Verhungerte und verdurstete Kinder, von unfähigen Jugendämtern ihrem Schicksal überlassen. Das Horrorszenario, das Eberhard, Eberhard und Malter auffahren, tangiert umgehend unsere sozialpädagogische Schmerzgrenze, umso mehr als die toten Kinder grauenhafte und anklagende Wirklichkeit sind.
Und so erfasst auch den geneigten Leser erlösende Freude, wenn die Autoren die allseits pädagogisch gebildete und supervisierte Pflegefamilie leuchtend aus dem Dunkel hervortreten lassen, die gegen alle Widerstände von "Schulen, Jugendämtern und Nachbarn" (selbst "eigener pädagogischer Neigungen"?!) das hehre Banner "erst Beziehung, dann Erziehung" schwingt.
Eine solche Argumentation erinnert an Kinderschutzparolen der frühen Nachkriegszeit: Streng bestrafen und für alle Zeiten aus dem Leben der Kinder entfernen soll man die verachtenswürdigen Menschen. Zurück zu verstärkten Interventionsmöglichkeiten des Jugendamtes lautet die Parole.
Vielleicht auch zurück zur an Mittelschichtsnormen orientierten "Fürsorgerin", die den Säugling der unverheirateten, minderjährigen und hilfslosen Mutter konfisziert, um ihn der liebevollen, gut bürgerlichen Pflegefamilie auf Dauer anzuvertrauen und erfolgreich jeden Kontakt zur leiblichen Mutter unterbindet, anstatt der jungen Frau Starthilfen und Unterstützung zu gewähren, um ihr Kind selber großzuziehen.
Sicher werden wir der Problematik und vor allem dem Leid vernachlässigter und misshandelter Kinder weder durch polemische Argumentation noch durch Schwarz-Weiß-Malerei gerecht. Ebenso wenig ist es für die Pflegefamilien, die oft unter schwierigen Bedingungen eine wertvolle und anerkennenswerte pädagogische Arbeit leisten, hilfreich, das ohnehin oft vorprogrammierte Konfliktpotential zwischen Bedürfnissen der Kinder, den Ansprüchen leiblicher Eltern und der Pflegeeltern zu schüren. Formulierungen wie "Altar des Elternrechts" tun jedoch genau dies.
Die verheerenden körperlichen und psychischen Deprivationsfolgen von Vernachlässigung und Misshandlung für die betroffenen Kinder sind - zumindest in Fachkreisen - längst unbestritten. Aber es gibt grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten über die Art geeigneter Maßnahmen (von denen die Unterbringung in einer Pflegefamilie nur eine unter vielen ist.)
Was fehlt, ist einerseits eine vernetzte und kooperative Umsetzung der von Experten geforderten Präventionsmodelle: z.B. niedrigschwellige, unterstützende und am Bedarf orientierte Einrichtungen für junge Mütter und Väter. An was es uns in unserer Gesellschaft jedoch vor allem mangelt, ist die Einsicht, dass es Rechte der Kinder gibt, die glücklicherweise in jüngster Zeit verbrieft und ratifiziert wurden:
– die UN-Konvention über die Rechte des Kindes v.20.11.1989;
– der am 2.11.2000 endlich gefasste § 1631, Absatz 2, Bürgerliches Gesetzbuch: "Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig."
Wenn solche Formulierungen eine breite Änderung gesellschaftlichen Bewusstseins und zwar in allen Schichten der Bevölkerung in Gang bringen, erfüllen sie ihren Zweck. Wir brauchen nicht mehr Staat und auch nicht mehr Kontrolle, sondern die Entwicklung eines gegenseitigen Gefühls der Verantwortlichkeit füreinander.
Beispielgebend war für mich ein Elternabend an einer Grundschule in dörflicher Struktur. Als Ergebnis unserer lebhaften Diskussion über die Rolle der Väter in der Erziehung wurde zunehmend die belastete und belastende Situation sowie die Überforderung von Alleinerziehenden in unserer Gesellschaft offensichtlich. Spontan kam ein nachbarliches Unterstützungsangebot an eine alleinstehende Mutter, das erfreut und überrascht angenommen wurde und, wie ich hoffe, auf Dauer zu Strukturen wechselseitiger Hilfe geführt hat.
Kinder haben viele Rechte. Vor allem haben sie ein Recht auf eine kinderfreundliche Gesellschaft, die ihre Bedürfnisse erfüllt; sie haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung und sie haben ein Recht auf ihre Eltern.
Anna Memarian Diplompädagogin und Mitglied des Bundesvorstandes des Deutschen Kinderschutzbundes. Sie arbeitet an der Universität-Gesamthochschule in Siegen.
Literatur: Arbeitskreis zur Förderung von Pflegekindern e.V. (Hrsg.): Pflegekinder in einer veränderten Welt, Dokumentation der Europäischen IFCO-Konferenz, Berlin 1994. Deutscher Kinderschutzbund, Landesverband NRW e.V., Institut für soziale Arbeit e.V., Münster (Herausgeber): Kindesvernachlässigung. Erkennen - Beurteilen - Handeln. Münster/Wuppertal Jan. 2000 Reinald Eichholz, Kinderbeauftragter der Landesregierung beim Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg): Die Rechte des Kindes. Sonderausgabe, Düsseldorf 1998.
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