FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2001

 

’Bonding’ und ’Attachment’ bei mißhandelten Kindern

Folgen von emotionaler Vernachlässigung in der Kindheit

Bruce D. Perry, M.D., Ph.D. (Sept. 99)

(englisches Original in: childtrauma.org, s. Kontaktadressen und Forum/Archiv)

 

Vorbemerkung: Perry’s Beobachtungen und Empfehlungen entsprechen in allen Einzelheiten unseren Erfahrungen im Intensivpädagogischen Programm der AGSP. Ferner ist seine begriffliche Diffrenzierung zwischen ATTACHMENT und BOND sehr hilfreich: Attachment meint positive Liebesbindungen; Bond umfaßt positive und pathologische Bindungen (z.B. Opfer-Täter-Fixierungen), die von unerfahrenen Richtern und Jugendamtsmitarbeitern oft zur Begründung von Verbleibens-, Rückkehr- oder Umgangs-Anordnungen herangezogen werden. In einem späteren und vielbeachteten Aufsatz hat Perry über die alarmierenden hirnphysiologischen und hirnanatomischen Defekte nach Vernachlässigung, Mißhandlung und Mißbrauch referiert (vgl. Violence and Childhood).
K.E. (März 01)


Einleitung

Die wichtigste Eigenschaft eines Menschen ist die Fähigkeit, Beziehungen zu anderen Menschen zu bilden und zu erhalten. Diese Beziehungen sind für jeden von uns absolut notwendig, um zu überleben, zu lernen, zu arbeiten, zu lieben und sich fortzupflanzen. Zwischenmenschliche Beziehungen haben viele Formen, aber die intensivsten, angenehmsten und schmerzhaftesten sind die Beziehungen zu Familie, Freunden und geliebten Menschen. Innerhalb dieses inneren Kreises inniger Beziehungen sind wir miteinander durch „Gefühlskitt“ aneinander gebunden – gebunden durch Liebe.

Die Fähigkeit, Beziehungen mit Hilfe dieses “Gefühlskitts” zu bilden und zu erhalten, ist bei jedem Einzelnen anders. Manche Leute scheinen „von Natur aus“ liebesfähig zu sein. Sie bilden zahlreiche innige und liebevolle Beziehungen und genießen sie. Andere sind nicht so glücklich. Sie fühlen keine Neigung dazu, innige Beziehungen zu bilden, haben wenig Vergnügen daran, mit anderen zusammen oder ihnen nahe zu sein. Sie haben wenige und unverbindlichere Freundschaften, wenn überhaupt, weniger Gefühlskitt innerhalb der Familie. In Extremfällen kommt es vor, dass ein Einzelner überhaupt keine heile Gefühlsbindung zu irgend jemandem hat. Sie haben mit sich selbst genug, sind unnahbar oder zeigen gar klassische psychiatrische Anzeichen von Schizophrenie oder Autismus.

Die Fähigkeit und der Wunsch, Gefühlsbindungen aufzubauen, hängt mit der Organisation und dem Funktionieren spezieller Teile des menschlichen Gehirns zusammen. Genauso wie das Gehirn es uns erlaubt zu sehen, zu schmecken, zu fühlen, zu denken, zu sprechen und uns zu bewegen, ist es das Organ, das es uns erlaubt zu lieben – oder nicht. Die Systeme im menschlichen Gehirn, die es uns erlauben, Gefühlsbindungen zu bilden und zu erhalten, entwickeln sich während der Kindheit und der ersten Lebensjahre. Die Erfahrungen während dieser frühen verletzlichen Lebensphase formen entscheidend die Fähigkeit, innige und gesunde Gefühlsbindungen zu bilden. Mitgefühl, Zärtlichkeit, Teilen, Beherrschung der eigenen Aggression, Liebesfähigkeit und eine Menge anderer Charakteristika einer gesunden, glücklichen und konstruktiven Person hängen von der prinzipiellen Bindungsfähigkeit ab, die in der Säuglingszeit und frühen Kindheit ausgebildet werden.

Oft gestellte Fragen

Was ist Liebesbindung (attachment)?

Das hängt davon ab. Das Wort „Bindung“ wird von Fachleuten für Psychotherapie, Kindesentwicklung und Kinderschutz regelmäßig benutzt, hat aber in diesen verschiedenen Zusammenhängen eine leicht unterschiedliche Bedeutung. Zunächst einmal bilden wir Menschen viele Arten von Bindungen. Eine Bindung ist eine Verbindung zwischen einer Person und einer anderen. Im Bereich der Kleinkindentwicklung, bezieht sich „attachment“ auf eine spezielle Bindung, die sich durch die einzigartigen Eigenschaften des speziellen Bandes, das sich in Mutter-Säugling- oder primäre Pflegeperson-Säugling-Beziehungen bildet, charakterisiert. Die Liebesbindung hat verschiedene Schlüsselelemente: (1) sie ist eine dauerhafte Gefühlsbeziehung zu einer speziellen Person; (2) die Beziehung verschafft Sicherheit, Wohlgefühl, Besänftigung und Vergnügen; (3) der Verlust oder die Gefahr des Verlustes dieser Person verursacht intensives Leid. Diese spezielle Form der Beziehung ist am besten durch die Mutter-Kind-Beziehung repräsentiert. Bei unseren Untersuchungen dieser speziellen Beziehung fanden wir heraus, wie wichtig sie für die zukünftige Entwicklung des Kindes sein kann. Viele Wissenschaftler und Therapeuten halten die Mutter-Kind-Beziehung für das Arbeitmodell für alle folgenden Beziehungen, die das Kind entwickeln wird. Eine stabile und gesunde Liebesbindung zu der primären Pflegeperson scheint mit einer hohen Wahrscheinlichkeit für gesunde Beziehungen zusammenzuhängen, während eine schwache Liebesbindung zur Mutter oder der primären Pflegeperson mit zahlreichen emotionalen und Verhaltensproblemen im späteren Leben zusammenzuhängen scheint.

In der Klinischen Psychologie wird Bindung weitgefasst benutzt, um allgemein die Fähigkeit, Beziehungen einzugehen, zu bezeichnen. Im Rahmen dieser Veröffentlichung bezieht sich Bindungsfähigkeit allgemein auf die Fähigkeit, Gefühlsbeziehungen einzugehen und zu erhalten, während Liebesbindung (attachment) sich auf die Art und Tiefe der entsprechenden Beziehung bezieht. Ein Kind kann zum Beispiel eine „unsichere“ oder eine „sichere“ Bindung haben.

Was ist Bindungsanbahnung bzw. Bindungsgestaltung (bonding)?

Einfach ausgedrückt ist bonding der Prozeß des Bildens einer Liebesbindung i.S. von attachment. So wie bonding der Ausdruck ist, den man benutzt, wenn sich ein Individuum an ein anderes anheftet, benutzt diese Bindungsgestaltung unseren Gefühlskitt, um miteinander verbunden zu werden. Bonding beinhaltet darum eine Reihe von Verhaltensweisen, die uns zu einer Gefühlsbindung verhelfen.

Sind bonding und attachment genetisch bedingt?

Die biologische Fähigkeit, Bindungen herzustellen und zu formen ist höchstwahrscheinlich genetisch bestimmt. Der Überlebenstrieb ist in allen Arten grundlegend. Säuglinge sind schutzlos, und ihr Überleben hängt von einem versorgenden Erwachsenen ab. Vor dem Hintergrund dieser primären Abhängigkeit und der mütterlichen Reaktion auf diese Abhängigkeit entwickelt sich eine Beziehung. Von dieser Liebesbindung hängt das Überleben ab.

Eine gefühlsmäßig und körperlich gesunde Mutter wird sich zu ihrem Säugling hingezogen fühlen – sie wird eine körperliche Sehnsucht danach haben, ihren Säugling zu riechen, zu knuddeln, zu schaukeln, „Gu-gu“ zu machen und ihn anzusehen. Der Säugling wiederum reagiert darauf mit Anschmiegen, Brabbeln, Lächeln, Saugen und Klammern. In den meisten Fällen sorgt das Verhalten der Mutter für Freude, Beruhigung und Nahrung für den Säugling und das Verhalten des Säuglings gibt der Mutter Freude und Zufriedenheit. Genau in diesem Kreislauf des wechselseitigen positiven Feedbacks, diesem Mutter-Säugling-Tanz entwickelt sich die Liebesbindung (attachment).

Trotz der genetisch gegebenen Fähigkeit zu Bindung und Liebe wird darum das genetische Potential durch die Art, Menge, Muster und Intensität der Erfahrungen der frühen Kindheit geprägt. Ohne vorhersehbare, aufmerksame, nährende und sinnenreiche Pflege wird der Säugling seine Fähigkeiten zu normaler Bindung und Liebe nicht ausleben. Die Gehirnfunktionen, die für gesunde Gefühlsbeziehungen verantwortlich sind, werden sich nicht optimal entwickeln, ohne die richtigen Erfahrungen zum richtigen Zeitpunkt im Leben.

Was sind Erfahrungen der Bindungsgestaltung (bonding)?

Erfahrungen der Bindungsgestaltung sind Umarmen, Schaukeln, Singen, Füttern, Ansehen, Küssen und andere nährende Verhaltensweisen, die zur Pflege von Säuglingen und Kleinkindern gehören. Zu den für Bindungsgestaltung entscheidenden Faktoren gehören gemeinsame Zeit (in der Kindheit zählt auch die Quantität!), direkte Wechselwirkung, Blickkontakt, physische Nähe, Berührungen und andere primäre Sinneserfahrungen wie Geruch, Klang und Geschmack. Die Wissenschaftler halten positiven Körperkontakt (z.B. Drücken, Umarmen und Schaukeln) für den wichtigsten Faktor beim Aufbau von Liebesbindung. Es sollte nicht überraschen, dass Umarmen, Ansehen, Lächeln, Küssen, Singen und Lachen spezifische neurochemische Aktivitäten im Gehirn auslösen. Diese neurochemischen Aktivitäten wiederum führen zur normalen Organisation der Gehirnregionen, die für Bindungen (attachment) verantwortlich sind.

Die wichtigste Beziehung in dem Leben eines Kindes ist die Bindung zu seiner ersten Pflegeperson, im Idealfall zur Mutter. Dies liegt daran, dass diese erste Beziehung das biologische und gefühlsmäßige ’Modell’ für alle zukünftigen Beziehungen darstellt. Eine gesunde Liebesbindung zur Mutter, aufgebaut durch wiederholte Bindungserfahrungen während der Säuglingszeit, sind eine solide Basis für zukünftige gesunde Beziehungen. Dagegen können Probleme mit Bindung und Liebe zu einer fragilen biologischen und gefühlsmäßigen Basis zukünftiger Beziehungen führen.

Wann sind diese Zeitfenster?

Timing ist alles. Erfahrungen der Bindungsgestaltung führen zu gesunden Bindungsfähigkeiten und gesunden Liebesbindungen, wenn sie sich in den ersten Lebensjahren entwickeln. Während der ersten drei Lebensjahre entwickelt das menschliche Gehirn 90 Prozent seiner endgültigen Größe und bildet den Großteil der Systeme und Strukturen aus, die für alle zukünftigen gefühlsmäßigen, verhaltensmäßigen, sozialen und physiologischen Funktionen für den Rest des Lebens verantwortlich sind. Es gibt entscheidende Perioden, während derer Bindungserfahrungen vorliegen müssen, damit sich die Gehirnregionen, die für Bindungen verantwortlich sind, normal entwickeln. Diese entscheidenden Perioden scheinen im ersten Lebensjahr zu liegen und hängen von der Fähigkeit des Säuglings und der Pflegeperson ab, eine positive interaktive Beziehung zu entwickeln.

Was geschieht, wenn dieses Zeitfenster verpasst wird?

Die Auswirkungen beeinträchtigter Bindungserfahrung in der frühen Kindheit sind verschieden. Schwere gefühlsmäßige Vernachlässigung in der frühen Kindheit kann sich verheerend auswirken. Kinder ohne Berührungen, Anregungen und Pflege können buchstäblich die Fähigkeit, überhaupt nennenswerte Beziehungen einzugehen, für den Rest ihres Lebens verlieren. Glücklicherweise erleiden die meisten Kinder nicht derart schwere Vernachlässigungen. Es gibt jedoch viele Millionen von Kindern, deren Liebesbindung (bonding und attachment) während der frühen Kindheit beeinträchtigt ist. Die sich daraus ergebenden Probleme können von leichtem Unbehagen im Umgang mit Menschen zu schweren sozialen und emotionalen Problemen reichen. Im allgemeinen hängt die Schwere des Problems davon ab, wie früh im Leben, wie lange und wie schwer die emotionale Vernachlässigung gewesen ist.

Dies bedeutet nicht, dass Kinder mit diesen Erfahrungen keine Hoffnung darauf haben, normale Beziehungen zu entwickeln. Es ist sehr wenig bekannt über die Fähigkeit, das unterentwickelte oder schlecht organisierte Bindungsverhalten und die Liebesfähigkeit durch spätere Lebenserfahrungen zu ersetzen oder zu heilen. Klinische Versuche und eine Vielzahl von Studien legen nahe, dass eine Besserung stattfinden kann, aber es ist ein langer, schwieriger und frustrierender Prozess für die Familien und die Kinder. Es kann viele Jahre harter Arbeit kosten, den Schaden von nur wenigen Monaten Vernachlässigung während der Säuglingszeit zu reparieren.

Gibt es Klassifizierungen für Bindungen (attachments)?

Ähnlich wie Größe oder Gewicht variieren die individuellen Bindungsfähigkeiten kontinuierlich. Beim Versuch, die Skala von Bindungen zu studieren, haben die Wissenschaftler das Kontinuum jedoch in vier Bindungs- Kategorien aufgeteilt: sicher, unsicher-widerstrebend, unsicher-vermeidend und unsicher-desorientiert. Sicher gebundene Kinder fühlen ein konsequentes, aufmerksames und unterstützendes Verhältnis zu ihrer Mutter, auch in Zeiten beträchtlichen Stresses. Unsicher gebundene Kinder fühlen inkonsequente, strafende, gleichgültige Gefühle von ihrer Pflegeperson und fühlen sich in Stresszeiten bedroht.

Dr. Mary Ainsworth entwickelte einen einfache Prozedur, um die Art der Bindung eines Kindes zu untersuchen. Sie wird ’Prozedur der Fremden Situation’ genannt. Kurz gesagt, werden die Mutter und das Kind in einer Folge von „Situationen“ beobachtet: Mutter (oder Vater) und Kind allein in einem Spielzimmer; eine fremde Person kommt in den Raum; Mutter lässt das Kind mit der fremden Person allein, die mit dem Baby spielt und es zu trösten versucht; Mutter kommt zurück und tröstet Säugling; fremde Person verlässt den Raum; Mutter lässt Säugling ganz allein; fremde Person kommt herein und tröstet das Baby; Mutter kommt zurück und versucht, den Säugling zu trösten und zu beschäftigen. Das Verhalten während jeder dieser Situationen wird beobachtet und bewertet. Das Verhalten von Kindern in diesem paradigmatischen Test wird beobachtet und je nach der Bereitwilligkeit des Kindes, sich der Mutter (oder dem Vater) wieder neu zuzuwenden und je nach dem emotionalen Zustand des Kindes während des Wiedersehens kategorisiert.

Klassifizierung der Zuneigung

Prozentsatz bei den Einjährigen

Reaktion in ungewohnter Situation

Sicher gebunden

60-70%

Neugierig mit M im Zimmer; aufgeregt bei Trennung; warme Begrüßung beim Wiederkehren; strebt nach Berührung und Trost bei Wiedersehen

Unsicher:
 vermeidend

15-20%

Ignoriert M wenn anwesend; etwas Verzweiflung bei der Trennung; wendet sich aktiv von M ab beim Wiedersehen

Unsicher: widerstrebend

 

10-15%

Wenig Forscherdrang mit M im Zimmer, bleibt in der Nähe von M; sehr verzweifelt bei Trennung; ambivalent oder wütend und wehrt sich gegen Körperkontakt bei Wiedersehen mit M

Unsicher: desorientiert

 

5-10%

Durcheinander von Annäherung an und Meidung von M; sehr verzweifelt bei Trennung; reagiert bei Wiedersehen verwirrt und benommen – ähnlich wie „approach-avoidance confusion“ in Tiermodellen

Welche weiteren Faktoren beeinflussen Bindungsverhalten und Liebesbindung?

Jeder Faktor, der die Bindungserfahrungen stört, kann auch die Entwicklung der Liebesfähigkeit stören. Wenn der interaktive, wechselseitige „Tanz“ zwischen Pflegeperson und Säugling gestört oder erschwert wird, sind Bindungserfahrungen kaum aufrecht zu erhalten. Störungen können durch primäre Probleme des Säuglings verursacht werden, der Pflegeperson, der Umgebung oder des „Zusammenpassens“ zwischen Säugling und Bezugsperson.

Säugling : Die Persönlichkeit oder das Temperament des Kindes beeinflusst die Bindungsentwicklung. Wenn ein Säugling schwer zu beruhigen ist, reizbar und unempfänglich, verglichen mit einem ruhigen, selbstzufriedenen Kind, wird er mehr Schwierigkeiten haben, eine sichere Bindung zu entwickeln. Die Fähigkeit des Kindes, an der Mutter-Säugling-Wechselwirkung teilzunehmen, kann durch medizinische Bedingungen wie Frühgeburt, Geburtsschaden oder Krankheit beeinträchtigt sein.

Pflegeperson : Das Verhalten der Pflegeperson kann die Bindungsentwicklung beeinträchtigen. Kritische, zurückweisende, sich einmischende Eltern neigen dazu, Kinder zu haben, die emotionale Nähe vermeiden. Missbrauchende Eltern neigen dazu, Kinder zu haben, die sich bei Nähe unwohl fühlen und sich zurückziehen. Die Mutter ist vielleicht dem Kind gegenüber gleichgültig wegen Geburtsdepression, Medikamentenmissbrauch, übermächtigen persönlichen Problemen oder anderen Faktoren, die ihre Fähigkeit, für das Kind zuverlässig und unterstützend zu sein, beeinträchtigen.

Umgebung: Ein Haupthindernis für eine gesunde Liebesbindung ist Angst. Wenn ein Säugling unter Schmerzen, lähmender Bedrohung oder chaotischer Umgebung leidet, wird es ihm schwer fallen, an einer sogar unterstützenden Beziehung mitzuwirken. Säuglinge oder Kinder aus häuslicher Gewalt, Flüchtlinge aus gesellschaftlicher Gewalt oder Kriegsgebieten sind anfällig für Bindungsprobleme.

Zusammenpassen : Das Zusammenpassen des Temperaments und der Fähigkeiten des Säuglings und der Mutter ist entscheidend. Einige Pflegepersonen können ausgezeichnet mit einem ruhigen Säugling auskommen, sind aber bei einem reizbaren Säugling überfordert. Der Prozess der gegenseitigen Aufmerksamkeit, die nonverbalen Signale des anderen zu lesen und entsprechend zu reagieren, sind wesentlich, um die Bindungsentwicklung zu fördern, die sich in gesunden Liebesbeziehungen einspielt. Manchmal paßt der Kommunikations- und Reaktionsstil, den eine Mutter von einem ihrer anderen Kinder gewohnt ist, nicht zu ihrem aktuellen Säugling. Die gegenseitige Frustration, „unsynchronisiert“ zu sein, kann die Bindungsentwicklung beeinträchtigen.

Wie beeinflussen Missbrauch und Vernachlässigung die Bindung (attachment)?

Es gibt drei Hauptaspekte, die in Familien mit Missbrauch und Vernachlässigung beobachtet worden sind. Der häufigste Effekt ist, dass misshandelte Kinder grundsätzlich abgelehnt werden. Kinder, die von ihren Eltern abgelehnt werden, haben zahlreiche Probleme (siehe unten), unter anderem die Schwierigkeit, emotionale Nähe zu entwickeln. In Missbrauchsfamilien setzt sich diese Ablehnung und der Missbrauch zumeist über Generationen hinweg fort. Die vernachlässigenden Eltern wurden als Kind ebenfalls vernachlässigt. Sie geben weiter, wie sie von ihren Eltern behandelt wurden. Ein weiterer Aspekt ist „Parentisierung“ des Kindes. Diese kann viele Formen annehmen. Eine häufige Form beobachtet man, wenn ein junges unreifes Mädchen alleinerziehende Mutter wird. Der Säugling wird als Spielkamerad und sehr früh als ein Freund behandelt. Man hört solche jungen Mütter oft ihren Vierjährigen als „mein bester Freund“ oder „mein kleiner Mann“ bezeichnen. In anderen Fällen sind die Erwachsenen so unreif und uninformiert über Kinder, dass sie ihre Kinder wie Erwachsene behandeln – oder sogar wie einen Ehepartner. In der Folge können ihre Kinder weniger an Aktivitäten mit anderen „unreifen“ Kindern teilnehmen. Diese falsche Einschätzung der Reife stört oft die Entwicklung von Freundschaften innerhalb der eigenen Altersklasse. Der dritte häufige Aspekt ist die Transgenerationalität der Bindungsprobleme.

Wichtig ist die Anmerkung, dass vorgängig sichere Bindungen sich infolge von Mißbrauch und Vernachlässigung plötzlich wandeln können. Die Wahrnehmung des Kindes einer konsequenten und nährenden Welt passt nicht mehr mit seiner neuen Wirklichkeit zusammen. Zum Beispiel kann ein Kind seine positiven Vorstellungen von den Erwachsenen infolge körperlichen Mißbrauchs durch einen Babysitter verlieren.

Sind Bindungsprobleme immer Folgen von Missbrauch?

Nein, tatsächlich entstehen die meisten Bindungsprobleme eher durch Unwissenheit der Eltern über die Entwicklung eines Kindes als durch Missbrauch. Viele Eltern wissen nicht Bescheid über die entscheidende Bedeutung der Erfahrungen in den ersten drei Lebensjahren. Dies würde sich bessern, wenn es auf diesem Gebiet mehr öffentliche Information und politische Unterstützung gäbe. Gegenwärtig ist diese Unwissenheit so weit verbreitet, dass schätzungsweise eines von drei Kindern eine vermeidende, ambivalente oder widerstrebende Bindung zu seiner Pflegeperson hat. Trotz dieser unsicheren Bindung können sie Beziehungen eingehen und halten – jedoch nicht mit der Leichtigkeit wie andere.

Welche spezifischen Probleme sind bei mißhandelten Kindern mit Bindungsproblemen zu erwarten?

Die spezifischen Probleme, die man beobachten kann, hängen von der Art, Intensität, Dauer und dem Zeitpunkt der Vernachlässigung und des Missbrauchs ab. Manche Kinder werden tiefgehende und offensichtliche Probleme haben, andere haben eher subtile Probleme, bei denen man gar nicht darauf kommt, dass sie mit Vernachlässigung in einer frühen Lebensphase zusammenhängen. Manchmal scheinen diese Kinder von ihren Erfahrungen unbeeinflusst. Es ist jedoch wichtig, nicht zu vergessen, warum man mit den Kindern arbeitet und dass sie schrecklichen Ereignissen ausgesetzt waren. Es gibt einige Hinweise, auf die erfahrene Therapeuten achten, wenn sie mit solchen Kindern arbeiten.

Entwicklungsverzögerungen: Kinder, die in ihrer frühen Kindheit emotionale Vernachlässigung erfahren haben, zeigen oft Entwicklungsverzögerungen auf verschiedenen Gebieten. Die Bindung zwischen dem Kleinkind und der Bezugsperson ist die wichtigste Voraussetzung, sich körperlich, seelisch und geistig zu entwickeln. In diesem primären Kontext lernen Kinder Sprache, soziales Verhalten und eine Menge anderer für eine gesunde Entwicklung wesentlicher Verhaltensweisen. Ein Fehlen von zuverlässigen und reichhaltigen Erfahrungen in der frühen Kindheit können zu Verzögerungen in der motorischen, sprachlichen, sozialen und kognitiven Entwicklung führen.

Essen : Seltsame Essgewohnheiten sind häufig, besonders bei Kindern mit schweren Vernachlässigungs- und Bindungsproblemen. Sie horten Nahrungsmittel, verstecken sie in ihrem Zimmer, essen, als gäbe es bald nichts mehr, auch wenn sie jahrelang eine zuverlässig gesicherte Ernährung hatten. Sie haben Wachstumsprobleme, erbrechen sich, haben Schluckbeschwerden oder im späteren Leben seltsame Essgewohnheiten, bspw. Anorexia nervosa (Magersucht).

Stressabbauverhalten: Diese Kinder benutzen sehr primitive, unreife und bizarre Verhaltensweisen zum Stressabbau. Sie kauen an sich selbst herum, stoßen ihren Kopf an, schaukeln, singen, kratzen oder schneiden sich selbst. Diese Symptome verstärken sich in Phasen des Leidens oder der Angst.

Emotionales Verhalten : Eine Vielfalt emotionaler Probleme ist bei solchen Kindern üblich, einschließlich depressiver und phobischer Symptome. Häufig ist wahllose Anhänglichkeit. Alle Kinder sehnen sich nach Sicherheit. Mit dem unbewussten Wissen, dass Zuneigung für das Überleben wichtig ist, suchen Kinder nach Bindung – irgendeine Bindung – um ihrer Sicherheit willen. Laien können meinen, dass missbrauchte und vernachlässigte Kinder fremde Menschen „lieben“ und umarmen. Kinder pflegen aber zu relativ unbekannten Personen keine tiefen emotionalen Bindungen aufzunehmen; vielmehr sind diese „Liebes-Bezeugungen“ in Wirklichkeit Formen der Sicherheitssuche. Psychologen machen sich deswegen Sorgen, denn diese Verhaltensweisen tragen zur Verwirrung des missbrauchten Kindes hinsichtlich Nähe bei und widersprechen einem normalen sozialen Verhalten.

Unpassende Nachahmung : Kinder ahmen das Verhalten der Erwachsenen nach – sogar Missbrauch. Sie lernen, dass Missbrauch die „richtige“ Art ist, mit anderen Menschen umzugehen. Wie man leicht einsieht, führt dies leicht zu Problemen in ihren sozialen Kontakten mit Erwachsenen und anderen Kindern. Kinder, die sexuell missbraucht worden sind, haben ein höheres Risiko für zukünftige Mißhandlungen. Männer, die sexuell missbraucht worden sind, können selbst zu sexuellen Straftätern werden.

Aggression : Eines der Hauptprobleme mit diesen Kindern sind Aggressivität und Grausamkeit. Dies hängt mit zwei primären Problemen vernachlässigter Kinder zusammen: (1) Mangel an Mitgefühl, (2) schlechte Kontrolle ihrer Impulse. Die Fähigkeit, den Einfluss ihres Verhaltens auf andere emotional zu „verstehen“, ist bei diesen Kindern beeinträchtigt. Sie verstehen und fühlen wirklich nicht, wie es für andere ist, wenn sie etwas Schmerzhaftes sagen oder tun. Diese Kinder fühlen sich oft dazu getrieben, um sich zu schlagen und anderen weh zu tun – typischerweise jemandem, der schwächer ist als sie. Sie werden Tieren weh tun, kleineren Kindern, Gleichaltrigen und Geschwistern. Am beunruhigendsten an dieser Aggressivität ist, dass sie meist von einem distanzierten, kalten Mangel an Mitgefühl begleitet ist. Sie zeigen vielleicht Bedauern (eine Reaktion des Verstandes), aber keine Reue (eine Reaktion des Gefühls), wenn sie mit ihrem aggressiven oder grausamen Verhalten konfrontiert werden.

Wie kann man helfen?

Umsorgen Sie diese Kinder: Diese Kinder brauchen es, gehalten und gewiegt und gestreichelt zu werden. Seien Sie für sie da, umsorgen Sie sie und seien Sie liebevoll zu Kindern mit Bindungsproblemen. Seien Sie sich bewusst, dass für viele dieser Kinder Berührung in der Vergangenheit mit Schmerz, Qual oder sexuellem Missbrauch verbunden war. Beobachten Sie sorgfältig, wie sie reagieren – stimmen Sie sich ein in die Reaktionen auf Ihr Umsorgen und handeln Sie entsprechend. Bieten Sie ihnen in vielfältiger Weise kompensierende Erfahrungen, die in ihrer frühen Kindheit hätten stattfinden sollen – aber wenn Sie es tun, ist das Gehirn des Kindes schon viel schwerer zu beeinflussen. Darum braucht es viel mehr Bindungserlebnisse, um Liebesbindungen zu entwickeln.

Versuchen Sie, das Verhalten zu verstehen, bevor Sie strafen oder andere Konsequenzen ziehen: Je mehr Sie über Bindungsgestaltung, Bindungsprobleme, normale und abnorme Entwicklung lernen, um so besser können Sie konstruktives und soziales Verhalten entwickeln. Informationen über diese Probleme können verhindern, dass Sie das Verhalten des Kindes missverstehen. Wenn diese Kinder beispielsweise Nahrungsmittel horten, darf das nicht als „Stehlen“ betrachtet werden, sondern als ein häufiges und vorhersehbares Ergebnis von unbefriedigtem Hunger während der frühen Kindheit. Auf dieses Problem (oder viele andere) mit Strafen zu reagieren, wird dem Kind nicht helfen, zu reifen. Tatsächlich kann Bestrafung die Unsicherheit des Kindes, sein Leid und die Neigung, Nahrung zu horten, noch verstärken. Viele Verhaltensweisen dieser Kinder sind verwirrend und beunruhigend für die Pflegepersonen. Sie können aber Hilfe von Experten erhalten, wenn Sie Schwierigkeiten haben, einen praktikablen und nützlichen Umgang mit diesen Problemen zu entwickeln.

Betreuen Sie diese Kinder entsprechend ihrem emotionalem Alter: Missbrauchte und vernachlässigte Kinder sind oft emotional und sozial zurückgeblieben. Und jedes Mal, wenn sie frustriert oder ängstlich sind, erleiden sie einen Rückfall. Das heißt, dass zu jedem beliebigen Zeitpunkt ein Zehnjähriger emotional wie ein Zweijähriger sein kann. Trotz unseres Wunsches, dass sie sich „altersgemäß verhalten“ und trotz unserer Ermahnungen sind sie dazu nicht fähig. Das sind die Momente, in denen wir uns ihnen gegenüber verhalten müssen, wie es ihrem emotionalen Niveau entspricht. Sind sie in Tränen aufgelöst, frustriert, überwältigt (emotional zweijährig) bemuttern Sie sie, als seien sie in diesem Alter. Nutzen Sie beruhigende nonverbale Zuwendung. Halten Sie sie. Wiegen Sie sie. Singen Sie leise. Eine solche Situation ist nicht der richtige Moment, für komplizierte verbale Argumente über die Folgen unangemessenen Verhaltens.

Seien Sie konsequent, vorhersehbar und wiederholend: Misshandelte Kinder mit Bindungsproblemen reagieren empfindlich auf Änderungen im Tagesablauf, auf Übergänge, Überraschungen, chaotische soziale und allgemein neue Situationen. Umtriebige und einmalige soziale Situationen werden sie überfordern, selbst wenn sie angenehm sind! Geburtstagsparties, zu langer Schlaf, Urlaub, Familienausflüge, Beginn des Schuljahres und Ende des Schuljahres – all dies kann diese Kinder verwirren. Darum ist alles, was man dazu tun kann, um konsequent, vorhersehbar und wiederholend zu sein, sehr wichtig, damit diese Kinder sich sicher fühlen. Wenn sie sich sicher fühlen, können sie von den umsorgenden und bereichernden emotionalen und sozialen Erfahrungen, die Sie ihnen bieten, profitieren. Wenn sie ängstlich sind, können sie das nicht in gleicher Weise.

Leben und lehren Sie angemessenes soziales Verhalten: Viele missbrauchte und vernachlässigte Kinder wissen nicht, wie sie mit anderen Menschen umgehen müssen. Einer der besten Wege, es ihnen beizubringen, ist, es ihnen vorzuleben – und dann dem Kind zu erzählen, was Sie tun und warum. Machen Sie ein Spiel daraus, den Ansager zu spielen: „Ich gehe zum Waschbecken, um meine Hände vor dem Essen zu waschen, weil...“ oder „Ich nehme die Seife und seife mich hier ein und...“. Kinder sehen, hören und ahmen nach.

Zusätzlich zu diesem Vorleben können Sie misshandelte Kinder „trainieren“, während sie mit anderen Kindern spielen. Benutzen Sie ein ähnliches Spiel als Ansatz: „Also, wenn du das wegnimmst, werden sie wahrscheinlich ziemlich sauer sein. Wenn du also willst, dass sie bei diesem Spiel Spaß haben...“ Indem sie reibungsloser mit anderen Kindern spielen, werden sie ein verbessertes Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen entwickeln. Mit der Zeit wird der Erfolg mit anderen Kindern das Kind sozial geschickter und weniger aggressiv werden lassen. Mißhandelte Kinder sind oft unordentlich wegen ihrer verzögerten Sozialisation. Wenn das Kind wegen seiner Kleidung oder seines Aussehens gehänselt wird, hilft es, für „coole“ Kleidung und bessere Hygiene zu sorgen.

Ein Gebiet, auf dem diese Kinder Probleme haben, ist physischen Kontakt angemessen zu dosieren. Sie wissen nicht, wann man jemanden umarmt, wie nahe man stehen sollte, wann man Blickkontakt aufbaut und abbricht, wann der passende Moment ist, um sich in der Nase zu bohren oder die Genitalien anzufassen.

Ironischerweise übernehmen Kinder mit Bindungsproblemen oft bei Fremden die Initiative zum Körperkontakt (Umarmungen, Handhalten, auf den Schoß setzen). Erwachsene mißverstehen dies als Liebesbezeugung. Das ist es nicht. Man versteht es am besten als Unterwerfungsgeste, und es ist sozial unangemessen. Es ist sehr wichtig, wie die Erwachsenen mit solchen unangemessenen Körperkontakten umgehen. Wir sollen uns nicht weigern, das Kind zu umarmen und ihm das richtige Verhalten beizubringen. Wir können das Kind sacht dazu anleiten, anders mit Erwachsenen und anderen Kindern umzugehen („Warum sitzt Du nicht dort drüben?“). Es ist wichtig, diese Lektionen klar zu gestalten, mit so wenigen Worten wie möglich. Sie brauchen nicht befehlend zu sein – verlassen Sie sich auf nonverbale Signale. Es ist außerdem wichtig, in einer Weise zu erläutern, daß das Kind sich nicht schlecht oder schuldig fühlt.

Hören Sie diesen Kindern zu, und sprechen Sie mit ihnen: Sehr angenehm ist es, einfach nur innezuhalten, mit diesen Kindern zusammenzusitzen, ihnen zuzuhören und mit ihnen zu spielen. Wenn Sie ruhig sind und auf sie eingehen, werden Sie bald feststellen, daß sie Ihnen zeigen und sagen, was wirklich in ihnen steckt. So einfach dies auch klingt, ist es doch für einen Erwachsenen sehr schwierig, innezuhalten, aufzuhören, an die Uhrzeit und an die nächsten Aufgaben zu denken und wirklich in diesem Moment mit einem Kind zu entspannen. Üben Sie es. Sie werden von den Ergebnissen überrascht sein. Diese Kinder werden spüren, dass Sie nur für sie da sind. Sie werden fühlen, wie sehr Sie sie mögen.

Genau während dieser Augenblicke erreichen und beeinflussen Sie diese Kinder am besten. Es ist ein ausgezeichneter Moment, um Kinder über ihre verschiedenen Gefühle zu unterrichten. Unabhängig von der Tätigkeit ist es wichtig, die folgenden Prinzipien zu beachten: (1) alle Gefühle sind in Ordnung – traurig, fröhlich, wütend u.a.m.; (2) bringen Sie dem Kind gesunde Möglichkeiten bei, wie es sich verhalten kann, wenn es traurig, fröhlich oder wütend ist; (3) beginnen Sie zu erkunden, wie andere Menschen fühlen und wie sie ihre Gefühle zeigen – „Was glaubst du, wie sich Bob fühlt, wenn du ihn schubst?“ (4) Wenn Sie bemerken, dass das Kind eindeutig fröhlich, traurig oder wütend ist, fragen Sie es, wie es sich fühlt. Helfen Sie ihm, Worte für seine Gefühle zu finden.

Richten Sie realistische Erwartungen auf diese Kinder: Missbrauchte und vernachlässigte Kinder haben so viel zu überwinden. Und einige von ihnen werden nicht alle ihre Probleme überwinden. Gegenüber einem rumänischen Waisenmädchen, das im Alter von fünf Jahren adoptiert wurde, nachdem es seine ersten Lebensjahre ohne jegliche Gefühlsnahrung verbrachte, sollten die Erwartungen reduziert werden. Es wurde um einige seiner Potentiale beraubt, aber nicht um alle. Wir wissen nicht, wie man das Potential in einem Vakuum vorhersagen kann, aber wir wissen, wie man die emotionalen, verhaltensmäßigen, sozialen und physischen Stärken und Schwächen eines Kindes erfaßt. Eine einfühlsame Evaluation durch einen begabten Psychologen kann sehr nützlich sein, um am Anfang herauszufinden, auf welchen Gebieten ein Kind begabt ist und auf welchen der Fortschritt langsamer sein wird.

Seien Sie geduldig mit dem Fortschritt des Kindes und mit sich selbst: Ein Fortschritt wird sich nur langsam einstellen. Das langsame Vorankommen wird Sie frustrieren, und viele Adoptiveltern fühlen sich unzulänglich, da all die Liebe, Zeit und Bemühungen, die sie ihrem Kind widmen, keine Wirkung zu haben scheinen. Aber sie haben Wirkung. Seien Sie nicht hart zu sich selbst. Viele liebevolle, begabte und kompetente Eltern sind von den Bedürfnissen eines vernachlässigten und misshandelten Kindes, das sie angenommen haben, überschwemmt worden.

Achten Sie auf sich selbst: Für mißhandelte Kinder zu sorgen, kann erschöpfen und entmutigen. Sie können diesen Kindern nicht die konsequente, vorhersehbare, bereichernde und nährende Pflege geben, die sie brauchen, wenn Sie erschöpft sind. Sorgen Sie dafür, dass Sie Ruhe und Unterstützung bekommen. Eine Pflegepause kann entscheidend sein. Nutzen Sie die Hilfe von Freunden, Familie und Gemeinde. Sie werden Ihrem Kind nicht helfen können, wenn Sie erschöpft, deprimiert, wütend, überfordert oder überempfindlich sind.

Nutzen Sie andere Ressourcen: Viele Gemeinden haben Selbsthilfegruppen für Adoptiv- und Pflegefamilien. Sachkundige mit Erfahrungen mit Bindungsproblemen und mit misshandelten Kindern können sehr viel helfen. Sie werden Hilfe brauchen. Vergessen Sie nicht: Je früher und entschiedener die Vermittlung, umso besser. Kinder sind im jungen Alter am formbarsten und je älter sie werden, um so schwerer fällt der Wandel.

Glossar

Attachment (positive Bindung, Liebesbindung) : Eine spezielle Form der emotionalen Beziehung. Attachment beinhaltet Gegenseitigkeit, Wohlfühlen, Sicherheit und Freude für beide Individuen in dieser Beziehung.

Attunement (Einstimmung) : Die Fähigkeit, die kommunikativen Bedürfnisse eines anderen zu lesen und darauf zu reagieren. Dies beinhaltet synchrone und reaktive Aufmerksamkeit gegenüber den verbalen und nonverbalen Signalen des anderen.

Bond (positive oder negative Bindung, z.B. Hörigkeit) : Eine Beziehung, die in speziellen gegenseitigen Gefühlen besteht (z.B. Liebe), oder auf anderen Gefühlen beruht (z.B. Angst – so wie die Hörigkeit zwischen Entführer und Geisel).

Bonding (Bindungsanbahnung, Bindungsgestaltung) : Jede Tätigkeit, Handlung oder Verhaltensweise, die dabei hilft, eine Beziehung aufzubauen oder zu erhalten.

Strange-Situation procedure (Prozedur der Fremden Situation) : Eine standardisierte Vorgehensweise für klinische Untersuchungen, die acht Trennungen und Zusammenführungen eines Säuglings von bzw. mit seiner Pflegeperson umfaßt, um die Art seiner Bindung zu beurteilen.

Übersetzung: Andrea Herrmann (Bundesarbeitsgemeinschaft Prävention & Prophylaxe e.V.), fachliche Überarbeitung: Kurt Eberhard (AGSP)

Über den Autor: Bruce Duncan Perry, M.D., Ph.D.

Dr. Perry ist der Thomas S. Trammell Research Professor für Kinderpsychiatrie im Department of Psychiatry and Behavioral Sciences des Baylor College of Medicine in Houston, Texas. Innerhalb des Kliniksystems des Baylor College of Medicine arbeitet er als Leiter der Psychiatrie der Texanischen Kinderklinik. Dr. Perry hat weitere Berufungen in Pediatrics, Pharmakologie and Neuroscience.

Zu den hirnphysiologischen Schäden von Vernachlässigungen und Mißhandlungen
vgl. PERRY
’’Violence and Childhood

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