Einleitung
A. Problemfeld Verwahrlosung I. Erscheinungsbild der Verwahrlosung 1. Begriffsanalyse 1.1. Sprachgeschichtliche Wortbedeutung 1.2. Rechtliche Wortbedeutung 1.3. Eigene definitorische Festlegung 2. Psychosoziale Probleme 2.1. Signifikante Merkmale 2.2. Merkmalssyndrome 2.3. Epidemiologie 2.4. Verlaufsmuster 2.5. Prognose
II. Ursachen der Verwahrlosung 1. Individuelle, familiäre und gesellschaftliche Ursachen 1.1. Biologische Erklärungen 1.2. Psychologische Erklärungen 1.3. Soziologische Erklärungen
III. Behandlung der Verwahrlosung 1. Geschichte der Reaktionen 2. Reaktionen der Gesellschaft 2.1. Pädagogische und therapeutische Reaktionen 2.2. Präventive Reaktionen
IV. Resumé
B. Darstellung und Analyse der Biografiearbeit
I. Kurzdefinition II. Historischer Hintergrund III. Typische Merkmale der Biografiearbeit anhand von Beispielen aus der Fachliteratur IV. Psychologisches Grundkonzept V. Spezielles Konzept zu den Wirkmechanismen der Biografiearbeit VI. Indikation und Effizienz VII. Erkenntnistheoretische Einordnung und Bewertung
C. Erfahrungen in der Biografiearbeit mit Pflegekindern
David I. Zur Person II. Informationsquellen 1. Bericht über die Recherchen 2. Auflistung der Quellen 3. Diskussion der Quellen
III. Befunde und Berichte 1. Befunde und Berichte aus eigenen Erhebungen 1.1. Die Tante 1.2. Die Schwester 1.3. Die Sozialarbeiterin des Pflegekinderdienstes 1.4. Der Heimleiter 1.5. Die Bezugserzieherin 1.6. Eine Gruppenerzieherin 2. Befunde und Berichte aus eigenen Erfahrungen
IV. Lebensgeschichte und wichtigste Bezugspersonen 1. Chronik und Geschichte der Mutter 1.1. Chronik 1.2. Geschichte 2. Chronik und Geschichte des Vaters 2.1. Chronik 2.2. Geschichte 3. Chronik und Geschichte des Kindes 3.1. Chronik 3.2. Geschichte 3.3. Psychosoziale Diagnose
V. Biografiearbeit mit David 1. Dokumentation 1.1. Beispiel A 1.2. Beispiel B 1.3. Beispiel C
D. Generalisierende Auswertung
E. Zusammenfassung
F. Literaturverzeichnis
Anhang
EINLEITUNG
Kinder – die Generation, die der Hoffnungsträger in jeder Gesellschaft für eine Vielzahl von Wünschen ist - geraten mehr und mehr ins Hintertreffen angesichts verstärkten Konsumdenkens und finanzpolitischer Winkelzüge, die die Berücksichtigung der Bedürfnisse eben dieser Generation kaum noch zuläßt.
Deutschland, als eine der drei reichsten Nationen der Welt, spielt in diesem Zusammenhang eine nicht besonders rühmliche Rolle. Und obwohl das deutsche Sozialsystem im Weltvergleich mit an der Spitze steht, gibt es auch hier Straßenkinder, Armut, Vernachlässigung und Mißhandlung von Kindern in einem Ausmaß, welches dem Anspruch der Artikel 1 Abs.1 und Artikel 2 des Grundgesetzes dieses Landes erheblich zuwider läuft.
Hier gewinnt das Sprichwort: Eine Kette ist so stark wie ihr schwächstes Glied!, ganz besondere Bedeutung. Denn Kinder sind auf die stärkeren Glieder in der Kette der Gesellschaft angewiesen, um später selbst diese Kette als starke Glieder mit sichern zu können.
Verwahrlosten Kindern, der Entstehung ihrer Situation sowie der öffentlichen Jugendhilfe in Form von Pflegestellen als eine Möglichkeit, verwahrlosenden Verhältnissen entgegenzuwirken, soll diese Arbeit gewidmet sein.
Meine Motivation, mich mit Verwahrlosung als einer Form von Dissozialität zu befassen sowie mit Pflegekindern und deren Biografien, entspringt vor allem meiner persönlichen Situation als alleinerziehender Pflegevater von zwei Pflegesöhnen. Beide Jungen kommen aus familiären Zusammenhängen, in denen sie erheblich verwahrlost wurden, so daß einige Symptome bereits deutlich sichtbar waren. Diese Situation konnte nur durch die Herausnahme der Kinder aus der Herkunftsfamilie beendet werden.
In meiner alltäglichen Arbeit mit den beiden Jungen wird mir immer wieder deutlich, welche große Bedeutung die Auseinandersetzung mit ihrer Biografie für deren seelische Gesundung hat. Deshalb wird der Biografiearbeit als einer Form sozialpädagogischer Arbeit mit Pflegekindern und der Veranschaulichung an einem Fallbeispiel ebenfalls ein Teil der vorliegenden Arbeit gehören.
Im ersten Teil der Arbeit werde ich den Begriff der Verwahrlosung unter verschiedenen Fragestellungen betrachten, um herauszustellen, was dazu führen kann, daß Kinder aus ihren Herkunftsfamilien in Pflegestellen als spezielle Form der Fremdunterbringung gelangen.
Bei der Literaturauswahl, habe ich mich in erster Linie auf Beiträge von Klaus Hartmann gestützt. Er leitete in seiner Funktion als Psychiater und Psychotherapeut in den sechziger und frühen siebziger Jahren im Hans-Zulliger-Haus in Berlin ein interdisziplinäres Team von Erziehern, Sozialarbeitern, Psychagogen, Psychologen und Ärzten, welches etliche Beiträge zur empirischen Dissozialitätsforschung lieferte. Das Heim diente von 1960 bis 1974 als Institution für die stationäre Begutachtung sogenannter erziehungsschwieriger Jungen.
Die Forschungsarbeit wurde auch nach 1974 von einem Teil des Teams insbesondere durch Hartmann bis in die Gegenwart fortgesetzt.
Kurt Eberhard, der damals diesem interdisziplinären Team angehörte, entwickelte 1979 aus dieser Forschungsarbeit in der Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP) einen Projektvorschlag, der auf vernachlässigte und mißhandelte Kinder abzielte. Ausschlaggebend hierfür war das Interesse der damaligen stellvertretenden Vorsitzenden des Friedrichs-Stifts an der Arbeit der AGSP mit verhaltensgestörten Kindern und Jugendlichen.
Das Friedrichs-Stift wurde 1807 von Königin Luise zur Unterhaltung armer Soldatenkinder und „in deren Ermangelung“ armer „Kinder von Zivilpersonen“ (vgl. Satzung des Friedrichs-Stifts) gegründet.
Nach dem zweiten Weltkrieg mußte diese Stiftung einer neuen Bestimmung zugeführt werden und übernahm viele Jahre lang die Einkleidung bedürftiger Heimkinder und die Finanzierung von Ferienreisen und Erholungsaufenthalten.
Der 1979 von der Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie erarbeitete Projektvorschlag beinhaltete die Unterbringung von „Sozialwaisen“ in einem Intensivpädagogischen Programm (IPP), welches darauf abzielte, pflegebedürftige, deprivationsgeschädigte Kinder in geeignete Pflegefamilien zu vermitteln.
Nach der Genehmigung dieses Vorschlages durch den Vorstand des Friedrichs-Stifts und die Stiftungsaufsicht wird nunmehr seit 1980 das IPP durch die Stiftung gefördert.
Ich bin seit März 1999 selbst Mitarbeiter des IPP und somit Teil eines Teams, welches die Langzeitforschung von Hartmann und seinem Team unter veränderten Rahmenbedingungen fortsetzt.
Der zweite Teil der vorliegenden Arbeit beschreibt die Geschichte, die Ziele und Methoden der Biografiearbeit. Diese ist wesentlicher Bestandteil der Arbeit im IPP.
Sie ist eine Methode, die zur Auseinandersetzung der schwer geschädigten Kinder und Jugendlichen mit ihrer Geschichte genutzt wird. Biografiearbeit soll ihnen ein tieferes Verständnis und Akzeptanz für ihre Lebenssituation ermöglichen. Sie kann ein Polster sein, tiefer greifende seelische Verletzungen zu vermeiden und einen Beitrag zur Gesundung dieser Kinder und Jugendlichen leisten.
Der dritte Teil beinhaltet ein Fallbeispiel – einer meiner Pflegesöhne. Er hat die erwähnten verwahrlosenden Umstände in seiner Herkunftsfamilie während der ersten drei Lebensjahre selbst erfahren. Ich werde die Umstände, die zu seiner Herausnahme aus der Ursprungsfamilie führten, darstellen und seinen weiteren Lebensweg skizzieren, soweit mir Informationen dazu vorliegen. An einzelnen Beispielen werde ich Formen der Biografiearbeit veranschaulichen und deren Bedeutung für die Entwicklung des Jungen erläutern.
A. Problemfeld Verwahrlosung I. Erscheinungsbild der Verwahrlosung 1. Begriffsanalyse 1.1. Sprachgeschichtliche Wortbedeutung
Sprachgeschichtlich beschränkte sich das ursprünglich transitive Verb „verwahrlosen“ auf das deutsche und niederländische Sprachgebiet –
„... mhd. verwarlosen ‚unachtsam behandeln oder betreiben‘, niederl. verwaarlozen ‚vernachlässigen, verwahrlosen‘...“. Das Verb „...ist von dem Adjektiv mhd. Warlos ‚unbewußt‘, ahd. waralos ‚achtlos‘ abgeleitet (vgl. den Artikel wahren). Die heute übliche intransitive Verwendung des Verbs findet sich seit dem 16.Jh.“ (Klosa, 1997 S.788)
Der Wandel des Verbs von einem transitiven, also zielenden Zeitwort in die heute gebräuchliche intransitive, also ziellose Form geht anscheinend mit einem veränderten Bewußtsein im Gebrauch des Wortes einher.
Ursprünglich „...konnte gesagt werden: Eltern ‚verwahrlosen‘ ihre Kinder. Wenn von einem verwahrlosten Kind die Rede war, wurden folglich seine Erzieher verantwortlich gemacht. [Heute] kann allenfalls gesagt werden: Eltern lassen ihre Kinder verwahrlosen. Wenn von einem verwahrlosten Kind gesprochen wird, werden seine Erzieher nicht mehr unmittelbar belastet.“ (Hartmann, 1977 S.3)
1.2. Rechtliche Wortbedeutung
In heutigen Gesetzestexten findet der Begriff der Verwahrlosung immerhin noch im Grundgesetz Anwendung
Dort heißt es in Artikel 6 Abs.3: „Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.“ (Beck, 1997 S.4)
Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) verwendet stellvertretend den Begriff der Vernachlässigung, welcher als Tatbestandsmerkmal in § 1666 Abs.1 in Bezug auf die Eltern des betreffenden Kindes genannt wird.
Dort wird dem Familiengericht die Handlungsgewalt zugesprochen in Fällen, in denen „...das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes durch mißbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, durch Vernachlässigung des Kindes, durch unverschuldetes Versagen der Eltern oder durch das Verhalten eines Dritten gefährdet...“ wird. (Beck, 1991 S.314)
Im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) findet der Begriff der Vernachlässigung keine Anwendung. Lediglich in § 43 Abs.1 wird auf o.g. Paragraphen des BGB verwiesen, um die Voraussetzungen zu verdeutlichen, unter denen dem Jugendamt ein Handlungsspielraum zur Herausnahme von Kindern und Jugendlichen ohne Zustimmung der Personensorgeberechtigten zugestanden wird.
Vernachlässigung wird demzufolge als eine Form der Gefährdung des Kindeswohls verstanden, die staatlichen Institutionen den Eingriff in die elterliche Sorge gestattet.
1.3. Eigene definitorische Festlegung
Verwahrlosung charakterisiert die Gesamtheit polymorpher asozialer und/oder antisozialer Merkmale eines Individuums, die sich im fortgesetzten, allgemeinen Sozialversagen äußert.
2. Psychosoziale Probleme 2.1. Signifikante Merkmale
Für die Auswahl signifikanter Merkmale der Verwahrlosung beziehen sich Hartmann und Eberhard auf die Untersuchung von S. und E. Glueck, die ihre Ergebnisse der Vergleichsbefunde von 500 „Delinquents“ und 500 „Non-Delinquents“ in ihrem Werk „Unraveling Juvenile Delinquency“ 1957 in Cambridge veröffentlicht haben.
Weltweit hat es bisher keine vergleichbare Untersuchung mehr gegeben. Hartmann und Eberhard haben zur Erstellung einer Befundkarte für die Beurteilung von Verwahrlosungsentwicklungen und deren statistischer Analyse die Befunde von S. und E. Glueck neu zusammengestellt und nach psychopathologischen Aspekten geordnet.
Dabei wurden von ihnen jene Merkmale herausgenommen,
„...die 1. Nicht mit unseren Mitteln überprüfbar waren (z.B. alle anthropometrischen Befunde der Autoren), 2. Nicht auf deutsche Verhältnisse übertragen werden konnten (z.B. viele soziologische Befunde der Autoren) und 3. Nicht präzisierbar erschienen (z.B. viele psychiatrische Befunde der Autoren).“ (Hartmann, 1977 S.54 f.)
Im Ergebnis blieben für die vergleichbare deutsche Untersuchung 32 der 148 von S. und E. Glueck angegebenen Merkmale bestehen. Diese werden nun im folgenden aufgeführt, wobei die Ergebnisse der Untersuchung der Gluecks ausgespart wurden. Die ungleichmäßige Numerierung ergibt sich aus der Auswahl der Merkmale für deutsche Verhältnisse:
- 1. Rastlosigkeit, motorische Unruhe zur Zeit der Erhebung ...
- 7. Psychosexuelle Identifikationsstörung ...
- 8. Depressive Verstimmung ...
- 9. Mangelhafte Entmutigungstoleranz ...
- 10. Mangelhafte Reglementierungstoleranz ...
- 12. Mangelhafte Kontaktbindung ...
- 13. Mangelhafte Arbeitsbindung ...
- 16. Unzuverlässig, säumig ...
- 18. Unaufrichtig, unwahrhaftig ...
- 20. Freizeitinteresse, vorzugsweise für Abenteuer und Sensation ...
- 21. Berufsinteresse, vorzugsweise für fahrende und militärische Berufe ...
- 22. Häufiger Besuch von Vergnügungsstätten ...
- 24. ‚Bummeln‘, d.h. Überschreitung der Ausgangs- oder Urlaubszeiten ...
- 25. ‚Weglaufen‘, d.h. Entweichung aus der Familien- oder Heimgemeinschaft ...
- 26. ‚Schwänzen‘ der Schule und Berufsschule ...
- 29. ‚Schlechter Umgang‘, d.h. Anschluß an gefährdete Kameraden ...
- 30. ‚Älterer Umgang‘, d.h. vorzugsweise Anschluß an ältere Kameraden ...
- 31. Bandenanschluß, d.h. Anschluß an eine organisierte, antisoziale Gruppe ...
- 32. Mißtrauisches Verhalten ...
- 33. Jähzorniges Verhalten ...
- 34. Oppositionelles Verhalten ...
- 35. Beschädigung, Zerstörung von Objekten ...
- 36. Bedrohung, Mißhandlung von Personen ...
- 42. Tätowiert sich, färbt sich die Haare, betreibt ‚Body – Building‘
- 51. Rastlosigkeit, motorische Unruhe in der Kindheit...
- 52. Einnässen in der Kindheit ...
- 55. Schwere Unfälle in der Anamnese ...
- 56. Starke Ablehnung der Schule ...
- 57. Hilfsschulbesuch ...
- 58. Mehr als eine Schulklasse wiederholt ...
- 59. Schlechtes Abgangszeugnis in der Schule ...
- 60. Verhaltensstörungen in der Schule vor dem 8. Lebensjahr, einschließlich Schulschwänzen und Arbeitsvernachlässigung in der Schule ...
(ebd., S.57 ff.)
Anhand dieser Merkmalsskala kann nun überprüft werden, ob es sich bei einzelnen Probanden um eine Verwahrlosungsentwicklung handelt und in welcher Weise sie sich äußert. Dadurch wird es möglich, Handlungsstrategien gegen eine Verschärfung der Verwahrlosungstendenzen zu entwickeln.
2.2. Merkmalssyndrome
Um nun die zahlreichen Merkmale der Forschungstätigkeit von S. und E. Glueck, die durch Hartmann und Eberhard den deutschen Verhältnissen angepaßt wurden, in Merkmalsfamilien zusammenfassen zu können, war eine Überprüfung der mutmaßlichen Zusammengehörigkeit einzelner Merkmale notwendig. Diese wurde durch eine Cluster-Analyse von Eberhard durchgeführt, deren Ergebnisse wie folgt zitiert werden:
„1. Ein Verwahrlosungssyndrom, das als ‚Instabilitätssyndrom‘ beschrieben werden könnte.
Zu diesem Syndrom zählen z.B. die Merkmale:
- Depressivität
- Mangelhafte Entmutigungstoleranz
- Mangelhafte Kontaktbindung
- Rastlosigkeit
- (Weglaufen – auch dem 2. Cluster zuzuordnen)
- (Mangelhafte Versuchungstoleranz – auch dem 3. Cluster zuzuordnen.)
Das Instabilitätssyndrom ist von geringerer Sozialgefährlichkeit, involviert überwiegend eine autoplastische Verwahrlosung. (Alexander unterschied zwischen autoplastischer und alloplastischer Symptombildung; die autoplastische Symptombildung richtet sich besonders gegen die eigene Person, die alloplastische Symptombildung richtet sich hauptsächlich gegen die Umwelt.) Jugendliche, die vor allem diese Symptomatik aufweisen, könnten auch als ‚Kümmerer‘ bezeichnet werden.
(Das 1. Verwahrlosungssyndrom wird also durch folgende Stichworte charakterisiert: Instabilität – autoplastische Verwahrlosung – ‚Kümmerer‘.)
2. Ein Verwahrlosungssyndrom, das als ‚Asozialitätssyndrom‘ beschrieben werden könnte.
Zu diesem Syndrom zählen z.B. die Merkmale:
- Mangelhafte Arbeitsbindung
- Schwänzen der Arbeit
- Schwänzen der Schule
- Bummeln
- Alkoholmißbrauch
- (Schlechter Umgang – auch dem 3. Cluster zuzuordnen.)
Das ‚Asozialitätssyndrom‘ ist von mittlerer Sozialgefährlichkeit, involviert überwiegend eine passive Verwahrlosung. Jugendliche, die hauptsächlich diese Symptomatik zeigen, könnten auch als ‚Versager‘ bezeichnet werden.
(Das 2. Verwahrlosungssyndrom wird also durch folgende Stichworte charakterisiert: Asozialität – passive Verwahrlosung – ‚Versager‘.)
3. Ein Verwahrlosungssyndrom, das als ‚Kriminalitätssyndrom‘ beschrieben werden könnte.
Zu diesem Syndrom zählen z.B. die Merkmale:
- Bedrohung, Mißhandlung von Personen
- Beschädigung, Zerstörung von Objekten
- Verhandelte Verkehrsdelikte
- Delinquenz vor dem vollendeten 14. Lebensjahr
- Delinquenz in über drei Fällen
- Nicht verhandelte Rechtsverletzungen
- (Oppositionelles Verhalten – auch dem 2. Cluster zuzuordnen.)
Das ‚Kriminalitätssyndrom‘ ist von erheblicher Sozialgefährlichkeit, involviert überwiegend eine aggressive Verwahrlosung. Jugendliche, die besonders diese Symptomatik entwickeln, könnten auch als ‚Störer‘ bezeichnet werden.
(Das 3. Verwahrlosungssyndrom wird also durch folgende Stichworte charakterisiert: Kriminalität – aggressive Verwahrlosung – ‚Störer‘.)“ (ebd., S.125 f.)
Diese drei Cluster können jedoch nur eine Orientierungshilfe zum Finden adäquater Behandlungsmöglichkeiten für die jeweiligen Probanden sein. Überschneidungen einzelner Merkmale sind immer möglich, wie bei der Zuordnung zu den Syndromen bereits deutlich wurde.
Durch die Aufteilung in verschiedene Verwahrlosungssyndrome entstehen Fragen nach dem Grund für das unterschiedliche Bild und die Intensität der Verwahrlosung. Diesen Fragen geht Hartmann nach und schreibt dazu:
„Es läßt sich vermuten, daß die passive Verwahrlosung vorherrscht, wenn die Verwahrlosung eine schwächere Intensität hat, und daß die aktive Verwahrlosung dominiert, wenn die Verwahrlosung eine stärkere Intensität entwickelt (wobei aus der Clusterbildung abzuleiten wäre, daß diese Intensitätsveränderungen nicht kontinuierlich, sondern schubweise erfolgen). Die Intensität des Verwahrlosungsprozesses ist ihrerseits eine Funktion verschiedener Faktoren, insbesondere solcher Faktoren, wie Vitalität, Tonus, Temperament: Sthenische Temperamente scheinen mehr zu aktiver Verwahrlosung, asthenische Temperamente eher zu passiver Verwahrlosung zu disponieren. Für den Einfluß des Temperaments spricht die Tatsache, daß die aktive Verwahrlosung vorzugsweise beim männlichen Geschlecht und beim männlichen Geschlecht vorzugsweise bei athletischen Konstitutionen vorkommt und mit zunehmendem Lebensalter und, ..., auch mit zunehmendem Körpergewicht abzunehmen pflegt.“ (ebd., S.127)
Weiter schreibt Hartmann, daß sich die Verwahrlosung nicht nur aus „produktiven“ Elementen wie Weglaufen, Bummeln, Schwänzen zusammensetzt, sondern auch „defektive“ Elemente wie mangelhafte Entmutigungstoleranz und Kontaktbindung sowie Depressivität enthält. Sie sind seiner Ansicht nach „typisch und frequent“ und lassen daher den Schluß zu, daß Verwahrloste häufig „nicht anders können“ und daß der Vorwurf, sie wollten nicht anders, nicht gerechtfertigt sei. Man könne also durchaus von einer „Krankhaftigkeit“ und nicht von „Mutwilligkeit“ sprechen.
Abschließend weist Hartmann auch auf das diagnostische Interesse dieser defektiven Verwahrlosungsmerkmale hin, da sie dem Ausbruch der Dissozialität sehr häufig vorausgehen. Er beschreibt zwei Stadien der Verwahrlosung: Zum einen das „Primärstadium der Verkümmerung“, welches oft als die erwähnte Krankhaftigkeit wahrgenommen und behandelt wird. Zum anderen das „Sekundärstadium der Verwilderung“, welches dann nur noch als ein „Erziehungsfall“ eingestuft wird, obwohl es sich um einen Prozeß mit „zwei verschiedenen Phasen“ handelt. (vgl. Hartmann, 1977 S.128)
2.3. Epidemiologie
Zur Epidemiologie schreibt Hartmann: „Der Anteil bundesdeutscher Minderjähriger, der jugendamtliche Maßnahmen in Form der ‚Öffentlichen Erziehung‘, d.h. der ‚Erziehungsbeistandschaft‘, ‚Freiwilligen Erziehungshilfe‘ und ‚Fürsorgeerziehung‘, in Anspruch nimmt, betrug 1963 etwa 0,4% und 1973 etwa 0,2% (nach Erhebungen vom Statistischen Bundesamt über öffentliche Jugendhilfe). Der Anteil bundesdeutscher Minderjähriger, der sonderschulischer Maßnahmen in Form der Beschulung durch Sondereinrichtungen für Verhaltensgestörte bedarf, wurde 1973 mit 1-2% angegeben (nach einem Gutachten von Sander).“ (ebd., S.1)
Auch aus Hartmanns Langzeitstudie „Lebenswege nach Heimerziehung“ ist zu entnehmen, daß in den darin untersuchten Fällen die Eltern ausnahmslos der Unter- bzw. unteren Mittelschicht entstammten. Die Familienverhältnisse waren häufig äußerst desolat – etliche uneheliche Kinder, hohe Scheidungsraten, liebloser Umgang zwischen den Eltern sowie zwischen Eltern und Kindern, hohe Kriminalitätsrate der Eltern (vgl. Hartmann, 1996 S.104 ff.).
Aufgrund der Angaben in der Studie läßt sich folgern, daß Kinder eher in Familien verwahrlosend aufwachsen, in denen die Eltern selbst ähnliche Tendenzen in ihrer Kindheit erlebten.
Aktuellere Untersuchungen über Verwahrlosung können zu diesem Punkt nicht angeführt werden, da der Begriff im KJHG heute keine Anwendung mehr findet (vgl. Kap. 1.2. Rechtliche Wortbedeutung). Das hat zur Folge, daß es zwar weiterhin Fälle von Verwahrlosung in der Gesellschaft gibt, diese aber nicht mehr erfaßt werden.
2.4. Verlaufsmuster
Für den Ursprung der Entwicklung von Verwahrlosungserscheinungen kann es verschiedene Ursachen geben (vgl. Kap.II Ursachen der Verwahrlosung). Einig sind sich die Autoren, daß der Grundstein für derartige Tendenzen bereits in der frühen Kindheit gelegt wird.
Die nachfolgende Darstellung des Verlaufes von Verwahrlosung stützt sich verstärkt auf die Ursachenforschung von Schmalohr, da in dieser m.E. am anschaulichsten die Entwicklung einzelner Symptome zu erkennen ist.
Die Summation der sich in frühester Kindheit entwickelnden Symptome ergibt schließlich die Gesamtheit, die späterhin als Verwahrlosung diagnostiziert wird.
Um diesen Zusammenhang zu verdeutlichen, werden im folgenden einzelne Ursachen für Verwahrlosung dem Kapitel II bereits vorweggenommen.
Bereits im Säuglingsalter und da schon nach der Geburt ist es für ein Kind von erheblicher Bedeutung, wie die Mutter sich ihm zuwendet. Untersuchungen, die bereits am Beginn des vergangenen Jahrhunderts durchgeführt wurden, belegen das eindrücklich.
Schmalohr bezieht sich auf eine Studie von Canestrini aus dem Jahre 1913, „...wonach die Neugeborenen in den ersten Lebenswochen bis in die Atmung und den Herzrhythmus hinein vom zärtlichen Angesprochenwerden durch die Mutter besser beruhigt werden können, als durch entsprechende Bemühungen sonstiger Pflegepersonen. Über die sehr feinen ‚Antennen‘ der Säuglinge darf auch nicht hinwegtäuschen, wenn sie bei einer Muttertrennung ohne Schwierigkeiten von einer Ersatzperson Nahrung annehmen. Das Kind ist anfangs so hilflos und seine Nahrungsbedürfnisse sind so stark, daß es die Flasche und die Pflegeverrichtungen von jeder Person annehmen muß, um zu überleben.“ (Schmalohr, 1968 S.114 f.)
Für eine gesunde seelische und körperliche Entwicklung des Kindes sind aber neben Nahrung und pflegerischer Versorgung auch persönliche, einzigartige Beziehungen notwendig. Körperkontakte wie Gestreichelt- und Liebkostwerden und liebevoller Zuspruch sind wichtige Faktoren für die gesunde Entwicklung des Gefühlslebens des Säuglings. Ohne diese sensorischen Reize fehlt ihm die Stimulation für diese Entwicklung. Das Schreien des Kindes beispielsweise ist in diesem Alter seine einzige Möglichkeit, der Mutter sein Bedürfnis nach Nähe kundzutun. Wendet sie sich in derartigen Situationen nicht dem Kind zu, um herauszufinden, wonach es ihm „gelüstet“, kann dies zu ersten Verlassenheitsängsten und Frustrationen nach Mutterkontakt führen. Die ständige Wiederholung derartiger Situationen wird dann zwangsläufig die Manifestierung erster Merkmale der Verwahrlosung wie mangelhafte Kontaktbindung und mißtrauisches Verhalten zur Folge haben.
Einen noch gravierenderen Einschnitt bedeutet der Entzug der Mutter in diesem Alter.
Dann „...findet der Verlust einen noch deutlicheren erlebnismäßigen Ausdruck im Trauma der Trennung. Das Kind verfällt dann in der Mutterentbehrung in Angst, Kummer und Trauer. In Analogie zum Trauma der Geburt wird durch das Vermissen der geliebten und ersehnten Mutterperson die Trennungsangst erzeugt. Die Angst entsteht in Situationen des Verlassenseins von der Mutter und kann als Gefühl des Alleingelassenseins von der Mutter verstanden werden, das seinen Ausdruck im dranghaften Suchen nach der Mutter findet. Ihre Funktion kann als Sicherungsvorrichtung angesehen werden, daß das Kind nicht allzulange von der Mutter getrennt bleibt.“ (ebd., S.116)
Werden diese Bedürfnisäußerungen von der Mutter andauernd nicht oder negativ beantwortet, kann der Grundstein z.B. für spätere depressive Verstimmung oder motorische Unruhe gelegt werden.
Zwischen dem sechsten und achten Lebensmonat hat sich das Kind dann soweit entwickelt, daß es zu Gedächtnisleistungen fähig ist dergestalt, daß fremde Personen klar von der der Mutter unterschieden und abgelehnt werden. Schmalohr nennt hier auch den landläufig bekannten Begriff des „Fremdelns“ und schreibt dann weiter:
„Die Trennungsangst nimmt hier den Charakter einer Erwartungsangst vor der drohenden Gefahr des Verlassenwerdens an.“ (ebd., S.118)
Auch hier besteht die Gefahr, daß sich mißtrauisches Verhalten beim Kind verfestigt, wenn die Mutter sein Bedürfnis nach speziell ihrer Nähe nicht wahrnimmt oder wahrnehmen kann.
Schmalohr führt hier auch Bowlby an, der diese Reaktionen mit
„...Phasen des Protestes, der Verzweiflung und schließlich der Gleichgültigkeit...“ beschrieben hat. (ebd., S.118)
Die Gleichgültigkeit kann sich zu mangelhafter Kontaktbindung entwickeln. Aus der „gesunden“ Protestphase kann Jähzorn und oppositionelles Verhalten entstehen, sofern das Kind in seinem Verhalten mißdeutet oder ständig abgelehnt wird.
Auch im zweiten Lebensjahr wird es für Mütter nicht einfacher, den Liebeshunger des Kindes zu stillen. Alleinbesitzansprüche werden geltend gemacht und Vater, Geschwister oder andere Personen als Konkurrenten um die Mutter erlebt.
Ein angeführtes Beispiel schildert die Gefühle von Kindern dieses Alters und deren Reaktionen darauf. Schmalohr entnahm es dem Bericht von Burlingham und Freud aus einem Kriegs-Kinderheim in England:
„Das Kind fühlt sich plötzlich von allen ihm wichtigen Personen seiner Umwelt verlassen. Seine neu erworbene Liebesfähigkeit findet sich ohne die Objekte, auf die sie gerichtet war. Sein Verlangen nach Zärtlichkeit bleibt unbefriedigt, die Sehnsucht nach der Mutter steigert sich unter diesen Umständen ins Unerträgliche und erzeugt Ausbrüche von Verzweiflung, ... Die Versagung der stürmischen Bedürfnisse, die nach augenblicklicher Befriedigung drängen, führt dann zu den uns bekannten akuten und chronischen Verlassenheitssymptomen, dem teilnahmslosen In – sich – Versunkensein, dem depressiven Ausdruck, dem leeren Blick, der Abwehr und den Bewegungsstereotypien.“ (ebd., S.119)
Das Kind wurde der Person „beraubt“, um derentwillen es „Triebverzichte geleistet“ (vgl. Schmalohr, S.119) hat. Es verzichtete auf die Mutterbrust, wurde sauber und lernte ihr zuliebe mit Konkurrenten umzugehen.
Die erwähnten „Triebverzichte“ wird das Kind in einem verwahrlosenden Umfeld nicht leisten, weil es sich mit seinen Bedürfnissen nicht angenommen fühlt. Es wird unter diesen Umständen weiter einnässen, seinem Ärger durch Zerstörung von Dingen oder körperliche Attacken gegen die Mutter oder andere Mitglieder der Familie „Luft machen“.
Ab Beginn des dritten Lebensjahres werden die Reaktionen des Kindes auf Trennung und „Liebesentzug“ milder ausfallen, sofern es Gelegenheit hatte, in der vorangegangenen Zeit stabile Kontakte zu erleben.
In verwahrlosenden Verhältnissen wurde eben diese Gelegenheit für das Kind, stabile Kontakte zu erleben, verpaßt. Geschilderte Verhaltensmerkmale setzen sich weiter fort und führen letztlich schon in diesem Alter zu Verhaltensstörungen, die nur schwer wieder zu korrigieren sind.
In einem „gesunden“ Umfeld beginnt ab dem dritten Lebensjahr die Identifizierung mit dem gleichen Geschlecht und Ablösungstendenzen in Gestalt von eigenständigem Handlungsstreben und Kontakten zu Gleichaltrigen. Sie gewinnen für die Entwicklung an Bedeutung. In dieser Zeit kommt es auch zu einem Wechselspiel von Liebes- und Haßäußerungen des Kindes gegenüber seinen Eltern.
„ ‚Vater und Mutter werden in einer Aufwallung von Ärger totgewünscht, im nächsten Augenblick ist das Kind beschwichtigt, und das alte zärtliche Verhältnis ist wieder hergestellt‘ (Burlingham und Freud 1942, 55).“ (ebd., S.120)
Für Kinder verwahrlosender Eltern wird das Wechselspiel von Liebes- und Haßäußerungen ungleich in „Richtung Haß“ verschoben. Es führt zu Trotzhaltungen, die in mangelhafter Reglementierungstoleranz münden. Das Bedürfnis, sich mit Personen des gleichen Geschlechts zu identifizieren, kann nicht entstehen und führt zu psychosexuellen Identifikationsstörungen.
Die Bedeutung der „Versagungsreize“, das heißt nicht bei jeder kleinen Unmutsäußerung des Kindes nachzugeben, wird umso klarer, je älter das Kind wird. Denn spätestens mit dem Schuleintritt muß es sich in seinen gefühlsmäßigen Beziehungen von der persönlichen Mutterliebe auf eine völlig anders geartete, mehr sachlich ausgerichtete Bindungsebene begeben (vgl. Schmalohr, S.123). Nun wird dem Kind ein hohes Maß an sozialer Anpassung auch gegenüber Gleichaltrigen abverlangt.
Ein verwahrlostes Kind hat in dieser Phase seiner Entwicklung aber bereits eine solche Fülle an Frustrationen und Ablehnung durch die Mutter bzw. die Eltern erfahren, daß es den Schritt der sozialen Anpassung in der Schule nicht mehr bewerkstelligen kann.
Die mangelhafte gefühlsmäßige Beziehung zu den Eltern setzt sich nun im Umgang mit anderen Personen fort und hemmt das Kind in seiner eigenen Entwicklung. Das Durchhaltevermögen zur Bewältigung neuer Aufgaben sinkt, die mangelhafte Entmutigungstoleranz läßt es sogar vor neuen Aufgaben zurückschrecken. Nicht selten müssen mehrere Klassenstufen wiederholt werden.
Schmalohr beschrieb die Auswirkungen des Mangels in Gefühlsbeziehungen so: Bei ihnen „...sind durch ihre frühe Enttäuschung die Gefühlsbeziehungen verkümmert, und selbst die Angst ist stumm geworden oder äußert sich nur wenig. Unfähig zu Trennungsschmerz und Trauer sind die Kinder in der Gleichgültigkeitsphase und Depression steckengeblieben. Da sie nie eine dauernde Liebesbeziehung erfahren haben oder weil eine bestehende Beziehung früh und gewaltsam unterbrochen wurde, sind sie ihrerseits unfähig, Gefühlsbeziehungen herzustellen.
Auch wenn sie den Eindruck ungewöhnlich betonter Unabhängigkeit machen, erkennt man bei näherem Zusehen, ‚daß deren Ursprung erstarrte Liebe ist und daß die zur Schau gestellte Unabhängigkeit hohl ist‘.“ (ebd., S.123)
Es gibt aber noch weitere Merkmale der Verwahrlosung (vgl. Kap. 2.1. Signifikante Merkmale).
Welcher Verlauf bei andauernder Verwahrlosung für die weitere Entwicklung im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter zu erwarten ist, hat u.a. Hartmann in seiner Langzeitstudie „Lebenswege nach Heimerziehung“ sehr eindrücklich geschildert. In seiner Studie untersuchte er im ersten „Arbeitsgang“ mehr als 1000 sozial auffällige, männliche Jugendliche. Eine Nachuntersuchung von ca. 400 Jugendlichen erfolgte im Abstand von rund sieben Jahren zur ersten Untersuchung. Und nach ca. 30 Jahren ist es ihm gelungen, nochmals eine Nachuntersuchung mit 100 mittlerweile Männern mittleren Alters durchzuführen.
In seinem Buch sind nun die Ergebnisse der Untersuchungen von 33 dieser 100 Männer veröffentlicht.
Exemplarisch soll hier ein Fall dargestellt werden, um zu verdeutlichen, welcher Verlauf bei einem fortgesetzten Mangel an Beziehung, Liebe und Fürsorge entstehen kann.
„Uwe K., 14jährig. Uwe K. war ein unerwünschtes Kind und ist unehelich geboren. Erst mit elf Jahren kam er zu seiner Mutter nach Westberlin, nachdem er die ersten drei Lebensjahre bei den Großeltern in der DDR und sechs Jahre in Heimen der DDR zugebracht hatte. ... “
Über seine Mutter wird berichtet, daß sie während ihrer ersten Ehe ‚ein unstetes Leben führte‘ und ‚die Versorgung und Betreuung der Kinder Verwandten bzw. Heimen überlassen hat‘.
Über die Entwicklung von Uwe berichtete die Mutter, daß er spät sprechen und laufen gelernt habe und in früher Kindheit sehr viel krank war. Er wurde altersgemäß eingeschult, hat die Schule häufig gewechselt, ist dreimal nicht versetzt worden und wurde mit einem schlechten Abgangszeugnis aus der sechsten Klasse der Hauptschule entlassen.
Mit dreizehn Jahren wurde Uwe erstmals durch eine Vermißtenanzeige auffällig. Er war angeblich ohne erkennbaren Grund, von zu Hause fortgelaufen, nachdem ihm von der Mutter ein 20 DM-Schein zum Wechseln übergeben worden war. ...
Die EB [Erziehungsberatungsstelle] berichtete: ‚Uwe ist nervös, unruhig, unordentlich, unpünktlich. Abgesehen von einem Jungen, mit dem er in der Schule sitzengeblieben war, hat er keinen Freund.‘ Ergänzend wurde festgestellt, daß sich bei Uwe auch ‚neurotische Symptome‘, wie Nervosität und Unruhe, unruhiger Schlaf und starkes Nägelknabbern, zeigten.“ (Hartmann, 1996 S.128 f.)
Die Schilderung setzt sich in dieser Weise fort. Bei der ersten Nachuntersuchung – Uwe war 21 Jahre alt – war er bereits mehrmals straffällig geworden und saß in der Jugendstrafanstalt. Die am Beginn des Unterkapitels erwähnte Liebesbindung seiner Mutter zu ihm hat Uwe nicht erfahren. Auch späterhin sind ihm kontinuierliche Beziehungen versagt geblieben. Die Merkmale einer sich abzeichnenden Verwahrlosung haben sich manifestiert und vermehrt.
Nach achtundzwanzig Jahren trifft Hartmann noch einmal mit Uwe zusammen.
„Uwe K., 42jährig ...Ich kann den Uwe K., der mir gegenüber sitzt, in dem Uwe K. von dem Foto aus dem Gutachten nicht wiederfinden. In der oberen Zahnreihe steht nur noch ein einzelner Zahn. Das blonde Haar ist grau geworden, liegt lang, ungepflegt und strähnig auf dem Kragen. Nur die schmalen grauen Brauen erinnern noch an die feinen Konturen des Kindergesichts auf dem alten Foto. Umso auffälliger die Spuren einer Alkohol- und Legionskarriere: Die vermehrten Gefäßzeichnungen auf den eingesunkenen Wangen, die punktförmige Tätowierung (‚Knastträne‘) unter dem linken Auge. Die Tätowierung auf der rechten Hand ‚R.E.P.‘ wird als ‚Regiment Etranger Parachutiste‘ entziffert. Er war sieben Jahre in der Fremdenlegion, unter anderem in der Republik Djibouti und in Korsika, und bedauert, daß er nicht dabeigeblieben sei. ‚Dann hätte ich heute eine Rente.‘ ...
Die Mutter lebe noch, aber sie habe ... ihn nie besucht, weder in den Heimen noch später in den Gefängnissen. ...
Aber er war und ist noch verheiratet. Seine Frau sei ihm jedoch wiederholt fortgelaufen. Trotzdem habe er sie immer wieder aufgenommen, auch wenn sie auf ihren Exkursionen ‚die Miete und das Stromgeld verjubelt hat‘ und seit einem halben Jahr zu einem ‚alten Macker‘ gezogen sei, der ‚auf Stütze lebt‘. ...
‚Aber Gangster wollen Sie nicht mehr werden?‘ Das wolle er nicht von der Hand weisen, obwohl er in den letzten fünf Jahren, nach der letzten Verurteilung, nicht mehr straffällig geworden sei. ... Vielleicht sei er ‚auch jetzt zu alt dazu‘. ...
Später, als er gefragt wird, wie er sich sein Leben vorstelle, wenn er alt werde, sagt er: ‚Ich werde nicht alt. Der Alkohol. Die Leber ist schon lange kaputt.‘“ (ebd., S.134 ff.)
In dieser Weise lesen sich die meisten der geschilderten Fälle, was darauf schließen läßt, daß in der Kindheit sich entwickelnde Verwahrlosungsmerkmale, denen nicht entgegen gewirkt wird oder werden kann, sich in der Jugend verfestigen und den jeweiligen Menschen ein Leben lang in ihrem „Bann“ halten.
2.5. Prognose
Prinzipiell kann wohl gesagt werden, daß die Prognose für verwahrloste Kinder und Jugendliche schlecht aussieht. Wie Hartmanns Langzeitstudie „Lebenswege nach Heimerziehung“ ergeben hat, werden die meisten Verwahrlosten als Erwachsene erhebliche Schwierigkeiten in vielen Lebensbereichen haben.
Drogenmißbrauch und Kriminalität, häufig wechselnde Arbeitsverhältnisse und mangelhafte Bindungsfähigkeit, Depressionen und viele andere Probleme begleiten den größten Teil derjenigen, die von frühester Kindheit an so verwahrlost wurden.
Auch jahrelange Heimerziehung konnte diese Entwicklung oft nicht aufhalten. Im Gegenteil sind etliche der Negativfaktoren dadurch noch verstärkt worden, weil sich in den Heimen die so wichtigen Bindungen nicht entwickeln konnten. Wenn Kinder oder Jugendliche zu problematisch waren, mußten sie deshalb oft auch die „professionellen“ Einrichtungen wechseln.
Pflege- und Adoptivfamilien sind häufig ebenfalls mit verwahrlosten Kindern und Jugendlichen überfordert, weil sie nach deren Aufnahme von Seiten der Jugendämter nicht die dann notwendige Unterstützung erhalten, um ihnen die Möglichkeit einer zumindest teilweisen Gesundung geben zu können.
Bei der Betrachtung der Forschungen zur Verwahrlosung, kommt man zu der Schlußfolgerung, daß verwahrloste Kinder und Jugendliche nur die Chance auf eine günstigere Prognose haben, wenn frühzeitig präventive Maßnahmen einsetzen.
In dem Erfahrungsbericht über ihre sekundärpräventive Arbeit mit sozialpädagogisch und psychotherapeutisch betreuten Pflegefamilien stellten die Eberhards fünf Merkmalssyndrome zusammen, wobei sie bei drei dieser Syndrome positive Entwicklungstrends feststellen konnten:
„I. soziale Anpassung nach außen
- Tendenz zum Stehlen
- Probleme mit Nachbarn
- Probleme mit Institutionen und formellen Gruppen
- Schwierigkeiten, akzeptiert zu werden
- destruktives Verhalten
- dissoziale Kontakte
- Probleme mit Gleichaltrigen
- Verhaltensstörungen
- Probleme im Verein
II. Zugang zu eigenen Gefühlen
- motorische Unruhe
- Schwierigkeiten beim Ausdruck von Gefühlen
- unsorgfältig mit sich selbst
- Schwierigkeiten im Austausch von Zärtlichkeit
- Probleme mit der Geschlechtsrolle
- mangelhaftes Einfühlungsvermögen
- Distanzlosigkeit
III. Familiäre Identität in der Pflegefamilie
- Probleme mit der Rolle als Pflegekind
- Probleme mit Beruflichkeit des Erziehungsverhältnisses
- Probleme mit der Bezahlung der Erziehungsarbeit
- problematisches Verhältnis zu Verwandten der Pflegefamilie
- problematisches Verhältnis zur Ursprungsfamilie“
- (Eberhard, G. und K., 2000 S.46)
Zwei Merkmalssyndrome blieben im nicht-positiven bzw. im negativen Entwicklungsbereich:
„IV. Bindungsprobleme
- Tendenz zu Mißtrauen
- Probleme mit dauerhaften Beziehungen
- Probleme mit Partnerschaftsbeziehungen
- Probleme mit den Pflegeeltern
- taktisches Lügen
- mangelhafte Konfliktfähigkeit
V. Impulsivität und Labilität
- Gefühlsschwankungen
- mangelhafte Frustrationstoleranz
- Unordnung
- unwirtschaftlicher Umgang mit Geld
- Suchttendenzen
- Tendenz zu Ängsten
- Tendenz zu psychosomatischen Reaktionen“
(ebd., S.46)
Im Vergleich mit Hartmanns Langzeitstudie, bei der alle Probanden bis ins Jugendalter verwahrlosenden Verhältnissen ausgesetzt waren, die sich dann auch im Erwachsenenalter massiv auswirkten, lassen die Ergebnisse der Eberhardschen Studie doch eine wesentlich günstigere Prognose zu.
Ein wichtiger Grund für diesen Erfolg ist sicher die Stabilität der Beziehungen, die im IPP angestrebt und meist auch durchgehalten werden kann. So liegt die Zahl der Pflegeverhältnisse mit Verweildauer bis zu einem Jahr im IPP bei ca.15%, während sie im Bundesdurchschnitt über 30% beträgt. Die Zahl der Pflegeverhältnisse mit einer Verweildauer von über 5 Jahren liegt im IPP dagegen bei fast 70% während sie im Bundesdurchschnitt mit nicht einmal 30% (vgl. Eberhard, 2000 S.44) zu Buche schlägt.
Diese Ergebnisse vor dem Hintergrund betrachtet, daß die Kinder im IPP zu über 90% erst ab dem sechsten Lebensjahr in Pflegefamilien aufgenommen wurden im Vergleich zu knapp 60% dieser Altersgruppe im Bundesdurchschnitt (vgl. Eberhard, 2000 S.43), sprechen ihrerseits für das effiziente Konzept des IPP.
Resümierend kann wohl für verwahrlosungsgefährdete oder –geschädigte Kinder und Jugendliche festgestellt werden, daß deren Prognose umso günstiger ausfallen wird, je eher stabile, präventive Interventionsformen gefunden werden und je eher in diesen die emotionale Zuwendung angeboten wird, deren Mangel die wesentliche Ursache für die Störungen des Erlebens und Verhaltens darstellt.
II. Ursachen der Verwahrlosung 1. Individuelle, familiäre und gesellschaftliche Ursachen 1.1. Biologische Erklärungen
Biologische Faktoren als Ursache für Verwahrlosung können in unterschiedliche Kategorien eingeteilt werden. So gibt es Untersuchungen zum Einfluß von Hirnschäden, Entwicklungsstörungen, Chromosomenanomalien, Geschlecht, Lebensalter, Konstitution und Vererbung. Vorab sollte klar gestellt werden, daß keine dieser Kategorien allein genommen eine prognostische Bedeutung für Verwahrlosung hat. Andererseits sollte aber jede der genannten Kategorien Berücksichtigung finden, wenn es um die Eingrenzung von Ursachen für Verwahrlosung geht.
Hartmann hat zu allen Kategorien Studien verschiedener Autoren verglichen. So schreibt er zum Einfluß von Hirnschäden:
„Den Zusammenhang zwischen frühkindlicher Hirnschädigung und Dissozialität haben u.a. Bradley, Göllnitz, Encke, Henck, Koch und Lempp [1,2] untersucht. Während die ersten die kriminogene Bedeutung solcher Schäden sehr hoch einschätzen, ist Lempp in dieser Hinsicht vergleichsweise zurückhaltend. Recht zurückhaltend hat sich auch Stutte [5] hierzu geäußert (vgl. seine ‚epikritischen Betrachtungen zur Psychopathologie der kindlichen Hirnschädigungen‘: ‚Wir zögern..., das Zusammentreffen geringfügiger neurologischer , encephalographischer usw. Normalabweichungen mit Verhaltensabartigkeiten schon als Beweis der hirnpathologischen Genese der letzteren hinzunehmen‘).“ (Hartmann, 1977 S.22)
Zu Entwicklungsstörungen als Ursache für Verwahrlosung unterscheidet HARTMANN die Untersuchungen der Autoren nach Entwicklungsbeschleunigung und –hemmung. Zum ersten Faktor nennt er Leuner, der diesen als Verursacher untersucht hat. Den zweiten Faktor haben u.a. Kretschmer, Hallermann, Illchmann-Christ , Achenbach, Villinger und Stutte untersucht.
In einigen Untersuchungen wird die Bedeutung der seelischen Verarbeitung solcher Entwicklungsstörungen betont.
Zu den Chromosomenanomalien schreibt Hartmann: „Unter den Chromosomenaberrationen haben insbesondere die Chromosomenaberrationen mit überzähligen Geschlechtschromosomen, wie die XXY-Konstitutionen mit überzähligem X-Chromosom und die XYY- und XYYY-Konstitutionen mit überzähligem Y-Chromosom kriminologische Diskussionen ausgelöst. Bei Konstitutionen mit überzähligem Y-Chromosom erscheinen die Aggressivität und Kriminalitätsanfälligkeit gesteigert. Bei Konstitutionen mit überzähligem X-Chromosom sind die Aggressivität und Kriminalitätsanfälligkeit eher vermindert, ‚wenn sie auch mit gewissen Delikten, z.B. Unzucht mit Kindern, etwas zu häufig auffallen mögen‘ (Brauneck [2]).“(ebd., S.23)
Abschließend räumt Hartmann diesen Anomalien zwar eine „Relevanz für das Legalverhalten“ ein, warnt aber vor einer Übergewichtung dieser Relevanz.
Die von Hartmann verglichenen Untersuchungen zum Einfluß des Geschlechts auf dissoziales Verhalten stellen im Ergebnis einhellig fest, daß der Anteil der Jungen 9mal höher liegt als der der Mädchen.
Zur Kategorie des Lebensalters findet sich bei Hartmann folgende Aussage: „Wie die Entwicklung anderer psychopathologischer Phänomene so zeigt auch die Entwicklung der Verwahrlosung bzw. Kriminalität eine Abhängigkeit vom Lebensalter. Die Sittlichkeitskriminalität hat Schwerpunkte im Reifealter und Rückbildungsalter; die Raubkriminalität konzentriert sich auf die Altersklasse der Siebzehn- bis Dreißigjährigen (Nass [2]). Bekannt ist auch die Altersabhängigkeit des Weglaufens (Hildebrand).“ (ebd., S.23)
Zum Einfluß der Konstitution auf Verwahrlosungserscheinungen gibt es zahl- und umfangreiche Untersuchungen, die Hartmann vergleicht. Im Ergebnis kommen alle zu der Erkenntnis, daß am ehesten ein Zusammenhang zwischen dem athletischen Konstitutionstyp und einer Tendenz zur Verwahrlosung herzustellen ist.
„Am überzeugendsten sind indessen die Vergleichsuntersuchungen von S. und E. Glueck [1] (erste Publikation 1950) sowie von Sheldon (erste Publikation 1949). Sie benutzen die Einteilung in Mesomorphe, Ektomorphe und Endomorphe, die etwa der deutschen Einteilung in Athletiker, Leptosome [Schlankwüchsige] und Pykniker [kräftig Gedrungene] entspricht. S. und. E Glueck fanden bei 496 ‚Delinquents‘ 60,1% Mesomorphe, dagegen bei 482 ‚Non-Delinquents‘ nur 30,7% Mesomorphe. Sheldon fand bei 200 Delinquenten 70% Mesomorphe und bei 4000 College-Schülern 43% Mesomorphe (zitiert nach Karrut).“ (ebd., S.24)
Die Ausführungen zu den biologischen Faktoren abschließend, vergleicht Hartmann Untersuchungen verschiedener Autoren zum Einfluß der Vererbung. Zu diesem Sachverhalt sind sich die Autoren nur in einem Punkt einig: Ein Einfluß von Erbfaktoren kann ohne gebührende Berücksichtigung von Umwelteinflüssen für das jeweilige Individuum nicht ermittelt werden.
„Eine weit verbreitete Auffassung wird in folgender Formulierung von Stutte[7] ausgedrückt: ‚Es wurde hier die Bedeutung von Erbeinflüssen diskutiert und auch von wissenschaftlicher Seite darauf hingewiesen, daß wir in dieser Beziehung doch einen Stellungswandel vollzogen haben, indem wir heute nicht mehr der Ansicht sind, daß Kriminalität erblich sei, daß aber natürlich die Bedeutung erblich verankerter, von einer Generation auf die andere übertragener Dispositionen... auch in der sozialen Haltung ein wesentliches Bedingungsmoment für die Delinquenz der Kinder sein könne.‘“ (ebd., S.27)
1.2. Psychologische Erklärungen
Um die psychologischen Faktoren als Ursache für Verwahrlosung in der untersuchten Fachliteratur zu unterscheiden, hat Hartmann drei Richtungen angeführt: den Einfluß von Konflikten, Führungsmängeln und Fürsorgemängeln.
Einige Theorien von Dissozialität verstehen diese nach Hartmann als „Entäußerung von Konflikten“ oder als Bewältigungsstrategie für Probleme.
Dabei können Schuldgefühle eine Rolle spielen. Hartmann führt dazu ein Beispiel von S. Freud an:
„Er berichtete, wie ein Patient aus unbewußten, von ödipalen Konflikten abgeleiteten Schuldgefühlen kriminell wurde, um sich durch Bestrafung zu entlasten.“ (ebd., S.13)
Auch Minderwertigkeitsgefühle können Konflikte auslösen, die zu Dissozialität führen. Hierzu bringt Hartmann ein Beispiel aus Adlers Praxis:
„Er schilderte einen Patienten, der aus Minderwertigkeitsgefühlen gegenüber seiner älteren Schwester Diebstähle beging, damit er ‚den großen Herrn spielen könnte‘.“ (ebd., S.13)
Ein weiterer Auslöser für Dissozialität können mehr oder weniger unbewußte Depressionen sein, die abgewehrt werden sollen, indem sich Verwahrloste durch Abenteuer oder Erregung einen „kick“ verschaffen.
Andere Motive dissozialen Verhaltens findet Hartmann bei Stott beschrieben, der nach einer Befragung von 102 Jungen die häufigsten Gründe wie folgt aufschlüsselte:
- in 55 Fällen den Versuch, die Trennung von den Angehörigen zu erzwingen (...);
- in 53 Fällen den Versuch, Depressionen durch Exzitation und Abenteuer abzuwehren (...);
- in 42 Fällen den Versuch, Aggressionen gegen die Angehörigen abzuführen (...);
- in 21 Fällen den Versuch, Minderwertigkeitsgefühle zu kompensieren (...);
- in 20 Fällen den Versuch, Aufmerksamkeit herauszufordern (...).
(ebd., S.13 f.)
Hartmann stellt abschließend fest, daß besonders dem Punkt 2 der von Stott genannten Gründe Bedeutung beigemessen werden muß, da dieser auch bei anderen Autoren häufig zu finden sei.
Andere Theorien geben dem Faktor des Führungsmangels als Ursache für Verwahrlosung bzw. Kriminalität eine größere Bedeutung. Diesen Theorien liegt die Annahme zugrunde, daß sich Verwahrlosung durch einen Mangel an Erziehung entwickelt. Hartmann führt als Vertreter dieser Theorie Rehm und Aichhorn an.
Eine weitere Hypothese besagt, daß „...der Mensch von Natur aus asozial triebhaft sei. Wer dies annimmt, muß schließen, daß Führungsmängel nicht nur Unerzogenheit, sondern Durchbrüche asozialer Triebhaftigkeit zur Folge haben.“ (ebd., S.14)
Diese Hypothese wird u.a. ebenfalls von Aichhorn vertreten.
Meines Erachtens können diese Theorien nicht als alleinige Erklärung für die Entstehung und Entwicklung von Verwahrlosung herhalten. So stellt Hartmann im Vergleich verschiedener Autoren dann auch fest, daß einer weiteren Theorie ganz entscheidende Bedeutung beigemessen werden muß.
Es ist der Einfluß von Fürsorgemängeln auf die Entwicklung von Verwahrlosung bzw. Kriminalität (vgl. Kap. 2.4. Verlaufsmuster).
Den Grund für diese Annahme sehen die Autoren in dem häufig gestörten Binnenleben der Familie oder ihrer Struktur bei untersuchten Verwahrlosten.
Bei Specht findet Hartmann ein Zitat, welches diese Theorie untermauert. „Wenn wir als gemeinsames Merkmal bei 97% aller männlichen und 96,5% aller weiblichen Probanden die ‚gestörte Familie‘... gefunden haben, so liegt es in der Tat nahe, bei diesem Phänomen auch die Erklärung für die Gemeinsamkeit aller Verwahrlosten zu suchen.“ (ebd., S.14)
Zwar widersprechen andere Autoren dieser Theorie, jedoch krankt deren Erklärung an dem Fakt, daß sie Kriminalität mit Verwahrlosung gleichsetzen.
Die emotionalen Schäden, entstanden durch Fürsorgemängel, werden in der Literatur häufig mit den Begriffen „psychischer Hospitalismus“ und „seelische Inanition“ zusammengefaßt. Hartmann gehen diese Begriffe nicht tief genug an die „Wurzel“. Bei Köttgen findet er ein Zitat, welches eine tiefergreifende Erklärung für die emotionalen Schäden zu geben versucht:
„Wir möchten von Verkümmerung sprechen, da mit diesem Worte in besonders glücklicher Weise Entstehung und Folgen umfaßt werden: Der Kummer als Grundlage des ganzen Geschehens, das sich dann zur körperlichen und seelischen Verkümmerung fortentwickelt.“ (ebd., S.15)
Zur Erklärung der sich dann fortentwickelnden körperlichen und seelischen Verkümmerung sind die Bezeichnungen „Hospitalismus und „seelische Inanition“ allerdings durchaus geeignet.
Hartmann nennt zahlreiche Autoren, die einen Zusammenhang zwischen emotionalen Entbehrungen in der frühen Kindheit und dissozialen Entgleisungen in der späteren Entwicklung hergestellt haben (vgl. Hartmann, S.15). So führt er beispielsweise Abraham, Aichhorn, Spitz und Bowlby an, die in den zwanziger, vierziger und fünfziger Jahren Literatur dazu veröffentlicht haben.
Letztlich kommt Hartmann, ergänzend zu seiner Annahme bezüglich des Einflusses von Führungsmängeln, zu dem Schluß, daß auch die Theorie von Konflikten als Ursache von Dissozialität nicht hinreichend Erklärung für eine Entwicklung eben dieser bieten kann. Sie reicht allenfalls zur Begründung einzelner Verhaltensweisen.
1.3. Soziologische Erklärungen
Auch bezüglich soziologischer Theorien lassen sich drei wesentliche Einflußbereiche unterscheiden. Diese sind die Einflüsse durch ungünstige Vorbilder, ungünstige Verhältnisse und durch Etikettierung.
Die Theorie der ungünstigen Vorbilder wird genährt aus Untersuchungen zum Einfluß der Nachahmung von Verhaltensweisen, die so bewußt oder unbewußt erlernt werden.
Vorwiegend werden dabei aber kriminogene Einflüsse untersucht. Somit werden mit diesen Untersuchungen nur Teilbereiche der Verwahrlosten erfaßt. Dies bedeutet allerdings nicht, daß Nachahmungslernen nur auf kriminelle Verhaltensweisen beschränkt ist. Im Gegenteil stellt dieser Bereich nur einen kleinen Ausschnitt der bewußten (imitativen) und unbewußten (suggestiven) Nachahmung dar.
„Psychoanalytiker sprechen von Identifikation, Bandura und Walters bezeichnen es als ‚Beobachtungslernen‘, aber beide Begriffe meinen etwas ähnliches. ‚Beide Begriffe beziehen sich ... auf dasselbe Phänomen im Verhalten, nämlich die Tendenz eines Individuums, Handlungen, Einstellungen oder emotionale Reaktionen zu reproduzieren, die von symbolisierten oder realen Modellen gezeigt werden‘“ (ebd., S.16)
Als Paradebeispiel für einen imitativen Lernprozeß nennt Hartmann die Ausbreitung des Drogenkonsums in den sechziger Jahren in Europa. Er schreibt dazu:
„Die sprunghafte Ausbreitung des Drogenkonsums war nicht durch eine sprunghafte Veränderung individueller Charakterstrukturen, sondern offenbar nur durch eine sprunghafte Veränderung kollektiver Verhaltensmodelle, eben als Modephänomen, erklärbar. ... Diese ‚Epidemie‘ zeigte deutlich, daß kollektive Vorbilder nicht nur auf die Kleidung, sondern auch auf das Sozialverhalten und nicht nur auf Einzelne, sondern auch und gerade auf Massen einen ganz entscheidenden Einfluß ausüben.“ (ebd., S.17)
Zum Einfluß ungünstiger Verhältnisse auf die Entwicklung von Verwahrlosung verweist Hartmann auf zahlreiche Publikationen anderer Autoren.
Einer von ihnen ist Merton „..., welcher die Diskrepanz zwischen kulturellen Erwartungen und sozialstrukturellen Chancen als wesentliche Bedingung der Anomie behauptet: ‚... Wenn die kulturelle und soziale Struktur schlecht integriert sind, wenn die erstere Verhalten und Einstellungen verlangt, die die zweite verhindert, dann folgt daraus eine Tendenz zum Zusammenbrechen der Normen, zur Normlosigkeit.‘“ (ebd., S.18)
Mit diesem von Merton beschriebenen Zustand mangelhafter gesellschaftlicher Integration, die der Entwicklung von Verwahrlosung Vorschub leisten kann, haben sich auch Eberhard und Kohlmetz in einer Studie beschäftigt, über die Hartmann ausführlicher schreibt. Es handelt sich dabei um eine Untersuchung zur „Sozial- und Wirtschaftsordnung als Ursache von Verwahrlosung und Kriminalität“.
Anhand von Thesen wird geprüft, inwieweit Theorien
„..., nach denen Dissozialität aus der Klassenteilung, dem Kapitalismus, der Leistungsorientierung, der Unterschichtsituation, der Familiendesintegration entsteht.“ (ebd., S.18)
Im Ergebnis dieser Untersuchung ist für Eberhard / Kohlmetz ein signifikanter Unterschied nur im Vergleich von Unterschichtkindern aus stark gestörten Familienverhältnissen mit Unterschichtkindern aus weniger stark gestörten Familienverhältnissen deutlich geworden.
Die These: Dissozialität wird durch Klassenteilung bestimmt!, konnte empirisch nicht überprüft werden, da alle bisherigen Gesellschaften Klassengesellschaften waren.
Alle anderen Thesen wurden durch die Untersuchung nicht bestätigt.
Dieses Ergebnis, das die Bindungstheorie voll bestätigt, läßt den Schluß zu
„..., daß die Familientheorie in der gleichen Prüfsituation weitaus treffendere Voraussagen ermöglicht als die Unterschichttheorie.“ (ebd., S.19)
Diese Auffassung teilen dennoch nicht alle Autoren. Hartmann nennt hier u.a. Ahlheim als einen Vertreter der Unterschichttheorie.
Er sieht die Familiensituation und seine Auswirkungen auf das Individuum lediglich als
„...ein Vermittlungsglied zwischen gesellschaftlichen Widersprüchen, Klassenlage und individueller Genese bestimmter Verhaltensmuster.“ (ebd., S.19)
Auch den Soziologen und Psychoanalytiker Moser führt Hartmann als Sympathisant der Unterschichttheorie an und zitiert ihn wie folgt:
„Die Mythologie des individuellen Defekts erweist sich ... als die pure Ideologie. Kriminalität ist ein sozialer Defekt, der sich, über die Agentur der Familie, zielsicher seine ‚Opfer‘ sucht: an der sogenannten Basis unserer Gesellschaftspyramide.“ (ebd., S.20)
Hier wird der Familiensituation nur eine Vermittlerrolle und der Unterschichtsituation die Hauptverantwortung für die Entwicklung von Dissozialität zugeschrieben.
Einige Autoren stellen eine Verbindung zwischen ungünstigen Vorbildern und ungünstigen Verhältnissen für die Entwicklung von Dissozialität her.
So nennt Hartmann die „...Chancenstrukturtheorie von Cloward und Ohlin...“ und zitiert ersteren, der „...durch die Verbindung von Annahmen, die den Zugang zu sowohl legitimen wie auch illegitimen strukturell differenzierten Zugangschancen betreffen, eine Grundlage zur Synthese verschiedener Traditionen soziologischen Denkens über abweichendes Verhalten geschaffen...“ habe. (ebd., S.20)
Das heißt, ungünstige Verhältnisse können zu einer stärkeren Orientierung an ungünstigen Vorbildern führen. Die Orientierung an ungünstigen Vorbildern kann ungünstige Verhältnisse hervorrufen und zu einer Entwicklung von Dissozialität führen.
Letztlich bleibt die Frage offen, weshalb nur ein zumeist kleiner Teil der Betroffenen eine dissoziale, kriminelle oder verwahrlosende Entwicklung nimmt.
Hierzu gibt es von verschiedenen Autoren Vermutungen, die sich in zwei Hauptpositionen manifestieren: Eine Position sieht die Disposition in individuellen Problemen, die andere in individuellen Defiziten des Betroffenen.
Zum Einfluß der Etikettierung auf die Entwicklung von Dissozialität bezieht sich Hartmann auf einen Beitrag von Sack, der Kriminalität als ein Resultat bestimmter Zuschreibungsprozesse sieht.
Es sei so, „daß jemand, der diesen sozialen Situationen entstammt [gemeint sind Unterschichtzugehörigkeit und/oder ungünstige Familiensituation] , damit rechnen muß, daß sein Verhalten eine größere Wahrscheinlichkeit in sich trägt, von anderen, insbesondere aber von den Trägern der öffentlichen sozialen Kontrolle, als abweichend bzw. kriminell definiert zu werden...“ (ebd., S.21)
Diese Theorie würde die Einflüsse ungünstiger Verhältnisse und Vorbilder völlig in Frage stellen und der „öffentlichen Meinung“ über bestimmte gesellschaftliche Schichten und Familienverhältnisse den Vorrang für die Entwicklung von Dissozialität geben.
Gegen diese Herangehensweise wendet sich u.a. Moser, der von Hartmann wie folgt zitiert wird:
„Es wäre absurd, den ...,Prozeßcharakter‘ der Definition, Selektion, Verfolgung, Abstempelung und Verurteilung, also der Rollenzuweisung von Kriminellen, zu leugnen. Nur muß festgehalten werden, daß diese Prozesse der Zuweisung in den meisten Fällen ‚Besiegelungs‘-Vorgänge sind, denen Entfaltungs- bzw. Deformationsprozesse lebensgeschichtlicher Art vorausgegangen sind...“ (ebd., S.22)
Moser sieht die Etikettierung also als ein verstärkendes Moment in der Entwicklung von Dissozialität, Kriminalität und Verwahrlosung durch den Einfluß von ungünstigen Vorbildern oder Verhältnissen.
Bilanzierend stellen die Eberhards zur Kausalität der Verwahrlosung in ihrem Erfahrungsbericht fest:
„...wurden verschiedene ätiologische Konzepte empirisch verglichen mit dem Ergebnis, daß sich die Deprivationstheorie im Sinne von Bowlby, Spitz und Ainsworth am besten bewährte, die die Lieblosigkeit und Vernachlässigung, oft verbunden mit groben Mißhandlungen, als die wichtigsten Determinanten früher Depressionen und späteren Sozialversagens herausstellt (vgl. Eberhard u. Kohlmetz, 1973).“ (Eberhard, G. u. K., 2000 S.17)
III. Behandlung der Verwahrlosung 1. Geschichte der Reaktionen
Da sich mein Erkenntnisinteresse bezüglich der Verwahrlosung auf die Kinder und Jugendlichen bezieht, die von der öffentlichen Jugendhilfe in Pflegefamilien vermittelt wurden, werden ich in diesem Abschnitt die Geschichte des Pflegekinderwesens dargestellt.
Grundsätzlich darf davon ausgegangen werden, daß es Pflegekindschaftsverhältnisse immer gegeben hat, wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung. Die Versorgung verwaister Kinder war zunächst überall Aufgabe der Sippe.
„Nach germanischem Rechtsbrauch galt z.B. der nächste männliche Blutsverwandte aus der Sippe des Kindesvaters als ‚geborener‘ Vormund des Waisenkindes. Gab es keinen solchen, übernahm der Stammes- oder Sippenführer, gegebenenfalls der König, die vormundschaftliche Aufsicht. Die Erziehung lag in den Händen einer Amme.“ (Heitkamp, 1995 S.19)
Im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung waren differenzierte soziale Einrichtungen für Kinder und Jugendliche weitgehend unbekannt. Die Betreuung von Waisenkindern blieb, nicht zuletzt aus erb- und vermögensrechtlichen Gründen, in den Händen der eigenen Sippe.
Erst nach Beginn des zweiten Jahrtausends unserer Zeitrechnung wird von Findelhäusern nach der gravierenden Zunahme von Kindesaussetzungen berichtet. Die Kinder wurden in diesen Findelhäusern aufgenommen, um sie dann überwiegend in Familienpflege zu vermitteln. Die Pflegefamilien erhielten für ihren Betreuungaufwand in einigen Städten eine einmalige Abfindung, in anderen ein geringes jährliches Ziehgeld.
„Am Ende des 17. Jahrhunderts setzte eine Welle von Waisenhausneugründungen ein, die wesentlich auf zwei Entwicklungsströme zurückzuführen ist: die Pietistische Bewegung sowie die sich durchsetzende merkantilistische Wirtschaftsauffassung. Die Pietisten, eine damals fundamentalistische protestantische Bewegung, widmete sich den streunenden Kindern und Jugendlichen, um sie ‚vor den Bedrohungen der Straße und drohender Verwahrlosung' zu bewahren. ... Zur selben Zeit vollzog sich der Wandel von einer reinen Agrarwirtschaft zur Manufakturwirtschaft.
“... Beide Strömungen, die pietistisch orthodoxe Anstaltsfürsorge und die aus dem Merkantilismus resultierende Neubewertung menschlicher Arbeitskraft, ergänzten sich in nahezu idealer Weise. Einigen Waisen-, Zucht, und Arbeitshäusern wurden eigene Produktionsstätten angegliedert, andere vermieteten ihre Insassen gegen eine Jahrespauschale vornehmlich an Tuch- und Strumpffabriken.“ (ebd., S.21)
Diese extreme Ausbeutung der kindlichen Arbeitskraft blieb bis ins 18. Jahrhundert hinein kombiniert mit der beschriebenen Anstaltsfürsorge unter oft sehr schlechten Lebensbedingungen. In der Mitte des Jahrhunderts führte die Situation zu einer Kampagne, die die Vor- und Nachteile der Waisenhaus- und Pflegefamilienerziehung, unter Hinweis auf die hohe Sterblichkeitsrate in Waisenhäusern und die schlimmen Auswüchse der Kinderarbeit, zur Diskussion stellte.
„Ihr Ergebnis war, daß letztere, trotz eines inzwischen brüchig gewordenen Familienideals, zum ‚einzig vernünftigen Institut‘ der Ersatzerziehung aufgewertet wurde. Mehrere Städte sahen sich genötigt, ihre Heime aufzulösen und die Kinder in Pflegefamilien zu vermitteln.
“Aber bereits ein Jahr später mußten die meisten die eben erst geschlossenen Häuser wieder öffnen, weil die Kinder aus den Pflegestellen wegliefen und um Aufnahme bittend vor den Waisenhäusern standen.“ (ebd., S.22)
Wenn auch die Motive damals wie heute für die Aufnahme eines Pflegekindes sehr unterschiedlich sind, so ist doch unschwer zu erkennen, daß bis zum beginnenden 20. Jahrhundert in erster Linie auf die mögliche Arbeitskraft des Kindes abgestellt wurde. Pflegekinder galten als eine zusätzliche Quelle zur Existenzsicherung insbesondere für arme Familien in den Städten und für Bauernfamilien.
Langfristig gesehen hat sich der beschriebene Waisenhausstreit vorteilhaft auf das Pflegekinderwesen und die Anstaltserziehung ausgewirkt. Für Pflegefamilien wurde die behördliche Aufsichtsstruktur verbessert und erweitert.
„An der Schwelle zum 20. Jahrhundert galten in den Staaten Bayern, Württemberg, Hessen, Sachsen-Weimar und Sachsen-Altenburg landesgesetzliche Regelungen zum ‚Kinderhaltewesen‘ – auch Armen- und Kostkinder genannt. In den Ländern Preußen und Baden regelten örtliche Polizeiverordnungen das Pflegekinderwesen, die eine ‚Haltegenehmigung‘ von der Erfüllung zahlreicher Pflichten abhängig machten. Den Vollzugs- und Kontrollbeamten wurde die Befugnis eingeräumt, jederzeit die Wohnungs-, Ernährungs- und Pflegesituation vor Ort überprüfen zu können. Zahlreiche Städte delegierten diese Kontrollfunktion auf Vereine der Wohlfahrtspflege, insbesondere Frauenvereine.
Der Badische Frauenverein, der Sächsische Albertverein, der Württembergische Olgaverein und als örtliche Vereinigungen der ‚Verein zur Fürsorge für Ziehkinder‘ in Bonn, der ‚Aufsichtsverein für Kostkinder‘ in Breslau oder der ‚Kleinkinder-Rettungsverein‘ in Stuttgart waren nur einige, die diese Arbeit durchführten. Wenige Städte griffen zusätzlich zu vormundschaftlichen Regelungen So standen z.B. sämtliche Haltekinder in Leipzig unter der Generalvormundschaft des Armenamtes.“ (ebd., S.25 f.)
Während des Naziregimes und in der Nachkriegszeit sank das Pflegekinderwesen bis zur Bedeutungslosigkeit ab. Die Heime waren, wie viele Städte, durch den Bombenterror zerstört oder beschädigt. Die Menschen waren in der Kriegs- und Nachkriegsnot hinreichend damit belastet, ihre eigenen Familien durchzubringen und verfügten kaum über Voraussetzungen, ein Pflegekind aufzunehmen.
Auch in der DDR hatte das Pflegekinderwesen kaum eine Bedeutung.
„In der Jugendfürsorge betrug das Verhältnis von Heimerziehung zur Pflegefamilienerziehung etwa 90 Prozent zu 10 Prozent zugunsten der Heimerziehung. Bei den wenigen bestehenden Pflegeverhältnissen handelte es sich zudem überwiegend um Verwandtenpflege. Pflegeverhältnisse gingen oft mit Sorgerechtsentziehungen einher.“ (ebd., S.28)
In der Bundesrepublik kam dem Pflegekinderwesen bis zum Einsetzen der sogenannten „Heimkampagne“ Ende der sechziger Jahre ebenfalls kaum Bedeutung zu.
Danach veränderte sich die Situation radikal.
„Unter dem Einfluß der in Fachkreisen intensiv diskutierten und in den Medien ausgiebig beschriebenen skandalösen Zustände in vielen Fürsorgeerziehungsheimen und weil die zutage getretenen schweren Mängel in der Heimerziehung in kurzer Zeit nicht zu beheben waren, eine Entspannung in der öffentlichen Diskussion aber politisch geboten erschien, erfuhr die Pflegefamilienerziehung als ‚ökonomisch vertretbare, pädagogisch sinnvolle und politisch legitimationsstarke Alternative zur Heimerziehung‘ (Fünfter Jugendbericht 1980, 157) eine unerwartet hohe Aufwertung.
Die Pflegekinderdienste der Jugendämter wurden zu Beginn der siebziger Jahre rasch ausgebaut und in der Erwartung, über schnelle Erfolge im Pflegekinderwesen die für die gesamte öffentliche Jugendhilfe abträgliche Heimkritik beenden zu können, personell und materiell zunächst gut ausgestattet.
“... In den siebziger Jahren erfolgte erstmals eine Ausdifferenzierung des Pflegekinderwesens. Neben den traditionellen, lediglich in Dauer und Umfang unterschiedlichen Grundformen (Dauer- bzw. Vollzeitpflege, Wochen- und Tagespflege sowie Kurzzeitpflege) etablierten sich qualitativ unterschiedliche neue Formen (Heilpädagogische bzw. Sonderpädagogische Pflegestellen, Erziehungsstellen, Pflegenester) zur Aufnahme von Kindern mit besonderem Betreuungsbedarf.“ (ebd., S.28 f.)
Das Pflegekinderwesen unterlag in seiner Geschichte weit mehr als die Heimerziehung einer diskontinuierlichen Entwicklung, war dabei aber selten gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt und wurde durchweg positiv dargestellt, wenn auch zeitweise mit fragwürdigen Argumenten. Die wesentlichen Ursachen hierfür liegen in der kostengünstigen Betreuung fremdplazierter Kinder, in der Möglichkeit diese Kinder ohne ernstzunehmende Gegenwehr für bevölkerungs- und nationalpolitische Interessen einzusetzen und nicht zuletzt in der idealisierenden Sicht der heilenden Kraft der Familie.
2. Reaktionen der Gesellschaft 2.1. Pädagogische und therapeutische Reaktionen
Die Behandlung der Verwahrlosung muß wie die jeder anderen Störung auf deren speziellen Charakter abgestimmt werden. Da es sich bei der Verwahrlosung zumeist um eine psychische Störung handelt, die, entstanden aus emotionalen Frustrationen in der frühen Kindheit, als Erziehungsrückstand zutage tritt, wird in der Regel auch eine hauptsächlich psychologische Behandlung angezeigt sein.
Dies bedeutet nicht, daß die Behandlung der Verwahrlosung nur durch Psychologen zu bewerkstelligen bzw. ausschließlich deren Aufgabe wäre. Vielmehr impliziert diese Aussage, daß dem psychischen Defizit, welches sich in andauernder mangelnder Bindungs- und Belastungsfähigkeit äußert, das besondere Augenmerk der am Behandlungsprozeß Beteiligten gebührt.
Bei der Komplexität des Erscheinungsbildes der Verwahrlosung wird eine Reihe pädagogischer und therapeutischer Hilfen angezeigt sein, um zu einem Behandlungserfolg kommen zu können.
Da sich die beiden Hilfearten in vielen Aspekten durchdringen und die einzelnen Formen der Hilfe daher zum Teil beiden zugeordnet werden können, wird im folgenden auf die strikte Unterscheidung pädagogischer und therapeutischer Hilfen verzichtet.
Hartmann nennt eine Auswahl an Hilfeformen. Eine der genannten Hilfen ist die „informatorische Hilfe“, die eine grundlegende Bedeutung für die Behebung des Informationsdefizites hat, daß durch die gestörte Sozialisation entstanden ist.
Die Resozialisierung muß „...häufig mit einem Informationsnachtrag beginnen, mit Aufklärung, Unterweisung, Unterrichtung, insbesondere in Ausbildungs- und Arbeits-, Sexual- und Partnerschaftsproblemen. Manchmal geht es auch um ganz banale Dinge, wie den Gebrauch von Messer und Gabel oder den Umgang mit Formularen.“ (Hartmann, 1977 S.136 f.)
Als eine weitere Hilfeform folgt die „analytische Hilfe“, bei der Hartmann vor allem der Deutung, einem Element aus der Psychoanalyse, eine Erfolgschance bei der Behandlung Verwahrloster zuspricht. Sie kann den „Behandelnden“ helfen, den Ursachen einzelner Reaktionen oder Handlungen des Verwahrlosten näher zu kommen.
Die nächste von Hartmann genannte Hilfeform ist die „kompensatorische Hilfe“. Dabei geht es um eine Änderung des Verhaltens im weitesten Sinne.
„Für das soziale Lernen sind besonders relevant: Das Bekräftigungslernen (Lernen durch Belohnung oder Bestrafung), das Beobachtungslernen (Lernen durch Imitation) und das Übungslernen (Lernen durch Übung). Recht besehen erfolgt in jedem Erziehungs- und Behandlungsprozeß ein Lernen durch Bekräftigung (der Klient lernt dadurch, daß er durch seinen Mentor positive oder negative Sanktionen seines Verhaltens erfährt), ein Lernen durch Identifikation (der Klient lernt dadurch, daß er seinen Mentor beobachtet) und ein Lernen durch Übung (der Klient lernt dadurch, daß er neue Verhaltensweisen praktiziert und repetiert).“ (ebd., S.137)
Bei dieser Form der Hilfe mißt Hartmann der Ausbildung und Arbeit besondere Bedeutung bei, da in diesen Prozessen spezielle Fertigkeiten und Kenntnisse erworben und/oder nach-erworben werden können und die Belastungsfähigkeit in besonderer Weise entwickelt werden kann. Ausbildung und Arbeit bieten darüber hinaus die Möglichkeit, Bindungen zu Menschen, mit denen etwas erarbeitet wird und zu den selbst geschaffenen Werten herzustellen.
Die „kathartische Hilfe“ ist eine weitere Hilfeform, die darauf abzielt, vor allen anderen Hilfsangeboten erst einmal „den Emotionen freien Lauf“ zu lassen. Hintergrund dieser Hilfeform ist der Gedanke, daß den Verwahrlosten andere Angebote nicht erreichen können, solange er nicht die Möglichkeit hat, seinen momentan bestehenden „emotionalen Stau“ abzureagieren.
Auch der „affirmativen Hilfe“ kommt eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu, da sie dem Verwahrlosten den ehrlichen Umgang mit emotionaler Zuwendung näher bringen soll.
„Weil der verwahrloste Jugendliche ein entmutigter Jugendlicher ist, braucht er indessen sehr viel Ermutigung. Doch ist seine Reaktion auf affirmative Hilfen oft widersprüchlich. Wie der Frosch im Märchen vom Froschkönig steigert er seine Ansprüche, zum einen um den Therapeuten zu weiteren Bestätigungen herauszufordern, zum anderen aber oft auch um den Therapeuten zum Abbruch der Behandlung zu bewegen. Denn der Verwahrloste ist in der Regel so sehr in bezug auf Bindungen verunsichert worden, daß er Bindungsangebote zu sabotieren neigt, um weitere Frustrationen zu vermeiden." (ebd., S.139)
Als nächste beschreibt Hartmann die „perspektivische Hilfe“, die auf das Geben einer neuen Orientierung für den Verwahrlosten ausgerichtet ist. Diese ist vor allem für diejenigen bedeutungsvoll, deren Störungen durch eine Fehlorientierung in ihrer Entwicklung hervorgerufen wurden.
Hartmann schreibt dazu: „Diese Form der Hilfe ist umstritten. Manche akzeptieren zwar die politische, aber nicht die religiöse Unterweisung. Andere verwerfen jede Unterweisung als Indoktrination. Die Faszination, die Ideologien auch heute noch zu akkumulieren vermögen, spricht indessen dafür, daß das Bedürfnis nach perspektivischen Hilfen ein Urbedürfnis des Menschen ist, daß also auf perspektivische Aufklärung nicht verzichtet werden kann.“ (ebd., S.139)
Er beschreibt beispielsweise den Einfluß von Exusern bei der Behandlung von Drogenabhängigen, denen „ein besonderes Überzeugungsvermögen attestiert“ wird, weil deren Argumente von den Abhängigen meistens freundlicher entgegengenommen werden als die der professionellen Helfer (vgl. S.139).
Abschließend nennt Hartmann die „gruppendynamische Hilfe“, zu der er anmerkt, daß diese Form der Hilfe, die auf das Lernen in der Gruppe, also die Gruppenarbeit, abzielt, methodisch schwer zuzuordnen ist. Alle bisher genannten Hilfeformen sind sowohl für die Einzel- als auch für die Gruppenarbeit geeignet.
Also muß die Gruppenarbeit durch ein Merkmal charakterisiert sein, welches eine Extranennung rechtfertigt.
Dieses Merkmal ist die Gruppendynamik. Sie entsteht durch die Interaktion der Gruppenmitglieder untereinander, die logischerweise in der Arbeit mit dem Einzelnen keine Rolle spielt.
„In der ‚Gruppendynamik‘ schließt sich der Patient nicht nur dem Therapeuten, sondern allen Gruppenmitgliedern auf; in der ‚Gruppendynamik‘ erlebt der Patient daher viel mehr Isolationsdrohung, die sehr deprimiert, und viel mehr Solidarisierungsverheißung, die sehr euphorisieren kann." (ebd., S.140)
Natürlich besteht bei einer solchen Form der Arbeit auch die Gefahr des Mißbrauchs durch „Gehirnwäsche, ... [und] Manipulation“ (vgl. S.140). Insofern sieht Hartmann auch Probleme bei der ethischen Zuordnung der Gruppenarbeit und nennt die Autoren Bauer und Willeke, die sich mit diesem Negativimage der Gruppendynamik befaßt haben.
Im Sinne dieser Arbeit sind aber die positiven Wirkmechanismen der Gruppendynamik gemeint. Daher wird auf die Kritik an der Gruppenarbeit nicht näher eingegangen.
Eine weitere Reaktionsform auf Verwahrlosung findet sich in der Literatur unter dem Begriff „Behavioral Contracting“, was allgemein übersetzt soviel bedeutet wie Verhaltensverträge schließen.
Eine mangels hinreichender Übereinstimmung in den Definitionen angeführte lautet: „Behavioral Contracting ist die vertraglich festgelegte Verknüpfung von bestimmten Verhaltensweisen mit bestimmten Konsequenzen.“ (Badura, 1978 S.189)
Dieses Verfahren zielt darauf ab, durch gemeinsame Vereinbarungen zwischen Klient und Sozialarbeiter Verhaltensänderungen des Klienten zu erreichen. Im Gegenzug bietet der Sozialarbeiter eine Leistung an, die der Klient im Erfüllungsfalle zu erwarten hat. Die Vereinbarungen werden schriftlich festgehalten.
Im Ergebnis einer Untersuchung von Badura, Battermann, Eberhard und Kohlmetz konnte in einer Heimgruppe eine deutliche Änderung aktualreaktiven Verhaltens festgestellt werden. Eine langzeitige Verhaltensänderung im Sinne einer Disposition konnte mit der Methode des Behavioral Contracting hingegen nicht erzielt werden.
Einige der von Badura et al. herausgearbeiteten Vorteile für die professionelle Arbeit mit Verwahrlosten werden im folgenden aufgezählt:
- Der Kontrakt ist durch seine prägnante, übersichtliche Form ein ausweisbares Dokument sozialpädagogischer Verhandlungsarbeit....
- Er ist wegen seiner Verbindung von rechtlicher Form und psychologischem Inhalt von niemandem kompetenter zu gestalten als vom Sozialarbeiter.
- Er ist wegen seiner schriftlichen und übersichtlichen Form wesentlich besser kommunikabel als zum Beispiel die Beratungsgespräche der sogenannten formlosen Betreuung.
- Er ist relativ unabhängig von der Person des einzelnen Sozialarbeiters und deshalb objektiver als die klassischen Methoden der Sozialarbeit.
- Wegen der Austauschbarkeit des Kontrakt-Maklers kann trotz der Mobilität der Sozialarbeiter und Klienten eine hinlängliche Kontinuität gesichert werden....
- Der Klient kann sich besser auf Vereinbarungen berufen; seine rollenbedingte Unterlegenheit wird partiell abgebaut....
- Die schriftliche Gestaltung der Kontrakte erlaubt Vergleiche und einen praxisbegleitenden kollektiven Lernprozeß zur pragmatischen Hauptfrage, welche Verträge bei welchen Klienten in welchen Situationen geschlossen werden sollten. (ebd., S.198 f.)
2.2. Präventive Reaktionen
Es gibt zwar einige Konzepte bzw. Konzeptvorschläge, welche präventiven Maßnahmen gegen die Verwahrlosung zu ergreifen wären, doch ist deren Durchsetzbarkeit von vielen Faktoren abhängig.
Dazu gehören u.a.:
- der jeweils aktuelle Staatshaushalt für präventive Maßnahmen,
- die gesetzliche Grundlage und
- die innerfamiliäre Situation der zu behandelnden Familien.
Allzu häufig wirken diese Faktoren als Hemmnis für geeignete präventive Strategien. Dennoch werden hier die Vorschläge und Konzepte einiger Autoren vorgestellt.
Schmalohr hat sich nicht speziell zu verwahrlosten Kindern geäußert. Dennoch könnten seine Vorschläge zu „Vorbeugende[n] Maßnahmen einer Psychohygiene der frühen Kindheit“ als Denkanstoß für die Arbeit in verwahrlosten Familien dienen:
„...Es soll auch nichts dagegen gesagt sein, daß in den Fällen von konfliktgeladenen Mutter – Kind – Beziehungen aus therapeutischen Gründen einmal eine Trennung von der Mutter angezeigt sein kann (Howells 1963). Abgesehen von solchen Indikationen zur Abwendung größerer Übel ist aber der Akzent auf eine strikte Vermeidung von frühen Mutterentbehrungen zu legen. ...“ (Schmalohr, 1968 S.124)
Für diese Position sprechen Punkt 1, da auf den Staat kaum Kosten zukommen und Punkt 2, da das Aufwachsen in der leiblichen Familie ohnehin oberstes Ziel der Gesetzgebung ist. Problematisch kann es bei der Berücksichtigung des Punktes 3 werden, denn wie im Unterkapitel „Epidemiologie“ bereits geschildert, leben zumeist die Kinder in verwahrlosenden Verhältnissen, deren Eltern in ähnlichen Familien aufgewachsen sind. Die „konfliktgeladenen Mutter-Kind-Beziehungen“ werden sich also in diesen Familien häufen.
Immer wieder betont Schmalohr, wie wichtig Körperkontakte und liebevolle Zuwendung für die Kinder sind und schreibt dazu:
„...Was den Körperkontakt und die hautnahe Wärme der Mutter angeht, gibt es besonders im ersten halben Jahr kaum die Gefahr, ein Kind zu verwöhnen. In dieser Zeit ist die Berührung mit der Mutter vielmehr der einzige Zugang zur Welt. ...“ (ebd., S.126)
Ausgehend von Kindern in verwahrlosenden Verhältnissen wird diesem für Kinder lebenswichtigen Aspekt in keinem der drei genannten Punkte ausreichend Rechnung getragen.
Zwar besteht für Eltern von Säuglingen und Kleinkindern ein staatlich finanziertes Angebot der Beratung und gegebenenfalls Unterstützung. Insofern wurde den ersten beiden Punkten Rechnung getragen. Jedoch wird wieder Punkt 3 als Hemmnis auftreten, da verwahrlosende Eltern derartige Angebote in der Regel nicht in Anspruch nehmen werden, denn eine Verpflichtung dazu besteht nicht.
Als nächste präventive Maßnahme nennt Schmalohr die „Hilfen für alleinerziehende und berufstätige Mütter“. In diesem Punkt hat sein Kapitel zwar teilweise an Aktualität verloren, denn zumindest für das erste Lebensjahr ist gesetzlich und finanziell für Mutter und Kind gesorgt. Dann treten jedoch auch hier die Schwierigkeiten insbesondere verwahrlosender Eltern zutage.
Häufig sind diese alleinerziehenden Frauen arbeitslos oder schlecht bezahlt und mit der alleinigen Verantwortung für Beruf und Kind(er) überfordert. Und auch in diesem Fall gibt es lediglich ein staatlich finanziertes, freiwilliges Angebot zur Beratung und Unterstützung durch das Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG).
Auch „Adoption und Pflegekinderwesen“ werden von Schmalohr als eine präventive Maßnahme vorgeschlagen.
Er schreibt dazu: „...gehen ihre [der Mütter] und die Bemühungen der Sozialfürsorge dahin, das Kind in die individuelle Betreuung einer Pflegemutter zu geben oder gar eine Adoption in die Wege zu leiten. ...“ (ebd., S.134)
Selten ist aber eine Mutter schon vor oder unmittelbar nach der Geburt soweit, daß sie ihr Kind freiwillig in fremde Obhut gibt. Der finanzielle und rechtliche Rahmen für derartige Maßnahmen ist aber auch heute gegeben.
Und obwohl auch Schmalohr schon damals bestätigen konnte „..., daß die Adoptiv- und Pflegekinder bei einer stabilen Eingliederung in eine Familie wesentlich günstigere Lebenschancen erhalten.“ (ebd. S.134),
ist mit dem seit 1990 in Kraft getretenen KJHG verstärkt allen erhaltenden Maßnahmen für die Ursprungsfamilie der Vorrang vor Fremdunterbringung gegeben worden.
In der Praxis wird die Erhaltung der Ursprungsfamilie auf dieser gesetzlichen Grundlage von Sozialarbeitern, Sozialpädagogen, Richtern und anderen involvierten Fachkräften selbst dann sehr ernsthaft verfolgt, wenn aufgrund der familiären Zusammenhänge abzusehen ist, daß ein Verbleib des(r) Kindes(r) seiner (ihrer) Entwicklung eher hinderlich als förderlich ist.
Auf der Grundlage dieser Erkenntnis entstand die Konzeption des Intensivpädagogischen Programms (IPP) als eine Form der Prävention gegen die Manifestierung von Verwahrlosungsmerkmalen.
„...Die eigentlich gebotene Primärprävention (Vermittlung der gefährdeten Kinder in Pflege- und Adoptivfamilien kurz nach der Geburt) war uns aus guten rechtlichen Gründen verwehrt, also beschlossen wir, es mit der Sekundärprävention (Intervention vor Chronifizierung der asozialen bzw. antisozialen Persönlichkeitsstörungen) zu versuchen.“ (Eberhard, G. und K., 2000 S.18)
Diese Form der Prävention bietet offenbar einen recht vielversprechenden Arbeitsansatz, um Verwahrlosungserscheinungen entgegenzuwirken (vgl Kap. 2.5. Prognose).
IV. Resümé
Das Problemfeld der Verwahrlosung wurde nach dem Eberhardschen erkenntnistheoretischen Prinzip (vgl. Eberhard, K., 1999) in drei Abschnitte unterteilt. Diese Unterteilung ermöglicht eine systematische Annäherung an die Komplexität des Begriffes.
Beginnend mit einer Begriffsanalyse, die sowohl die Herkunft des Wortes als auch seine heutige Anwendung klärt, werden im ersten Abschnitt Merkmale und Merkmalssyndrome der Verwahrlosung beschrieben. Daran schließt sich eine kurze Sequenz über deren Ausbreitung in der Gesellschaft an. Es folgen eine ausführliche Darstellung des Verlaufes von Verwahrlosung sowie prognostische Aussagen zur weiteren Entwicklung von Verwahrlosten.
Der zweite Abschnitt ist ausschließlich der Ursachenforschung zum Thema Verwahrlosung gewidmet. Hier erfolgt wiederum eine Unterteilung in biologische, psychologische und soziologische Erklärungsmodelle.
Der dritte Abschnitt wird eingeleitet durch einen geschichtlichen Exkurs über die Entwicklung des Pflegekinderwesen als eine Reaktionsform auf Verwahrlosung und setzt sich dann fort in der Darstellung möglicher Behandlungsmethoden und Präventionsmaßnahmen.
weiter zu Teil 2
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