FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2000

 

Entwicklungschancen für vernachlässigte und misshandelte Kinder in sozialpädagogisch und psychotherapeutisch betreuten Pflegefamilien

von Christoph Malter und Kurt Eberhard (Dez. 00)

 

Die Anstalt paßt nicht,
weil sie keine Familie,
und die Familie nicht,
weil sie keine Anstalt ist.
(Johann H. Wichern, 1841)

 

Jahrelange Erfahrungen im Berliner Hans-Zulliger-Haus unter der Leitung des Psychiaters und Psychoanalytikers Klaus Hartmann und die Durchsicht der Fachliteratur hatten uns gelehrt, daß in früher Kindheit venachlässigte und mißhandelte, in der Pubertät persistent und generalisiert dissoziale Jugendliche gegenüber den unterschiedlichsten pädagogischen und therapeutischen Bemühungen bemerkenswert resistent sind.

Das mag für Verhaltenstheoretiker, die Verwahrlosungsphänomene lernpsychologisch erklären und für Psychoanalytiker, die sie konfliktneurotisch statt defektneurotisch verstehen wollen, kaum erklärlich sein, unter dem Blickwinkel des empirisch gut belegten Deprivationskonzepts der Bindungstheorie von Bowlby, Spitz und Ainsworth sind solche Widrigkeiten nicht überraschend. Im Gegenteil, dort werden sogar Symptomsteigerungen zum Schutz des langjährig aufgebauten negativen Welt- und Menschenbildes vorhergesehen.

Neueste neurophysiologische Untersuchungen stützen diese skeptische Position. Nash  berichtet in einem Überblicksreferat,

  • daß, beginnend im Mutterleib, „die elektrische Aktivität der Gehirnzellen die physikalische Struktur des Gehirns verändert“;
  • daß „kurz nach der Geburt ein Säuglingsgehirn in großer biologischer Überschwenglichkeit beginnt, über 100.000 Milliarden Verbindungen zu knüpfen“ und „daß gesteuert von einer Flut sensorischer Erfahrung ... das Gehirn Verbindungen oder Synapsen eliminiert, die selten oder nie genutzt werden“;
  • daß diese Synapsen „ihre höchste Durchschnittsdichte um das Alter von zwei Jahren herum erreichen“;
  • daß „Kinder, die früh im Leben physisch mißhandelt wurden, Gehirne entwickeln, die ausgezeichnet auf Gefahr eingestimmt sind; bei der kleinsten Bedrohung rasen ihre Herzen, ihre Streßhormone steigen an“ ;
  • daß „emotionale Bedrohung im frühen Leben einen ähnlichen Effekt hat“;
  • daß „die Fähigkeit aufzuholen, merklich nachläßt, wenn ein Kind älter wird“;
  • daß „im Alter von drei Jahren ein mißhandeltes und vernachlässigtes Kind Spuren davonträgt, die äußerst schwer zu beseitigen sind“;
  • daß im Alter von ungefähr 10 Jahren das intensive Wachstum des Gehirns aufhört und „in den nächsten Jahren das Gehirn brutal seine schwächsten Synapsen zerstört“.
    (vgl. dazu auch Greenspan, 1999)

Wir, die Berliner Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP), zogen schon in den 70er Jahren die Konsequenz, es mit präventiven Strategien zu versuchen. Primäre Prävention, d.h. Herausnahme der Kinder aus verwahrlosten und verwahrlosenden Familien vor Beginn der dissozialen Symptomatik, kam aus rechtlichen Gründen nicht in Betracht, aber doch immerhin sekundäre Prävention, d.h. Interventionen vor Generalisierung und Chronifizierung der dissozialen Erlebnis- und Verhaltensstörungen.

Wir konzipierten das Intensivpädagogische Programm (IPP) und begannen 1980 mit der Arbeit. Die wichtigsten Chrakteristika des IPP sind in nachfolgendem Kasten zusammengestellt.

 

Das Intensivpädagogische Programm (IPP)
- ein Aktionsforschungsprojekt
für psychisch traumatisierte Kinder und Jugendliche
in sozialpädagogisch und psychotherapeutisch betreuten Pflegefamilien

Träger:

Friedrichs-Stift der Königin Luise von Preußen (Vorsitzende: Rechtsanwältin Sigrid Katsaras)

Fachliche Verantwortung:

Berliner Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie

(Ltg.: Rechtsanwältin Soz.-Päd. Gudrun Eberhard, Dipl.-Psych. Prof. Dr. Kurt Eberhard)

Vorgeschichte:

1960: Beginn der Forschungsarbeit im Hans-Zulliger-Haus des Senators für Familie, Jugend und Sport unter dem Thema ‘Lebensbewährung schwererziehbarer Minderjähriger’;

1975: Gründung der Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie;

1979: Entwicklung der Konzeption für das IPP;

seit Dezember 1979: Unterstützung durch das Friedrichs-Stift;

ab Herbst 1980: Suche nach verwahrlosungsgefährdeten Kindern, Anwerbung erziehungserfahrener Frauen, Herstellung von Kontakten zwischen Kindern und Erzieherinnen;

3.10.1980: Vermittlung des ersten Kindes in das IPP.

Konzeptionelle Besonderheiten:

  • Wir verstehen uns als dezentralisiertes Heim. Die Frauen, mit denen wir Honorarverträge abschließen, sind die ‘Erzieherinnen’, wir sind die ‘Heimleiter’. Ihre Erzieherqualifikation haben jene Frauen in der erzieherischen Arbeit an ihren leiblichen Kindern bzw. an früheren Pflegekindern erworben. Während ihrer Arbeit im IPP erweitern sie diese Qualifikation durch die Praxis, durch unsere Beratung, durch den Erfahrungsaustausch untereinander und durch berufsbegleitende Seminare.
  • Wir nennen uns Intensivpädagogisches Programm, weil es um tiefenpsychologisch orientierte pädagogische Arbeit geht, weil jede Erzieherin in der Regel nur ein oder zwei Kinder aufnimmt, sich auf diese(s) Kind(er) hauptberuflich konzentriert und weil die Arbeit kontinuierlich fachlich beraten und unterstützt wird.
  • Da es sich um lebensgeschichtlich schwer geschädigte, meist sehr verhaltensgestörte Kinder handelt, ist unser Projekt mit der Arbeit heilpädagogischer Pflegestellen vergleichbar; jedoch gibt es bezüglich Konzeption und Organisation erhebliche Unterschiede.
  • Wir haben wenig Vertrauen in die einschlägigen Ausbildungsgänge und suchen unsere Erzieherinnen und Erzieher deshalb danach aus, ob sie ihre eigenen Kinder zu liebes- und arbeitsfähigen Menschen heranbilden konnten.
  • Die theoretische Fachkompetenz vermitteln wir berufsbegleitend und problemorientiert. In der Beratung und den praxisbegleitenden Seminaren üben wir, auf die jeweils aktuellen Probleme mit alternativen phänomenalen, kausalen und aktionalen Hypothesen zu reagieren.
  • Eine der wichtigsten theoretischen Grundlagen unserer Arbeit ist das Deprivationskonzept der Bindungstheorie von Bowlby, Spitz und Ainsworth, aber bei der gemeinsamen Analyse der individuellen Symptome und Entwicklungsgeschichten werden die unterschiedlichsten psychologischen Theorien, aber auch psychographische Romane, sowie Mythen und Märchen herangezogen.
  • Bei der Analyse der mitwirkenden psychischen Probleme der Erzieherinnen helfen psychotherapeutisch orientierte Reflexionsformen im Arbeitskreis und in der individuellen Beratung.
  • Zu unserem sozialökologischen Ansatz gehört, daß wir auch das weitere Milieu, die Nachbarschaft, die Schule, die Behörden sowie den soziokulturellen Hintergrund in unsere Arbeit einbeziehen.
  • Da wir Kindern eine Chance geben wollen, die kaum Aussicht haben, von behördlicher Seite in eine Adoptiv- oder Pflegefamilie vermittelt zu werden, wählen wir vorzugsweise Kinder aus, die älter als 6 Jahre sind und bereits erhebliche Verhaltensschwierigkeiten bieten, also Kinder, bei denen in der herkömmlichen Pflegefamilie - und ebenso in der heilpädagogischen Pflegestelle, falls diese nicht unter kontinuierlicher fachlicher Betreuung und gegenseitiger kollegialer Supervision steht - mit hohem Abbruchrisiko gerechnet werden müßte.
  • Seit 1984 bewohnt eine der Pflegefamilien ein Haus des Friedrichs-Stifts, in dem zwei Zimmer für Kurzunterbringungen anderer Pflegekinder des Projekts vorgesehen sind, falls solche wegen Krankheit der Pflegemutter oder anderer Krisensituationen notwendig werden. Weil sich diese Einrichtung sehr bewährte, hat das Friedrichs-Stift 1994 ein weiteres Haus mit gleicher Aufgabenstellung gekauft.
  • Wir leisten auch außerhalb der Dienstzeiten Beratungsarbeit und sind notfalls nachts und an Feiertagen zu sofortigen Kriseninterventionen bereit.
  • Mißerfolge werden als gemeinsame Niederlagen erlebt, die das Projekt, insbesondere deren Leiter nach außen zu verantworten haben.
  • Die Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie steht nicht in Konkurrenz zu den staatlichen Erziehungsprogrammen, sondern will im Sinne der Subsidiarität mit ihnen kooperieren, kann aber in Konfliktfällen gegenüber den Behörden als Interessenvertreter der Erzieherinnen auftreten.
  • Wir veranstalten in größeren Abständen Familientreffen, so daß die Erzieherinnen auch die anderen Kinder und diese sich gegenseitig kennen.
  • Das IPP versucht, die Vorteile des Heims (Teamarbeit, Erfahrungsaustausch, fachliche Anleitung, konzeptionelle und institutionelle Kontinuität etc.) mit den Vorteilen der Pflegefamilie (familiäre Erziehung, tiefere emotionale Bindung, kein Schichtdienst, Vermeidung von Stigmatisierungen und gegenseitigen dissozialen Infektionen etc.) zu verbinden.
  • In problematischen Fällen übernehmen die Heimleiter die Kontakte zu den leiblichen Eltern und können so die Arbeit der Erzieherinnen abschirmen.
  • Um den heranwachsenden Pflegekindern den Weg in das Erwachsenenleben zu erleichtern, bieten wir bei Bedarf über das 18. Lebensjahr hinaus unsere Hilfe in Form von Wohnungsvermittlung, Mietzahlung, Beratung und Betreuung.
  • 1993 hat das Friedrichs-Stift eine Eigentumswohnung erworben, die für betreutes Einzelwohnen dieser heranwachsenden Jugendlichen und Jungerwachsenen zur Verfügung steht.
  • Durch praxisbegleitende Aktionsforschung legen wir nach innen und außen Rechenschaft ab über die Entwicklungverläufe der Pflegekinder, über unsere Erfolge und Mißerfolge.


Inzwischen haben wir insgesamt 73 Kinder in 42 sonderpädagogischen Pflegefamilien betreut und anläßlich unseres 20-jährigen Jubiläums einen umfangreichen Rechenschaftsbericht vorgelegt (G. Eberhard u. K. Eberhard, 2000). Aus diesem Bericht werden wir im folgenden einige (aktualisierte) Vergleiche mit der Bundesstatistik referieren, die zwar nicht die strengen Erfordernisse einer von uns nicht leistbaren Erfolgskontrolluntersuchung erfüllen, aber doch einige Hinweise auf die Wirksamkeit unserer Arbeit geben.

Eines der meistzitierten Erfolgs- bzw. Mißerfolgskriterien ist das Abbruchkriterium. Leider ist es alles andere als eindeutig, weil es Abbrüche aus den unterschiedlichsten Gründen gibt: Herausnahme des Kindes durch die Personensorgeberechtigten gegen den Rat der Pflegeeltern, Auflösung des Pflegeverhältnisses wegen schwerer Erkrankung der Pflegemutter, verfrühte Rückführung in die Herkunftsfamilie aus Übergewichtung des Elternrechts gegenüber dem Kindeswohl, dauerhafte Entweichung des Pflegekindes, sonstiges Scheitern der Pflegeeltern an der Erziehungsaufgabe. Gleichwohl ist es unzweifelhaft ein positives Indiz, wenn auf Dauer angelegte Pflegeverhältnisse tatsächlich relativ dauerhaft sind.

Zunächst ein Vergleich unseres durchschnittlichen Einstiegsalters mit dem in der Bundesstatistik erfaßten:


Die Grafik zeigt, daß das Einstiegsalter im IPP deutlich höher liegt als der Bundesdurchschnitt. Das entspricht unserem Anspruch, denjenigen Kindern eine Chance zu bieten, die sonst in Gefahr gewesen wären, ins Heim zu kommen oder dort langjährig zu verbleiben.

Aus der nächsten Grafik geht hervor, daß schon bei 6 – 9-jährigen die Wahrscheinlichkeit einer Heimunterbringung größer ist als eine Vermittlung in eine Pflegefamilie. Bei 9 - 12-jährigen ist dieses Risiko bereits mehr als doppelt so hoch.


Das bedeutet für Kinder, die nie eine psychosozial intakte Familie kennengelernt haben und nie die Chance hatten, verbindliche Liebesbeziehungen zu erleben, sich später aber in familiären oder familienähnlichen bzw. zwischenmenschlichen Beziehungen bewähren sollen, die Gefahr einer inkompensablen Erfahrungslücke.

Schon aus diesem Grund werden dringend Pflegefamilien gebraucht, die wie die Pflegefamilien des IPP bereit und fähig sind, auch ältere verhaltensgestörte Kinder langfristig aufzunehmen (zum Vorrang der Familienpflege vor der Heimpflege vgl. Salgo, 1991). Die gegenwärtige Überbetonung des Elternrechts kombiniert mit der Sparpolitik im Sozialbereich ist demgegenüber dazu angetan, die Kinder so lange in überforderten Familien oder auf der Straße zu lassen, bis sie in einschlägig belegten Heimen, Jugendgefängnissen oder jugendpsychiatrischen Kliniken landen.

Die Frage, ob es dem IPP gelungen ist, seinen Kindern langfristige Pflegeverhältnisse zu bieten, beantwortet die nächste Grafik.


Dieser Vergleich leidet darunter, daß in der Bundesstatistik die von vornherein als kurzzeitige Unterbringungen geplanten Pflegeverhältnisse eingerechnet sind, zeigt aber doch sehr deutlich, daß das IPP relativ viele dauerhafte Pflegeverhältnisse vorweisen kann, also dem am häufigsten reklamierten Mangel der Pflegeerziehung, nämlich dem hohen Abbruchrisiko erfolgreich entgegengewirkt hat. Über 60% der von uns aufgenommenen Kinder verbringen mehr als 5 Jahre im IPP. Das sind mehr als doppelt so viele langfristige Pflegebeziehungen als in der Bundesstatistik, die diesbezüglich in den letzten Erfassungszeiträumen mit 27,1% (1991), 30,3% (1993) und 26,6% (1996) recht konstant liegt. Das ist auf dem Hintergrund des relativ hohen Einstiegsalters im IPP ein sehr bemerkenswertes Resultat.

Wir haben nicht nur relativ alte, sondern auch relativ schwierige Kinder aufgenommen, nämlich nach der Terminologie des Jugendhilfegesetzes seelisch behinderte. In einer Untersuchung von Koppe, Malter u. Stallmann (1999), die körperlich, geistig und seelisch behinderte Pflegekinder umfaßte,  zeigte sich, daß die Pflegeverhältnisse mit seelisch behinderten bedeutend seltener eine Pflegedauer von 5 Jahren überschritten.

Auch Parker (1966) und Blandow (1972) werteten Pflegeverhältnisse, die 5 Jahre oder länger halten, als Erfolge. Parker meldete 52%, Blandow 60% Erfolge. Unter dem gleichen Kriterium berichtete die Kommission Heimerziehung (1977, S. 241) für Pflegekinder, die 4-jährig aufgenommen wurden, eine Mißerfolgsquote von 50%, für die mit 8 Jahren aufgenommenen sogar eine Mißerfolgsquote von 75%.

Das IPP hat, gemessen am 5-Jahreskriterium, 62% ‘Erfolge’ und nur 38% ‘Mißerfolge’ - ganz unabhängig davon, wie diese Abbrüche zustandegekommen sind. Abbrüche, die wir im Rückblick als Scheitern im eigentlichen Sinne beurteilen, traten in 5 Fällen ein:

  • zwei Mädchen gerieten in Psychosen mit Suicidgefahr, denen wir mit unseren ambulanten Möglichkeiten nicht gewachsen waren.
  • zwei Jungen, die sich schon vorher prostituiert hatten, kehrten auf den Straßenstrich zurück; sie sollten eigentlich in ein sonderpädagogisches Heim mit geschlossener Abteilung, das aber nicht zur Verfügung stand.
  • ein sehr bindungsunfähiges Mädchen, das wir leider erst im 13. Lebensjahr aufnehmen konnten, unterhielt weiterhin parasitäre Kontakte zu ihrer extrem verwöhnenden ersten Pflegemutter, geriet im 15. Lebensjahr in ein dissoziales Milieu und tauchte unter.

Gleichwohl glauben wir auch in diesen Fällen, wichtige Arbeit geleistet zu haben. Jeder Monat in einer Pflegefamilie schützt besser als ein Heim vor dissozialisierenden Einflüssen und ist ein für die spätere Zukunft bedeutsames Praktikum im komplizierten Lebensfeld einer sozial integrierten Familie.

Wenn man aus den Problemen heraus will, die mit dem relativ objektiven, aber auch sehr vieldeutigen Abbruchskriterium verbunden sind und nach einem sinnvolleren, notfalls weniger objektiven Erfolgskriterium sucht, gerät man in ein anderes Dilemma:

  • Messen wir die Ergebnisse unsere Arbeit daran, was die Kinder erreicht hätten, wenn sie von Anfang an in liebevollen und halbwegs geordneten Familien aufgewachsen wären, waren wir in keinem Fall erfolgreich; die frühkindlichen emotionalen Beschädigungen waren bei allen unseren Schützlingen auch nach der Entlassung noch deutlich sichtbar.
  • Andererseits ist auch bei jedem und jeder unserer Heranwachsenden erkennbar, in welcher Weise sie oder er von unserer Arbeit profitiert hat; oft bestätigt durch einen Vergleich mit Geschwisterkindern, die in der Herkunftsfamilie blieben oder langjährige Heimaufenthalte erlebten.

Das leitet von der globalen Frage nach der Erfolgsquote zu der differenzierteren Frage über, in welchen Persönlichkeitsbereichen wir Erfolg hatten und in welchen nicht.

Dazu können wir aus kasuistisch angelegten Trendanalysen referieren. Aus einer gründlichen Vorstudie resultierte ein Entwicklungsbogen mit 78 psychosozialen Merkmalen. Die Fragen dieser Entwicklungsbögen wurden in Explorationsgesprächen (Interviewer waren Studentinnen und Studenten der Sozialpädagogik) von den Pflegeeltern in größeren zeitlichen Abständen (ca. 12 Monate) wiederholt beantwortet. Bei 16 Kindern wurden mindestens 3 Zeitstationen (bei 6 Kindern 3, bei 4 Kindern 4, bei 6 Kindern 5 Zeitstationen) erreicht, so daß sich Aufwärts- bzw. Abwärtstrends feststellen ließen. Als Aufwärtstrend (im sozial positiven Sinne) galt bei 3 Stationen, wenn der dritte Wert günstiger war als der erste; bei 4 und 5 Stationen, wenn der Mittelwert der letzten beiden günstiger war als der Mittelwert der ersten beiden. Ergab sich nach dieser Definition kein positiver Trend, wurde er als negativ gewertet.

Trotz der kleinen Stichprobe resultierten bei 21 von den insgesamt 78 Merkmalen statistisch signifikante Aufwärtstrends (6 auf dem 1% Niveau, 15 auf dem 5% Niveau), die wir interpretativ drei Merkmalssyndromen zugeordnet haben.

Merkmale mit signifikant positivem Entwicklungstrend

I. soziale Anpassung nach außen

Tendenz zum Stehlen
Probleme mit Nachbarn
Probleme mit Institutionen und formellen Gruppen
Schwierigkeiten, akzeptiert zu werden
destruktives Verhalten
dissoziale Kontakte
Probleme mit Gleichaltrigen
Verhaltensstörungen
Probleme im Verein

II. Zugang zu eigenen Gefühlen

motorische Unruhe
Schwierigkeiten beim Ausdruck von Gefühlen
unsorgfältig mit sich selbst
Schwierigkeiten im Austausch von Zärtlichkeit
Probleme mit der Geschlechtsrolle
mangelhaftes Einfühlungsvermögen
Distanzlosigkeit

III. Familiäre Identität in der Pflegefamilie

Probleme mit der Rolle als Pflegekind
Probleme mit Beruflichkeit des Erziehungsverhältnisses
Probleme mit der Bezahlung der Erziehungsarbeit
problematisches Verhältnis zu Verwandten der Pflegefamilie
problematisches Verhältnis zur Ursprungsfamilie

Demgegenüber zeigte sich bei keinem Merkmal ein signifikanter Abwärtstrend. Geringe (nicht-signifikante) negative bzw. nicht-positive Entwicklungen fanden sich bei folgenden Merkmalen, die sich zwei Merkmalssyndromen zuordnen lassen:

Merkmale mit negativem bzw. nicht-positivem Entwicklungstrend

IV. Bindungsprobleme

Tendenz zu Mißtrauen
Probleme mit dauerhaften Beziehungen
Probleme mit Partnerschaftsbeziehungen
Probleme mit den Pflegeeltern
taktisches Lügen
mangelhafte Konfliktfähigkeit

V. Impulsivität und Labilität

Gefühlsschwankungen
mangelhafte Frustrationstoleranz
Unordnung
unwirtschaftlicher Umgang mit Geld
Suchttendenzen
Tendenz zu Ängsten
Tendenz zu psychosomatischen Reaktionen

Resümierende Auswertung der Merkmalssyndrome

Daß wir die Bindungsprobleme unserer Kinder meist nicht heilen konnten, entspricht den Einsichten und Prognosen der Bindungstheoretiker (bes. John Bowlby, Mary Ainsworth, René Spitz und Klaus Hartmann).

Impulsivität und Labilität sind die direkten Folgen der Bindungsschwäche. Triebe und Gefühle bedürfen der haltgebenden Bindungen.

“Eher scheinen die Gründe für die Aufnahme in ein Pflegeverhältnis, speziell Mißbrauch und Vernachlässigung, darauf hinzuweisen, daß frühe Erfahrungen der Pflegekinder, aus der Zeit vor dem Eintritt in das Pflegeverhältnis, profunde Auswirkungen auf ihre Erziehungsfähigkeit in der mittleren Kindheit haben. Dementsprechend erfordert es mehr als ‘normales’ Familienleben und ‘normales’ elterliches Interesse, um frühere defizitäre Erfahrungen zu kompensieren.” (Colton, Heath, 1999, S. 779)

Wegen der nach dem 10. Lebensjahr rasant abnehmenden Formbarkeit der emotionalen Grundstrukturen (vgl. Nash, 1999; Greenspan, 1999) ist es so wichtig, rechtzeitig mit der kompensatorischen Arbeit zu beginnen und sie auf der Basis liebevoller Dualbeziehungen auf die Persönlichkeitsbereiche zu konzentrieren, die sich als formbar erwiesen haben. Das sind nach unseren Erfahrungen einerseits die äußere Anpassung und die emotionale Reflexion andererseits. Deshalb ist das IPP nicht nur pädagogisch, sondern betont psychotherapeutisch ausgerichtet. Kinder und Jugendliche, die Zugang zu ihren emotionalen Eigenarten haben, sie in ihrer Herkunft verstehen und darüber reden können, kommen mit sich und anderen besser aus, als solche, die Illusionen über sich hegen und damit die Ablehnung der Umwelt provozieren. Seelische Behinderungen bedürfen ebenso wie körperliche und geistige der Akzeptanz von innen und außen.

Anläßlich unseres 20-jährigen Jubiläums haben wir ferner mit den Mitteln qualitativer Sozialforschung die Projekterfahrungen der Pflegeeltern erkundet. Da wir im vorliegenden Rahmen darüber nicht referieren können, verweisen wir auf die bereits genannte Dokumentation (G. Eberhard u. K. Eberhard, 2000).

Literatur:

  1. Ainsworth, M.: The effects of maternal deprivation: a review of findings and controversy in the context of research strategy. In: Deprivation of maternal care. A ressessment of its effects. WHO Genf 1962
  2. Blandow, J.: Rollendiskrepanzen in der Pflegefamilie. München 1972
  3. Blandow, J.: Hilfen zur Erziehung außerhalb des Elternhauses. Stationäre Erziehungshilfen auf dem statistischen Prüfstand. In: Rauschenbach, T.; Schilling, M.: Die Kinder- und Jugendhilfe und ihre Statistik, Bd. II. Neuwied 1997
  4. Blandow, J., Frauenknecht, B.: Dauerpflege, Adoption und Tagesbetreuung. München 1980
  5. Bowlby, J.: Maternal Care and Mental Health. Genf: WHO-Monogr. Ser. No. 2. 1951
  6. Bowlby, J.: Attachment and loss, Vol. 1: Attachment. New York 1969
  7. Bowlby, J.: Attachment and loss, Vol. 2: Separation. New York 1973
  8. Colton, M., Heath, A.: Erziehung in Langzeitpflege-Verhältnissen. In: Colla u.a. (Hrsg.): Handbuch Heimerziehung und Pflegekinderwesen in Europa. Neuwied 1999
  9. Eberhard, K.: Einführung in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie (2.Aufl.). Stuttgart 1999 
  10. Eberhard, K., Eberhard, G.: Aktionsforschung als Grundlage der Pflegeelternausbildung. In: Neue Praxis, H. 2, 1996
  11. Eberhard, G., Eberhard K.: Das Intensivpädagogische Programm - ein Aktionsforschungsprojekt für psychisch traumatisierte Kinder und Jugendliche in sozialpädagogisch und psychotherapeutisch betreuten Pflegefamilien. Idstein/Wörsdorf 2000
  12. Greenspan, S. I.: Die bedrohte Intelligenz – Die Bedeutung der Emotionen für unsere geistige Entwicklung. München 1999
  13. Hartmann, K.: Theoretische und empirische Beiträge zur Verwahrlosungsforschung (2. Aufl.). Berlin 1977
  14. Hartmann, K.: Lebenswege nach Heimerziehung. Freiburg 1996
  15. Janze, N.: Vollzeitpflege im Wandel. Pflegeverhältnisse jenseits von Kurzzeit- und Dauerpflege. In: KOMDAT Jugendhilfe, H. 2, 1998
  16. Kommission Heimerziehung: Zwischenbericht der obersten Landesjugendbehörden und der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege. Heimerziehung und Alternativen – Analysen und Ziele für Strategien. Frankfurt 1977
  17. Koppe, S., Malter, C., Stallmann, M.: Zur Situation von Familien mit behinderten Pflegekindern. In: Forum Jugendhilfe H. 1, 1999
  18. Nash, M.: Fruchtbarer Geist. In: Mittendrin, H. 2, 1999 – gekürzte Übersetzung von Sell und Heymann: How a childs brain develops. Time Magazine, Vol. 149, No 6, 1997
  19. Parker, R.: Decision in Child Care. A Study of Prediction in Fostering. London 1966
  20. Salgo, L.: Die Regelung der Familienpflege im KJHG. In: Wiesener, R., Zarbock, W. (Hrsg.): Das neue KJHG und seine Umsetzung in der Praxis. Köln 1991
  21. Spitz, R.: Hospitalism. Psychoanalytic Study of the child, I. New York: Int. Univ. Press 1945
  22. Spitz, R.: Analytic Depression. Psychoanalytic Study of the child, II. New York: Int. Univ. Press 1946
  23. Statistisches Bundesamt (Hg.): Fachserie Sozialleistungen, Reihe: 4 Hilfe zur Erziehung außerhalb des Elternhauses. Wiesbaden 2000
  24. Wichern, J. H.: Sämtliche Werke Bd. VII, (Hg.) Peter Meinhold: Die Schriften zur Pädagogik, 1975

In: 2. Jahrbuch des Pflegekinderwesens, Schulz-Kirchner-Verlag; Idstein 2001

ausgezeichnet mit dem Förderpreis der Stiftung Zum Wohl des Pflegekindes

 

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