EMDR ist die Abkürzung für 'Eye Movement Desentization and Reprocessing'. Die operationale Umschreibung der 'Augenbewegungen' lautet:
"Schnelle bilaterale Augenbewegungen werden zur Kontaktierung, Verarbeitung und Integration der Ziel-Erinnerung benutzt. Der Therapeut induziert die Augenbewegungen, indem er den Klienten auffordert, den Bewegungen seiner Finger zu folgen (oder den Bewegungen eines anderen Objekts, beispielsweise eines Stifts oder eines Zeigestabs). Dies geschieht gewöhnlich in einer Geschwindigkeit von einer Hinundherbewegung pro Sekunde, insgesamt 20 bis 30 Bewegungszyklen pro Serie, wobei sich die Zeigehand in einem Abstand von etwa 70 cm vom Gesicht des Klienten entfernt bewegt, wobei hinsichtlich der Geschwindigkeit, des Abstandes vom Gesicht, der Bewegungsrichtung und der Dauer der einzelnen Serien eine beträchtliche Variationsbreite besteht. Auch andere Arten alternierender Stimulation (z. B. mit Hilfe von Klängen oder Berührungen) können zur Anwendung kommen, falls Augenbewegungen als ungeeignet erscheinen. Generell sollten die Augenbewegungen oder die anderen Arten alternierender Stimulation so lange fortgesetzt werden, bis der Klient einen bestimmten Teil der betreffenden Erinnerung durchgearbeitet und eine neue Verständnisebene erreicht hat. Zunächst bestimmt der Therapeut den Punkt, an dem die Augenbewegungen unterbrochen werden, durch Beobachtung der Körpersprache des Klienten; später entwickelt der Klient oft selbst ein Gefühl für den richtigen Zeitpunkt zur Unterbrechung der Stimulation." (S.141/142)
Zur Veranschaulichung ein Protokoll aus der Behandlung eines Kindes, das mit seiner Familie einen Hurrikan erlebt hatte und mit posttraumatischen Störungen reagierte:
"Therapeut: Wir haben schon einmal darüber gesprochen, was wir tun werden, als du mir von einigen Dingen erzählt hast, die dir immer noch innerlich wehtun. Manche Kinder fangen am liebsten mit dem Schlimmsten an, um möglichst schnell ein besseres Gefühl zu bekommen. Andere beginnen lieber mit einer kleineren Sache, um erst einmal zu sehen, wie diese Arbeit funktioniert. Was wäre dir denn lieber?
Kind: Etwas Kleineres.
Therapeut: Okay. Weshalb findest du es besser, wenn du mit etwas Kleinerem anfängst?
Kind: Ich kann erst einmal ausprobieren und sehen, wie es ist.
Therapeut: Okay. Du hast mir gesagt, am schlimmsten sei für dich, daran zu denken, wie deine Omi gestorben ist, und am wenigsten schlimm sei für dich der Hurrikan gewesen......
Was war der schlimmste Teil des Hurrikans? War das während des Sturms oder danach? Was ist passiert?
Kind: Das Schlimmste war, als die Fensterscheiben kaputtgingen.
Therapeut: Bevor wir anfangen, möchte ich dich noch um etwas anderes bitten. Ich weiß, daß das alles wirklich passiert ist, aber stell Dir einfach einmal vor, es sei ein böser Traum gewesen und du müßtest in diesen Traum zurückkehren. Was würdest du brauchen, um dich in diesem Traum sicher zu fühlen?
Kind: Hä?
Therapeut: Was würde dir helfen, dich sicher zu fühlen? Vielleicht daß du stärker oder größer wärest oder daß etwas dich schützen würde oder daß du mit einem bestimmten Menschen zusammen wärest?
Kind: Ein Haus aus Ziegelsteinen.
Therapeut: Das ist eine gute Idee. Ich möchte, daß du jetzt an dieses Haus denkst: wie es aussieht, wie es ist, wer mit dir zusammen darin ist, wie sicher du dich darin fühlst. (Augenbewegungen) Fühlst du dich jetzt sicherer oder unsicherer oder genauso sicher wie vorher?
Kind: Sicherer. Der Hurrikan kann Ziegel nicht umblasen.
Therapeut: Laß uns das jetzt noch einmal machen. Stell dir noch einmal vor, du wärest in diesem Haus aus Ziegeln. (Augenbewegungen) Wie war es diesmal?
Kind: Ich fühle mich immer noch sicher. Man kann zwar den Wind hören, aber dem Haus passiert nichts.
Therapeut: Gut. Nun werden wir feststellen, wie schnell du dir diesen Ort vorstellen kannst. Ich werde dich auffordern, an etwas anderes zu denken, und wenn ich dann sage: 'Umschalten', denkst du so schnell wie möglich an das Haus aus Ziegeln. Sag mir sofort, wenn du es vor Augen hast. Bist du bereit? Okay, dann denke jetzt an einen Elefanten. (Augenbewegungen) Umschalten!
Kind: hab ich.
Therapeut: Mann, das war schnell! Ungefähr drei Sekunden. Jetzt versuchen wir es noch einmal. Okay, denke jetzt an eine Ananas. (Augenbewegungen) Umschalten!
Kind: Hab ich.
Therapeut: Nur eine Sekunde! Du bist aber wirklich schnell! Sollen wir es noch einmal üben, oder bist du schon ziemlich gut darin?
Kind: Ich glaube, ich bin schon gut genug.
Therapeut: Okay, das freut mich. Weißt du, was du tun kannst, wenn die Erinnerung an den Hurrikan zu unangenehm wird? Wenn du dich zu unwohl dabei fühlst? Du kannst dann einfach umschalten und an das sichere Ziegelhaus denken. Okay?
Kind: Okay.
Therapeut: Dann denk jetzt daran, wie die Fensterscheiben kaputt gingen. Bist du bereit? (Augenbewegungen) ...." (S. 85/86)
Zur Frage, wie EMDR funktioniert, schreibt der Autor:
"Welcher Wirkungsmechanismus EMDR zugrunde liegt, ist bisher nicht bekannt. Francine Shapiro vermutet, daß die Anwendung der Methode irgendwie eine Beschleunigung der Informationsverarbeitung zur Folge hat, die es möglich macht, das dysfunktional gespeicherte traumatische Material zu kontaktieren, es schnell zu integrieren und dadurch zu entschärfen. Anknüpfend an diese Hypothese haben einige die Vermutung entwickelt, daß dieser vermutete Effekt mit der Traumaktivität in der Phase des REM-Schlafs verwandt sein könnte (.......). Ungeachtet der eventuellen Wirkung der Augenbewegungen haben andere darauf hingewiesen, daß die EMDR-Methode praktisch alle für eine wirksame Traumatherapie als unverzichtbar geltenden Elemente umfaßt (......). Die Frage, wie EMDR letztendlich wirkt, ist von einer schlüssigen Beantwortung noch weit entfernt, und insbesondere die Rolle der Augenbewegungen dabei ist nach wie vor ein Geheimnis."
Ebenso vorsichtig beurteilt Greenwald den Forschungsstand zur Indikation und Effizienz des EMDR, obwohl er damit viele, zum Teil verblüffende Erfolge erlebt hat. Allerdings verwendet er es nie isoliert, sondern im Rahmen methodenübergreifender, individuell zugeschnittener Therapiepläne. Das Grundmodell stammt vom Francine Shapiro, der Erfinderin des EMDR, und umfaßt acht Behandlungsphasen:
"Die EMDR-Behandlung besteht aus acht Phasen, die alle unverzichtbar sind. In wie vielen Sitzungen an jeder einzelnen Phase gearbeitet werden muß und wie viele Phasen jeweils in einer Sitzung bearbeitet werden können, ist sehr unterschiedlich. Die erste Phase ist der Anamnese gewidmet. In ihr lernt die Therapeutin die Vorgeschichte des Klienten kennen und entwickelt einen Behandlungsplan. Darauf folgt die Vorbereitungsphase, in welcher sie dem Klienten die EMDR-Behandlungsmethoden und die Theorie, die EMDR zugrunde liegt, erläutert, sich ein Bild davon macht, was sich der Klient von der Behandlung verspricht, und ihn darauf vorbereitet, daß zwischen den einzelnen Sitzungen Störungen auftreten können. In der dritten Phase, der Bewertungsphase, wird ein Ziel festgelegt und .... eine Ausgangsposition ermittelt. Die vierte Phase, die der Desensibilisierung (und erneuten Verarbeitung bzw. Reprozessierung) dient, beschäftigt sich mit den belastenden Emotionen des Klienten. Die fünfte, die Verankerungsphase, konzentriert sich auf die kognitive Restrukturierung. In der sechsten Phase, der Körpertestphase, wird festgestellt, ob noch Spannungen im Körper verblieben sind, und wenn ja, wird an deren Auflösung gearbeitet. In der dann folgenden Abschlußphase wird der Klient auf die Zwischenzeit bis zur nächsten Sitzung vorbereitet, wozu ihm vermittelt wird, wie er ein gewisses inneres Gleichgewicht aufrechterhalten kann. Die achte und letzte Phase ist die der Überprüfung." (S. 142/143)
Je nach Art der Patienten und ihrer Störungen wird dieses Grundmuster ergänzt und abgewandelt:
"EMDR wird auch zur Behandlung komplexer, chronischer Traumata sowie von Angst, Depression, psychischen Aspekten körperlicher Krankheiten und anderweitigen Problemen verwendet. .... Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe von auf EMDR basierenden Protokollen zur Behandlung zahlreicher Probleme, darunter Dissoziative Identitätsstörung bzw. multiple Persönlichkeitsstörung, Drogen- und Medikamentenmißbrauch, chronische Schmerzen, spezifische Phobien, chronische Depression und Leistungsangst." (S. 147/148)
Wichtig zum Verständnis des ganzen Textes ist die traumatheoretische Grundposition des Autors:
"Ich interpretiere praktisch alle Fälle, die ich behandle, im Sinne einer erweiterten Traumatheorie, weil die Probleme von Kindern meiner Meinung nach meist zumindest teilweise durch frühere beunruhigende Erfahrungen in der Vergangenheit entstanden sind. Die meisten Kinder, die zur Behandlung kommen, haben ein signifikantes Trauma oder einen schwerwiegenden Verlust erlebt und sind dadurch entweder allgemein verletzlicher geworden, oder das aktuelle Problem ist dadurch entstanden. Das Bewußtsein, daß Traumata (im weitesten Sinne definiert) zu den bei Kindern auftretenden Problemen erheblich beitragen, ist für mich zu einem Leitprinzip der Diagnose und der Behandlungsplanung geworden. Diese Orientierung soll andere Ansätze des Verständnisses der Probleme von Kindern nicht ersetzen (z. B. den systemischen, den psychodynamischen oder den verhaltenspsychologischen), sondern sie fungiert als Grundgerüst für die Organisation der im konkreten Fall relevanten Perspektiven." (S. 48)
Fast alle Kinder haben nach Greenwalds Erfahrungen schwerwiegende Traumata erlebt. Unter günstigen Umständen können sie unschädlich sein oder sogar entwicklungsförderlich. Unter anderen Umständen (z. B. besondere Sensibilität des Kindes, zu intensives Trauma, schwächeres, aber dauerhaftes Trauma, Wiederholungstraumata, Mangel an ausgleichenden protektiven Faktoren, bspw. Fehlen einer einfühlsamen Vertrauensperson) entstehen akute oder chronische Defekte, die oft erst viel später in Erscheinung treten.
Wegen seines weiten Blickfeldes und seines nie abreißenden Praxisbezuges ist das Buch für alle informativ, die mit traumatisierten Kindern arbeiten, auch wenn sie sich für EMDR nur am Rande interessieren. Beispielsweise ist es für familientherapeutische Enthusiasten wichtig zu wissen, daß es sinnlos ist,
" .... die posttraumatische Reaktion eines Kindes zu behandeln, solange das Kind noch dem Risiko einer erneuten Traumatisierung ausgesetzt ist." (S. 287)
und daß es
".... von entscheidender Bedeutung ist, daß die Eltern den Behandlungsprozeß unterstützen." (S. 238)
Desweiteren berichtet Greenwald aus einer anderen Untersuchung
"daß die gelegentlichen Fehlschläge bei der Anwendung dieser Methode in allen Fällen auf das Fortbestehen von Streßquellen zurückzuführen waren." (S. 14)
Herkunftseltern von Heim- und Pflegekindern, die wegen eigener Traumaerfahrungen immer wieder zur Traumatisierung ihrer Kinder neigen, sollten deshalb aus deren Heilungsprozeß konsequent herausgehalten werden.
(Zu den Risiken von Besuchskontakten vgl. Susanne Lambeck.)
Wer keinen Zugang zu einem qualifizierten EMDR-Therapeuten hat - längst nicht alle, die EMDR anbieten, sind adäquat ausgebildet - sollte selbst behutsam die Lebensgeschichte seines Heim- oder Pflegekindes erkunden oder sich nach einem erfahrenen Biographiearbeiter umsehen.
"Bei solchen Kindern kann ein wichtiger Behandlungsfokus die Wiederentdeckung ihrer tatsächlichen Geschichte und die Bestätigung ihrer Erfahrungen sein ..... es kann ratsam sein, auf der kognitive Ebene an der Rekonstruktion der Erinnerungen zu arbeiten, bevor man mit intensiver emotionaler Arbeit beginnt, weil dies den betroffenen Kindern ermöglicht, ein Gefühl der Sicherheit und Kontrolle aufrechtzuerhalten." (S. 263/264)
(Zur Biographiearbeit in Pflegefamilien vgl. Ivo Stephan.)
Wegen seiner sachkundigen Traumaorientierung, seines hohen Erfahrungsgehalts, des undogmatischen Praxisbezugs und der sehr verständlichen Darstellungsweise wünschen wir dem Buch viele Leser aus allen pädagogischen und therapeutischen Berufen. Kurt Eberhard, Dez. 01
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