischen Leitprinzipien in unserem Pflegekinderprojekt der Berliner Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie ( www.agsp.de) lauten ’Liebe, Ruhe, Stetigkeit’. Wenn die Kinder in die Vorpubertät kommen, tritt intensive mäeutische Biographiearbeit hinzu. Damit knüpfen wir an Sigmund Freud an, der auf die Verdrängungen und Abspaltungen seiner sexuell mißbrauchten Patientinnen mit der sogenannten ’Redekur’ reagierte. Die behutsame Integration der abgespaltenen und verdrängten Traumata gilt auch in der Traumatologie als wichtigstes Therapieziel:
„Das Schlüsselelement bei der Psychotherapie von PTBS-Patienten ist die Integration des Fremden, des Unannehmbaren, des Furchterregenden und des Unverständlichen in ihr Selbstkonzept. Lebensereignisse, die anfänglich als fremdartig und dem passiven Opfer von außen auferlegt erfahren wurden, müssen als integrierte Aspekte der Geschichte und der Lebenserfahrungen des Individuums "personalisiert" werden (van der Kolk & Ducey 1989). Die massive Abwehr, die anfänglich als Notschutzmaßnahme aufgebaut wurde, muß allmählich die Psyche der Leidenden aus ihrer Umklammerung entlassen. Nur so wird verhindert, daß dissoziierte Aspekte der Erfahrung weiterhin in das Leben der Leidenden eindringen und auf diese Weise die bereits traumatisierten Opfer ständig retraumatisieren.“ (van der Kolk, McFarlane, Weisaeth, 2000, S. 311)
Sollten wir die Erfolge und Mißerfolge unserer therapeutischen Arbeit bilanzieren, müßten wir einräumen, daß wir bei keinem Kind Erfolg hatten, gemessen an dem, was die Kinder erreicht hätten, wenn sie von Anfang an in liebevollen und halbwegs geordneten Familien aufgewachsen wären. Die frühkindlichen emotionalen Beschädigungen waren bei unseren Schützlingen auch noch nach der Entlassung aus unserem Programm deutlich sichtbar. Andererseits ist auch bei jedem und jeder unserer Heranwachsenden erkennbar, in welcher Weise sie oder er von unserer Arbeit profitiert haben. Oft bestätigt uns der Vergleich mit Geschwisterkindern, die in der Herkunftsfamilie blieben oder langjährige Heimaufenthalte erlebten. Vor allen Dingen können wir auf besonders lange Pflegeverhältnisse und auf eine sehr niedrige Abbruchquote verweisen (vgl. Eberhard u. Eberhard, 2000; Malter u. Eberhard, 2001).
Sinnvoller als die pauschale Frage nach Erfolg oder Mißerfolg ist die differenziertere nach der Art der Erfolge und der Mißerfolge. Deshalb führten wir zu dieser Fragestellung eine praxisbegleitende Längsschnittstudie durch (vgl. Malter u. Eberhard, 2001). Trotz der kleinen Stichprobe (N = 16) resultierten bei 21 von den insgesamt 78 erhobenen Merkmalen statistisch signifikante Aufwärtstrends, d.h. sozial positive Entwicklungen, die sich den folgenden drei Merkmalssyndromen zuordnen ließen:
I. soziale Anpassung nach außen Tendenz zum Stehlen Probleme mit Nachbarn Probleme mit Institutionen und formellen Gruppen Schwierigkeiten, akzeptiert zu werden destruktives Verhalten dissoziale Kontakte Probleme mit Gleichaltrigen Verhaltensstörungen Probleme im Verein
II. Zugang zu eigenen Gefühlen motorische Unruhe Schwierigkeiten beim Ausdruck von Gefühlen unsorgfältig mit sich selbst Schwierigkeiten im Austausch von Zärtlichkeit Probleme mit der Geschlechtsrolle mangelhaftes Einfühlungsvermögen Distanzlosigkeit
III. Familiäre Identität in der Pflegefamilie Probleme mit der Rolle als Pflegekind Probleme mit Beruflichkeit des Erziehungsverhältnisses Probleme mit der Bezahlung der Erziehungsarbeit problematisches Verhältnis zu Verwandten der Pflegefamilie problematisches Verhältnis zur Ursprungsfamilie
Demgegenüber zeigte sich bei keinem Merkmal ein signifikanter Abwärtstrend. Geringe (nicht-signifikant) negative bzw. nicht-positive Entwicklungen fanden sich bei folgenden Merkmalen, die zwei weiteren Merkmalssyndromen zugeordnet wurden:
IV. Bindungsprobleme Tendenz zu Mißtrauen Probleme mit dauerhaften Beziehungen Probleme mit Partnerschaftsbeziehungen Probleme mit den Pflegeeltern taktisches Lügen mangelhafte Konfliktfähigkeit
V. Impulsivität und Labilität Gefühlsschwankungen mangelhafte Frustrationstoleranz Unordnung unwirtschaftlicher Umgang mit Geld Suchttendenzen Tendenz zu Ängsten Tendenz zu psychosomatischen Reaktionen
Daß wir die Bindungsprobleme (Syndrom IV) meist nicht heilen konnten, entspricht den Einsichten und skeptischen Prognosen der Bindungstheorie, und Impulsivität und Labilität (Syndrom V) sind die direkten Folgen jener Bindungsschwäche. Triebe und Gefühle bedürfen der haltgebenden Bindungen wie der Fluß des Ufers. Um so wichtiger ist die gelingende Identifizierung mit der Pflegefamilie (Syndrom III).
Wegen der nach dem 10. Lebensjahr rasant abnehmenden Formbarkeit der emotionalen Grundstrukturen (vgl. Nash, 1999; Greenspan, 1999) ist es so wichtig, rechtzeitig mit der kompensatorischen Arbeit zu beginnen und sie auf der Basis liebevoller Dualbeziehungen auf die Persönlichkeitsbereiche zu konzentrieren, die sich als formbar erwiesen haben. Das sind nach der referierten Untersuchung und unseren sonstigen Erfahrungen die äußere Anpassung und familiäre Eingliederung einerseits und die emotionale Reflexion andererseits. Wegen dieser Reflexionschancen ist das IPP betont psychotherapeutisch ausgerichtet. Kinder und Jugendliche, die Zugang zu ihren emotionalen Eigenarten haben, sie in ihrer Herkunft verstehen und darüber reden können, kommen mit sich und anderen besser aus, als solche, die Illusionen über sich hegen und damit die Ablehnung der Umwelt provozieren. Seelische Behinderungen bedürfen ebenso wie körperliche und geistige der Akzeptanz von innen und außen.
Eine besonders wirksame therapeutische Methode zur Anregung der Selbstreflexion und zur selbstakzeptierenden Identitätsentwicklung ist die bereits erwähnte mäeutische Biographiearbeit. Ihr Ziel ist, aus dem Chaos lückenhafter, verzerrter und z.T sehr traumatischer Erinnerungen mit Hilfe zusätzlicher Quellen zunächst eine stimmige Chronik und dann eine nachvollziehbare Entwicklungsgeschichte zu rekonstruieren. Mäeutik (Hebammenkunst) ist „die sokratische Methode, durch geschicktes Fragen die im Partner schlummernden, ihm aber nicht bewußten richtigen Antworten und Einsichten heraufzuholen“ (Duden – Großes Fremdwörterbuch).
Einer unser Pflegeväter (Erzieher und Sozialarbeiter), der diese Methode zusammen mit seinem intensiv traumatisierten, sehr retardierten, einnässenden, ängstlich-gehemmten Pflegesohn (heute 13, zu Beginn der systematischen Biographiearbeit 8 Jahre alt) praktiziert, schildert ausführlich seine biographische Arbeit und bilanziert:
„Die Veränderungen, die sich mit David nach dieser Arbeit vollzogen haben, seien hier noch einmal zusammengefaßt: Anerkennung der Realität, Abbau von Schuldgefühlen gegenüber der Herkunftsfamilie, selbstbewußterer Umgang mit dem Status als Pflegekind, veränderte Fremdwahrnehmung und Mut, sich mit seiner Geschichte auseinanderzusetzen.“ (vgl. Stephan, 2000, S. 102)
Stephan schließt seine sowohl wissenschaftlich wie praktisch sehr bedeutsame Arbeit mit folgenden Empfehlungen:
„1. Kinder, die in ihrer Herkunftsfamilie sichtbar verwahrlost werden, sollten aus diesem Umfeld herausgenommen werden, da die Hilfen innerhalb dieses Systems selten erfolgversprechend sind.
2. Kinder aus verwahrlosenden Verhältnissen werden lebenslang Besonderheiten haben, die es zu akzeptieren gilt. Denn ihre „Abweichungen“ sind ein Ausdruck des „Nicht-Könnens“, nicht des „Nicht-Wollens“.
3. Biografiearbeit sollte dem Kind nur von Erwachsenen angeboten werden, zu denen es Vertrauen hat.
4. Zur Biografiearbeit gehören gründliche Recherchen, um eine hohe Glaubwürdigkeit der Deutungen zu erzielen.
5. Am Reflexionsprozeß in der Biografiearbeit sollten nach Möglichkeit immer mit dem Kind bekannte aber auch außenstehende Personen beteiligt sein, um eine Vielzahl von Deutungen zu ermöglichen.
6. Die Subjektivität des Einzelnen in der Biografiearbeit sollte immer berücksichtigt werden.“ (ebd. S. 107)
Literatur:
- De Bellis, M. D. et. al.: Developmental Traumatology. Biological Psychiatrie, 1999, Bd. 45, H.10, S. 1259-1284
- Brisch, K. H.: Bindungsstörungen. Stuttgart, 2000
- Dornes, M.: Die frühe Kindheit. Frankfurt a. M., 2000
- Dornes, M.: Die emotionale Welt des Kindes. Frankfurt a. M., 2000
- Duden: Großes Fremdwörterbuch, Mannheim, 1974
- Eberhard, G., Eberhard K.: Das Intensivpädagogische Programm - ein Aktionsforschungsprojekt für psychisch traumatisierte Kinder und Jugendliche in sozialpädagogisch und psychotherapeutisch betreuten Pflegefamilien. Idstein/Wörsdorf, 2000
- Greenspan, S. I.: Die bedrohte Intelligenz – Die Bedeutung der Emotionen für unsere geistige Entwicklung. München, 1999
- Hartmann, K.: Theoretische und empirische Beiträge zur Verwahrlosungsforschung (2. Aufl.). Berlin 1977
- Hartmann, K.: Lebenswege nach Heimerziehung. Freiburg 1996
- van der Kolk, B. A., McFarlane, A. C.,Weisaeth, L.: Traumatic Stress - Grundlagen und Behandlungsansätze - Theorie, Praxis und Forschungen zu posttraumatischem Streß sowie Traumatherapie. Paderborn, 2000
- Malter, C., Eberhard, K.: Entwicklungschancen für vernachlässigte und mißhandelte Kinder in sozialpädagogisch und psychotherapeutisch betreuten Pflegefamilien. In: 2. Jahrbuch des Pflegekinderwesens der Stiftung ‘Zum Wohl des Pflegekindes’, Idstein/Wörsdorf 2001; o. ü. www.agsp.de (s. Forum)
- Nash, M.: Fruchtbarer Geist. In: Mittendrin, H. 2, 1999 – gekürzte Übersetzung von Sell und Heymann: How a childs brain develops. Time Magazine, Vol. 149, No 6, 1997
- Perry, B.: ´Bonding´ und ´Attachment´ bei misshandelten Kindern. In: Forum/Artikel, www.agsp.de, 2001
- Perry, B.: Violence and Childhood. In: www.childtrauma.org oder Forum/Artikel, www.agsp.de, 2000
- Petermann, F., Niebank, K., Scheithauer, H. (Hrsg): Risiken in der frühkindlichen Entwicklung - Entwicklungspsychopathologie der ersten Lebensjahre. Göttingen, 2000
- Pollak, S., Cicchetti, D., & Klorman, R.: Stress, memory and emotion. Developmental considerations from the study of child maltreatment. Development and Psychopathologie. 1998, H. 10, S. 811-828
- Schmalohr, E.: Frühe Mutterentbehrung bei Mensch und Tier. München, 1968
- Stephan, I.: Biografiearbeit mit Pflegekindern. Diplomarbeit an der Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik „Alice Salomon“, Berlin, 2000 oder www.agsp.de (in Vorbereitung)
- Streeck-Fischer, Sachsse, U., Özkan, I.: Körper, Seele, Trauma. Göttingen, 2001
In: Schriftenreihe gegen sexualisierte Gewalt, Band IV, 2002
s.a. Sachgebiete Traumaforschung / Traumatherapie
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