FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2003

 

Wilma Weiß

Philipp sucht sein Ich
– zum pädagogischen Umgang mit Traumata in den Erziehungshilfen

Beltz-Votum-Verlag,
Weinheim, 2003
(200 S., 14,90 Euro)

 

Wilma Weiß ist Diplompädagogin und Diplomsozialpädagogin und notiert über ihre beruflichen Erfahrungen:
„Ich arbeite heute in einem Fachdienst Hilfe gegen sexuelle Gewalt, einer Einrichtung der Erziehungshilfen, fast 20 Jahre war ich in der öffentlichen Jugendhilfe - in der sozialen Gruppenarbeit, als Mitarbeiterin des allgemeinen sozialen Dienstes und als Beraterin in einer Erziehungsberatungsstelle - tätig.“ (S. 17)

Ihr soeben erschienenes Buch ist von erheblicher berufsgeschichtlicher Bedeutung: es ist der erste wirklich beeindruckende Versuch, das für alle Erzieher hochrelevante traumatheoretische Paradigma in die Heimpädagogik zu importieren.

Die interdisziplinäre, Theorie und Praxis überblickende Sichtweise läßt sich schon aus dem Inhaltsverzeichnis ersehen :
A Das Trauma
1 Was Kindern alles widerfahren kann - über die verschiedenen Traumata
1.1 Die Vernachlässigung
1.2 Die seelische Misshandlung
1.3 Die körperliche Misshandlung
1.4 Die häusliche Gewalt
1.5 Die traumatische Sexualisierung
1.6 Die traumatische Trennung
2 Die Mittlerfaktoren und die protektiven Faktoren
3 Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen
3.1 Wer bin ich eigentlich?
3.2 Was schwer zu lösen ist
3.3 Jedes Verhalten hat einen Grund [mit Unterkapitel Physiologische Symptome]
4 Exkurs: Das Trauma - eine Geschichte von Akzeptanz und Verleugnung
4.1 Freuds Entdeckung
4.2 Traumata in Folge von Krieg und Faschismus
4.3 Sexuelle Gewalt gegen Frauen
4.4 Traumatische Erfahrungen von Mädchen und Jungen
5 Schlussfolgerungen
B Die Aufgaben der Pädagogik
6 Im Wissen der Herkunft die Zukunft gestalten
6.1 Trennung als Chance
6.2 Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar?
6.3 Zwischen Herkunft und Zukunft
7 Kontinuierliche Bezüge sichern
8 Der bin Ich. Die pädagogische Unterstützung zur Selbstfindung
8.1 Selbstbewusstheit. Selbstkontrolle und Selbstwirksamkeit
8.2 Transparenz und Partizipation als Quelle der Selbstwirksamkeit
9 Jana und Philipp - über geschlechtsreflektierende Pädagogik und Sexualpädagogik
9.1 Die Geschlechterdifferenz
9.2 Die Sexualität
9.3 Die Enttabuisierung sexueller Gewalt
10 Therapeutisches »Know how« integrieren
10.1 Die Minimierung von Belastungen durch die Pädagogik
10.2 Die therapeutische Unterstützung
10.3 Über die Zusammenarbeit von Pädagogik und Therapie
11 Schutz und Sicherheit gewährleisten
11.1 Die Elternarbeit
11.2 Körperliche und sexuelle Übergriffe von professionellen Bezugspersonen
12 Schlussfolgerungen
C Zum professionellen Umgang mit Traumata
13 Auf sich selbst zurückgeworfen - Potenzielle Belastungsfaktoren
13.1 Die Konfrontation mit ungewohntem Verhalten
13.2 Die Bedeutung biografischer Erfahrungen
13.3 Trauma ist ansteckend
13.4 Im Dickicht der Institution
14 Drei Grundkompetenzen für professionelles Handeln
14.1 Sachkompetenz zur Verfügung stellen
14.2 Über Selbstreflexion
14.3 Die Selbstfürsorge
15 Strukturelle Anforderungen
15.1 Kompensatorische Schutzfaktoren
15.2 Auf die Leitungsebene kommt eine zentrale Gestaltungsaufgabe zu
15.3 Gesellschaftliche Fragen
16 Schlussfolgerungen
Schlussbemerkungen
Anmerkungen
Glossar
Literaturverzeichnis

Einige unsystematisch herausgegriffene Zitate sollen die überzeugende Fachkompetenz der Autorin und ihren bewundernswerten Mut zum unkonventionellen Denken belegen (Hervorhebungen vom Rezensenten):

„Philipp, Jana, Sabine, Julia und Michael kennen die Geborgenheit oder das Urvertrauen nicht, das Menschen ein Leben lang tragen kann und sollte. Sie kennen das Urvertrauen als Basis aller Beziehungen und Werte nicht. Sie sind unsicher, unsicher ambivalent und unsicher-vermeidend gebundene (vgl. Ainsworth 1978) Kinder. ....
Der Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert spricht bei frühen Bindungsstörungen von massiven Beeinträchtigungen, »... die selbst bei hohem persönlichen helferischen Einsatz jahrelang problematische Verläufe, die einer seelischen Behinderung gleichkommen, erwarten lassen« (Fegert, 1996). Im ICD 10 wird diese Beeinträchtigung als »reaktive Bindungsstörung des Kindesalters« und als »Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung« benannt. Misshandelte und/oder vernachlässigte Kinder neigen zu desorganisierten Bindungsmustern, zu einer Mischung von Vermeidung und Ambivalenz. Der massive Vertrauensverlust macht ihnen das Eingehen von Beziehungen fast unmöglich. Bei Kindern kann man ein gewisses Maß an Vertrauen voraussetzen, bei chronisch traumatisierten Mädchen und Jungen niemals. Lieblosigkeit und inkonstante Beziehungen sind die Ursachen, die die Entwicklung einer zuverlässigen inneren Sicherheit unmöglich machen. ....
Behindernde Bindungen (vgl. Nienstedt/Westermann, l989) können die Entwicklungschancen der Mädchen und Jungen sehr beeinträchtigen. Die Idealisierung der Eltern und die Identifizierung mit dem Erziehungsverhalten der Eltern ist bei den Mädchen und Jungen am stärksten ausgeprägt, die die intensivsten Gewalterfahrungen gemacht haben.“ (S. 40/41)

„Nach zehn Jahren arrangiert das Jugendamt einen Kontakt zur Mutter, die wiederum mit ihrer Herkunftsfamilie, deren Beteiligung an dem massiven Missbrauch der Kinder letzten Endes ungeklärt bleibt, in Verbindung steht. Maria kann sich vor den negativen Erinnerungen und Bedrohungen nicht schützen. Viel später erzählt sie, dass ihre Gefühle bei dem Besuch wie betäubt waren. Sie hatte trotz des sehr bedrohlichen Umfeldes keine Angst um sich. Sie war nicht in der Lage, über die Bedrohung zu reden und Hilfe, von der sie weiß, dass sie sie bekommen hätte, zu holen. Maria macht einen Suizidversuch mit allen möglichen greifbaren Tabletten.
Eine große Anzahl von Untersuchungen bestätigen, dass Menschen mit PTBS auf belastende Erinnerungen mit signifikant erhöhter Herzfrequenz, erhöhter Leitfähigkeit der Haut und erhöhtem Blutdruck reagieren. Die exzessive Stimulation des zentralen Nervensystems zum Zeitpunkt der Traumatisierung kann zu permanenten neuronalen Veränderungen führen. Infolge dessen ist die Fähigkeit, relevante und irrelevante Stimuli zu unterscheiden, beeinträchtigt. Affektiv neutrale, aber existenziell relevante Geschehnisse werden weniger beachtet. Als Konsequenz dieses relativen Mangels an Reaktionsbereitschaft benötigen Kinder mit PTBS mehr Anstrengung, um auf die gewöhnlichen Erlebnisse zu reagieren, ihre Reaktionszeit ist verzögert. .... Bei sexuell missbrauchten Mädchen wurden grundlegende neuroendokrine Störungen, insbesondere der Schilddrüsenfunktion festgestellt. Weiterhin gibt es einen Verlust der normalen Synchronisation der elektrischen Aktivität der verschiedenen kortikalen Gebiete. Störungen im EEG der linken Hemisphäre waren besonders auffällig (vgl. van der Kolk u.a., 2000).“ (S. 47)

„Oft ist die Trennung von einem gewalttätigen und vernachlässigenden Elternhaus eine notwendige Bedingung für viele Mädchen und Jungen, um unter günstigeren Bedingungen aufzuwachsen, frühe Traumatisierungen zu verarbeiten und die Behinderungen in der Persönlichkeitsentwicklung zu korrigieren. Ob diese Trennung zur Chance wird, hängt auch von der Berücksichtigung folgender Punkte ab:
1. Wenn die Existenz bestehender psychischer Bindungen, die Existenz von Angstbindungen, Parentifizierungen und die Geschichte der Kinder nicht berücksichtigt werden, stehen dieser Chance neue Gefährdungen bzw. Behinderungen entgegen.
2. Retrospektive Nachfragen belegen, daß die Bewertung de Heimerziehung auch davon abhängig ist, ob die Mädchen und Jungen die Trennung als Unglück, Unrecht oder Rettung bewerten.“ (S. 70)

„Es gibt unterschiedliche Methoden der individuellen Auseinandersetzung mit der Herkunftsfamilie. Sie begleitet den pädagogischen Alltag durch Telefonate und Briefe der Eltern und durch persönliche Kontakte. Manchmal ist sie ein innerer Dialog mit Unterstützung einer Therapeutin, manchmal Genogramm- oder Biographiearbeit, die Vorbereitung des eigenen Geburtstagsfestes oder die Auseinandersetzung mit den realen Eltern. Ob nun PädagogInnen oder TherapeutInnen diesen Weg unterstützen, die Voraussetzung dafür ist eine tragfähige Beziehung zwischen dem Kind und der Bezugsperson, der Schutz vor weiteren Mißhandlungen und die Beachtung der inneren Möglichkeiten des Kindes.“ (S. 75)

„Das Heim gilt dann als akzeptable Alternative, wenn sie eine exklusive Beziehung - auch zu den anderen Mädchen und Jungen - aufbauen konnten. Sie wollen Zugehörigkeit herstellen. Ihr Wohlbefinden und ihre Leistungsmöglichkeit sind in hohem Maße von dem Gegenüber, d.h. von der Beziehung abhängig: »Die Bewertung des Heims ist daher im Wesentlichen mit der Bewertung der konkreten Beziehungen zu den Erziehern deckungsgleich« (Wieland u.a., 1992). Jeder Abbruch von Beziehung - vielleicht aus der Organisationslogik heraus durchaus vernünftig - wird von den Mädchen und Jungen als Verlust beschrieben (vgl. Wolf, 2000). Die exklusive Beziehung kann die Nachteile bzw. Spannungen der institutionellen Bedingungen - Schichtdienst, PädagogInnenwechsel, Beziehung als Broterwerb - teilweise ausgleichen. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass PädagogInnen sich über institutionelle Verpflichtungen hinwegsetzen, wenn die Bedürfnisse der Mädchen und Jungen dies erfordern (vgl. Wieland u.a., 1992).“ (S. 82/83)

„Der konsequenten Reaktion gegenüber schwierigen Kindern stellt Mehringer ’das heilpädagogische Tun des Ertragens’ gegenüber. Es geht darum, daß die Mädchen und Jungen dabei den unbewußten oder auch früheren Sinn ihrer Verhaltensweisen erkennen. PädaogInnen können Kinder wie Jana und Philipp dabei unterstützen, selbstschädigende (Ritzen etc.) oder fremdschädigende (z.B. sexualisierte Gewalt) Verhaltensweisen aufzugeben, indem sie das Verständnis für das eigene Verhalten fördern und dann mit ihnen alternative Verhaltensmöglichkeiten erarbeiten.“
(S. 87)

„Zu den vielfältigen Möglichkeiten, die die Selbstheilungskräfte der traumatisierten Kinder durch Pädagogik fördern, gehören entspannende Aktivitäten, die Erfahrung eigener Stärke, Entspannungsverfahren und eine Pädagogik, die gute Körpererfahrungen zum Inhalt hat.“ (S. 119)

„In der Familientherapie besteht die Gefahr, daß einzelne Familienmitglieder mit ihrer individuellen Psychodynamik – hier die Kinder als die schwächsten – nicht genügend berücksichtigt werden. Sie werden oft als Symptomträger bezeichnet. Dieses Konzept wie auch das Konzept ’Patient Familie’ bergen die Gefahr, daß die Korrektur und die Aufarbeitung von traumatischen Erfahrungen des Kindes nicht im Mittelpunkt stehen, sondern die allgemeine Verbesserung der Kommunikationsstrukturen der Familie.“ (S. 120)

„Pädagogische Kompetenz beinhaltet auch die Integration therapeutischer Methoden. Das traumatisierte Kind ist auch im pädagogischen Alltag ein traumatisiertes Kind. Die PädagogInnen brauchen das Wissen um die Ursachen und Auswirkungen von Traumatisierungen, sie brauchen auch therapeutisches Wissen. Das Kind braucht die innerhalb der Alltagspädagogik mögliche Unterstützung zur Heilung. Es braucht auch die Möglichkeit zur Aufarbeitung der Kerntraumatisierung, wiedergutmachende und korrigierende Erfahrungen im klassischen Setting der Therapie.“ (S. 122)

„Die Überlegungen zur Rückführung und bereits die Planung von Besuchen der Kinder zu Hause müssen sich von der Maxime der äußeren und inneren Sicherheit der Kinder leiten lassen. Mögliche Auswirkungen der Wiederbelebung von traumatischen Familienerfahrungen und chaotischen Familienerfahrungen auf die Entwicklung des Kindes sind zu berücksichtigen (vgl. Nienstedt/Westermann, 1989}. Die rechtliche Grundlage hierfür ist das staatliche Wächteramt. Ein Vorrang der Rückkehroption ist an die Verbesserung der elterlichen Erziehungsverantwortung gebunden, die im Kontext von chronischer und mehrfacher Traumatisierung - wenn überhaupt - nicht ohne große Anstrengungen zu erreichen ist.“ (S. 124)

„Gerade wenn wir von einer großen Bedeutung auch der traumatisierenden Eltern für die Entwicklung der Kinder ausgehen, können diese Anteile nicht ausgeblendet werden. ’Wenn gewisse systemische Vorannahmen die Familie über alles andere stellen, wird das Kind leicht überfordert oder sogar weiteren Benachteiligungen ausgesetzt’ (Frommann, 2000).“ (S. 125)

„Die vielfältigen Möglichkeiten der Pädagogik bei der Bewältigung von Traumata können traumatisierten Mädchen und Jungen andere Perspektiven für eine gelingendere Lebensbewältigung eröffnen. Dazu gehört vor allem die Unterstützung einer kognitiven Bewältigung der belastenden Erfahrungen als Selbstbefreiungsprozeß. Eine, vielleicht die wesentliche Grundlage dieses Selbstbefreiungsprozesses ist die Sicherung kontinuierlicher Beziehungen.“
(S. 129)

„Mit der Reflexion der eigenen biographischen Erfahrungen soll die Gefahr, daß traumatisierte Mädchen und Jungen von professionellen HelferInnen zur Bearbeitung selbst erlebter Traumata benutzt werden, eingeschränkt werden. Die Reflexion des eigenen Kinderlebens ist Voraussetzung dafür, daß die traumatischen Erfahrungen der Mädchen und Jungen nicht durch eine (unbewußte) Abwehr der PädagogInnen verleugnet oder nicht wahrgenommen werden.“ (S. 139)

„Eine professionelle Auflösung der in Übertragung und Gegenreaktion entstandenen Beziehungsfalle erfordert die Reflexion der Gefühle. Diese ist Voraussetzung für die Klarheit der PädagogIn in ihrem Beziehungangebot, vor allem in der Begrenzung ihres Angebotes. Hilfreich können erste Erfahrungen über Entlastung und Erleichterung durch die Reflexion der Gegenübertragungsreaktionen, insbesondere der tabuisierten aggressiven und sexuellen Impulse, in Balint- oder Supervisionsgruppen sein.“ (S. 147)

„Ohnmachtsgefühle und Überforderungssyndrome beschreiben die Pädagoglnnen auch dann, wenn sie bei vermuteter massiver Kindeswohlgefährdung die Kinder jedes zweite Wochenende nach Hause entlassen müssen. Sie wissen, was den Kindern geschieht und können diese nicht schützen. Nach längeren Aufenthalten zu Hause, z.B. in den Ferien, sind die Kinder so verändert, dass die Pädagoglnnen das Gefühl haben, sie müssen von vorne anfangen. .... Hier bewegen sich die professionellen HelferInnen in dem kräftezehrenden Spannungsfeld Kindeswohl/Elternrecht bzw. eines ungenügenden Opferschutzes. Sie sind in der Sicherstellung des Kindeswohls auf die Zusammenarbeit mit der öffentlichen Jugendhilfe, dem Jugendamt und auf die Justiz angewiesen. Eine interdisziplinäre Zusammenarbeit, die z.B. die Garantenstellung der Jugendhilfe in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellt, die vielen Aspekte fachlicher und sozialer Wirklichkeitskonstruktionen berücksichtigt und die Verbesserung der Situation traumatisierter Kinder zum Ziel hat, steckt in den Kinderschuhen.

Handlungsleitende einseitige Interpretationen von Normen der Jugendhilfe tragen zur Verunsicherung der professionellen HelferInnen bei. .... Eine einseitige Interpretation des § 37 KJHG bevorzugt die Rückkehroption. Gute Unterbringungen sind möglichst kurz. Wie aber ist dann eine konstante Beziehung als Grundlage der Korrektur traumatischer Erfahrungen zu realisieren? Die PädagogInnen sorgen sich um die Mädchen und Jungen, die sie vielleicht zu früh ohne Unterstützung in eine unsichere Zukunft entlassen müssen (vgl. Mitransky 1990). Größte Verunsicherung ruft die Frage hervor, welche Zukunft überhaupt eine im Sinne der Mädchen und Jungen parteiliche Jugendhilfe hat angesichts um sich greifender Sparmaßnahmen und des Rückzuges des Staates aus der sozialen Verantwortung.“ (S. 152/153)

„Die Berufsbindung der im Rahmen meiner Studie befragten PädgogInnen hatte – trotz oder vielleicht wegen eines sehr hohen Einflusses auf das Privatleben – nicht nachgelassen. Alle wollen in der Heimerziehung bleiben, diese zwar verändern, aber bleiben. Zumindest haben die PädagogInnen mit hoher Verweildauer in der Heimerziehung und hoher Arbeitszufriedenheit Beruf und Privatleben sehr bewußt verbunden.“ (S. 160)

„Mit der Ausbildung ist die Berufsbildung nicht abgeschlossen. Zum Erwerb beruflicher Identität führen zusätzlich Berufserfahrung, das Erleben gelingender und misslingender Handlungsprozesse, die Reflexion in Supervision und kollegialen Besprechungen. Grundqualifikationen im Sinne einer Analyse- und Reflexionsfähigkeit, Sensibilisierung für Fremdheitssituationen und auch Techniken, die das Handeln erleichtern, sollten allerdings während des Studiums schon entwickelt werden. Auf Grund der ständig anwachsenden und sich verändernden Kenntnisse sind die berufsbegleitende Fortbildung und die Supervision zur Integration des Wissens in die Handlungskompetenz ein unverzichtbarer Bestandteil der Sicherung von Professionalität.“ (S. 164)

„Wenn auch in einigen Teams das Vertrauen so groß und die Bewertung der beruflichen Tätigkeit so weitreichend sind, daß persönliche Erlebnisse und/oder tabuisierte Gegenübertragungsgefühle in der Teamsupervision thematisiert werden können, sollten ergänzend einrichtungsfremde Formen von Supervision für die PädagogInnen in Erziehungshilfen – ähnlich der Balintgruppen für PädagogInnen an Schulen – angeboten werden.“ (S. 165)

„Wie helfen wir traumatisierten Kindern an besten? Indem wir Familie erhalten, möglichst schnell zurückführen? Müßte hier nicht noch ein Perspektivenwechsel erfolgen, zumindest für die Kinder, die geschlagen, sexuell mißbraucht, vernachlässigt, seelisch mißbraucht werden und Gewalt des Vaters gegen die Mutter miterleben müssen? Nicht die Rückkehroption sollte im Vordergrund der Hilfe stehen, sondern die bestmögliche Bewältigung der beeinträchtigenden Erfahrungen ... “ (S. 176)

In auffälligem Kontrast zur Fähigkeit der Autorin, die unterschiedlichsten Aspekte der schwierigen Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen in den Blick zu nehmen, steht ihre totale Ignoranz gegenüber dem Pflegekinderwesen, das aber genauso zu den Erziehungshilfen des KJHG gehört wie die Heimerziehung, und in dessen Rahmen sich ihre traumatheoretisch begründeten Desiderate viel leichter erfüllen lassen als in der institutionellen Heimpädagogik. Hierzu eine verräterische, weil ohne jede Begründung hingesetzte Behauptung:

„Kinder, die sexueller Gewalt, massiver körperlicher Mißhandlung oder lebensbedrohender Vernachlässigung ausgesetzt sind, können nur in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe betreut und geschützt werden“ (S. 171) - ein peinliches Fehlurteil: in psychotherapeutisch supervidierten heilpädagogischen Pflegefamilien sind gerade psychisch traumatisierte Kinder wesentlich besser aufgehoben als in noch so gut geführten Heimen, weil diese vielleicht gute Beziehungsarbeit, aber keine liebevolle familiäre Geborgenheit mit dauerhaften Dualbindungen bieten können (s. Malter/Eberhard; Eberhard/Malter; Malter).

Trotz dieser wahrscheinlich berufspolitisch motivierten Ausblendung der heilpädagogischen Pflegefamilie ist die herausragende Monographie von Wilma Weiß für alle Erzieher sehr lesenswert und sollte besonders für alle Heimerzieher zur Pflichtlektüre werden, erst recht für alle Leitungskräfte, die im pädagogischen Bereich Verantwortung tragen.

(Kurt Eberhard, Februar 2003)

 

s.a. Sachgebiet Traumaforschung

 

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