FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2001

 

Perspektiven aus der Sicht der Familienpolitik

Vortrag zum 25-jährigen Jubiläum des PFAD-Bundesverbandes der Pflege- und Adoptivfamilien im November 2001

von Prof. Dr. Reinhard Wiesner
Bundesministerium für Familie, Frauen und Jugend

 

Bevor ich mit dem Thema meines Vortrages beginne, möchte ich es persönlich nicht versäumen, dem Bundesverband der Pflege- und Adoptivfamilien zum 25. Geburtstag recht herzlich zu gratulieren. Wie viele von Ihnen wissen, bin ich seit 1974 in diesem Ministerium mit dem schwierigen und häufig wechselnden Namen tätig, das heißt, ich habe die Entstehungsgeschichte, die Genese dieses Verbandes im Grunde von Anfang an auch mit verfolgt und mit begleiten können. Ich freue mich, dass es gelungen ist, aus dem Engagement von Einzelpersonen eine Verbandsstruktur zu entwickeln, die die Interessen von Pflege- und Adoptivfamilien vertritt. Ich freue mich aber auch ganz besonders, dass es uns - und hier möchte ich das Ministerium einbeziehen - gelungen ist, über die ideelle Unterstützung hinaus, den Verband in eine kontinuierliche Förderung aus dem Kinder- und Jugendplan des Bundes einzubeziehen. Ich weiß natürlich auch, dass die Fördermittel begrenzt sind, - Geld ist immer irgendwo begrenzt - und dass es durchaus verständliche Wünsche gibt, diese Förderung auch aufzustocken, dennoch bin ich zunächst einmal froh darüber, dass es uns in Zeiten der Mittelkürzung überhaupt gelungen ist, Ihren Verband in eine kontinuierliche Förderung aufzunehmen und Ihnen damit auch ein Stück Sicherheit in Ihrer Verbandsarbeit zu geben. Der Bundesverband für Pflege- und Adoptivfamilien ist wie kaum ein anderer geprägt von ehrenamtlichem Engagement. Ich möchte anlässlich dieses Geburtstages den anwesenden Pflege- und Adoptiveltern, stellvertretend für all die anderen, die heute nicht hier sein können, für ihr verantwortungsvolles und ehrenamtliches Engagement danken. Im Grunde muss ich die Frauen ganz besonders hervorheben, denn Sie machen in der Realität die Erziehungsarbeit. Sie sorgen Tag und Nacht für Pflege- und Adoptivkinder und erfüllen damit einen zwar unspektakulären, aber gerade deshalb wesentlichen und nachhaltigen Beitrag für die Entwicklung junger Menschen und ihre Integration in die Gesellschaft. Ich bin gebeten worden, über Perspektiven aus der Sicht der Familienpolitik zu sprechen, was angesichts des Gesamtthemas für diese Tagung „Perspektive Familie“ nahe liegt, also durchaus stimmig erscheint. Aber schon die Vermutung, es handele sich hier bei Pflegefamilien oder Adoptivfamilien um zwei Typen innerhalb eines immer bunter werdenden Spektrums von Familienformen, erscheint mir schwierig und problematisch zu sein, weil es die Pflegefamilie oder die Adoptivfamilie als Typus nicht mehr gibt, wobei ich mich frage, ob es sie jemals als Typus gegeben hat. Darüber hinaus werden wir auch differenzieren müssen, zwischen einem breiten Spektrum von Pflegefamilien mit dem Spannungsfeld von psychosozialer Realität auf der einen Seite und rechtlicher Ausstattung auf der anderen Seite und von Adoptivfamilien mit einer weitgehend – sagen wir weitgehenden rechtlichen und psychosozialen Symmetrie. Von daher wird es zunehmend schwieriger, das Thema von dem Fokus Familie her zu beleuchten. Ich möchte den Akzent daher stärker auf die Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen in diesen Familien richten und damit auch einen stärkeren kinder- und jugendpolitischen, kinder- und jugendhilferechtlichen Akzent setzen. Dies ist letztlich kein Gegensatz, ist doch die oberste Richtschnur für leibliche Eltern, für Adoptiveltern und für Pflegeeltern das Kindeswohl.

1. Pflege- und Adoptivfamilien sind die klassische Form der „Pflege und Erziehung“ von Kindern, die nicht bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen

Pflege- und Adoptivfamilien gab es lange, bevor Jugendhilfe als staatliche Aufgabe normiert worden ist, was ja erst im vergangenen Jahrhundert geschehen ist. Es hat sich in der langen Geschichte gezeigt, dass die Aufnahme als Pflegekind bzw. die Adoption eines Kindes nicht immer aus einem sozialen Engagement, einer Verantwortung für elternlose Kinder entsprang, sondern der Gewinnung billiger Arbeitskräfte in der Landwirtschaft oder bei der Adoption der Sicherung der Erbfolge diente. Als Reaktion auf solche Fehlentwicklungen wurden seinerseits zum Beispiel die Pflegekinderaufsicht und später das staatliche Vermittlungsmonopol in der Adoptionsvermittlung geschaffen. Heute gibt es einen breiten gesellschaftlichen Konsens. Die Inpflegegabe und Adoption eines Kindes sollen der Verwirklichung oder der Verbesserung des Kindeswohls dienen. Dies schließt Eigeninteressen der Eltern nicht aus, ordnet sie aber dem Kindeswohl unter. Pflege- und Adoptiveltern stellen sich in einer Zeit, in der materielle Werte immer mehr an Bedeutung gewinnen, einer - ja man muss es fast so sagen – altmodischen Aufgabe. Sie handeln gewissermaßen gegen den Zeitgeist, denn sie nehmen sich anderer Kinder an, sorgen für sie und sind für sie verantwortlich. Dies ist richtig und fordert unser aller Respekt und Anerkennung. Gleichzeitig möchte ich aber auch vor einer Idealisierung warnen. Pflege- und Adoptiveltern leben nicht auf einer „Insel der Seeligen“, sondern mitten in dieser Gesellschaft - mit all ihren Chancen und Risiken, mit all ihren Zumutungen und Gefahren. Pflege- und Adoptiveltern sind auch nicht per se bessere Eltern als die leiblichen Eltern von Pflege- und Adoptivkindern, die sich aus unterschiedlichen Gründen zur Vermittlung, zur Freigabe ihrer Kinder entschieden haben oder durch Gerichte dazu gezwungen worden sind. Aus diesem Grund müssen Pflege- und Adoptiveltern ein Stück psychisch und moralisch entlasten werden. Partnerschaften von Pflegeeltern können scheitern, so wie die Partnerschaft von leiblichen Eltern, das Verhältnis zwischen den Eltern, den Adoptiveltern und Pflegeeltern und dem Adoptiv- oder Pflegekind kann sich als so schwierig erweisen, dass weitere Entscheidungen über Jugendhilfe oder gar der Familiengerichte notwendig werden. Dieses alles stellt keinen Affront zum 25jährigen Jubiläum des Bundesverbandes der Pflege- und Adoptivfamilien dar, sondern wir müssen uns vor einer rosa-roten Brille hüten, die alles in Zufriedenheit erscheinen lässt. Dies würde letztlich nicht Ihr Engagement stärken. Scheitern bedeutet nicht, dass Sie Ihrer Aufgabe nicht gerecht wurden. Nur wenn wir einen solchen realistischen Blick auf Pflege- und Adoptiveltern werfen, werden wir auch den Interessen der Ihnen anvertrauten Kinder gerecht.

2. Pflege- und Adoptivfamilien stehen im Schnittpunkt privater Erziehung und öffentlicher Mitverantwortung.

Wie für alle Kinder, so gelten auch für Pflege- und Adoptivkinder die Garantien des staatlichen Wächteramtes. Die Trennung des Kindes aus seinen sozialen Bezügen und die Vermittlung dieser Kinder in ein neues familiäres Setting, - ich verwende mal diesen abstrakten Fachausdruck - ist immer auch mit Chancen und Risiken für das Kind verbunden. Aus diesem Grund hat der Staat die Vermittlung von Adoptivkindern an sich gezogen und findet die Inpflegegabe in der Form der vom Jugendamt gewährten Hilfe zur Erziehung, statt. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz hat hier nicht zuletzt aufgrund der Arbeiten von Professor Ludwig Salgo das Konzept der zeit- und zielgerichteten Intervention eingeführt, um die Inpflegegabe aus einer - ich nenne es Nacht- und Nebelaktion -, Krisenintervention ohne Ziel, zu einem strukturierten und fachlich begleiteten Hilfeprozess umzugestalten. Der Moderationsprozess, der vom Jugendamt geleistet werden muss, stellt fachlich hohe Anforderungen. Seine Qualität ist ein wesentlicher Faktor für das Gelingen des Hilfeprozesses und wenn Pflegeverhältnisse scheitern, dann sollten Pflegeeltern nicht voreilig und zunächst immer meinen, sie seien möglicherweise daran Schuld. Einen wesentlichen Anteil an der Entwicklung, der Qualität solcher Pflegekinderentwicklungsprozesse trägt das Jugendamt. In letzter Zeit gibt es an vielen Orten Überlegungen, diese Aufgabe, die zum Teil vom allgemeinen Sozialdienst, zum Teil von spezialisierten Pflegekinderdiensten wahrgenommen wird, auf freie Träger zu verlagern, neudeutsch, sie dorthin „outzusourcen“. Strukturell handelt es sich hier um eine Form der Leistungserbringung, also der Beratung und Begleitung der Pflegekindschaftsverhältnisse, die dann aber streng von der Steuerung durch das Hilfeplanungsverfahrens zu trennen ist. Unter diesen Voraussetzungen, also wenn man trennt zwischen der Steuerung durch das Hilfeplanverfahren – was immer Aufgabe des Jugendamts sein muss und bleiben muss - und der Begleitung des Prozesses als solchem, unter diesen Voraussetzungen halte ich es für durchaus denkbar, über eine Übertragung dieser Aufgabe an freie Träger nachzudenken. Voraussetzung ist aber die Festlegung fachlicher Standards und deren Überprüfung. Wenn das einzige Motiv einer solchen Verlagerung die Kosteneinsparung sein sollte, dann, dann ist höchste Vorsicht geboten. Die Begleitung von Pflegekindschaftsverhältnissen stellt hohe Anforderungen an das Jugendamt. Pflegeeltern sollten nicht aus einer falschen Bescheidenheit heraus, Abstand zum Jugendamt halten, sondern ihr Recht auf Beratung und Begleitung aktiv einfordern. Dies ist nicht ein Eingeständnis von Hilflosigkeit, sondern ein Zeichen der Verantwortung für die Lebenssituation von Pflegekindern.

3. Zur Bedeutung der Herkunftsfamilie bei Pflege- und Adoptivkindern

Obwohl die Funktion der Herkunftsfamilie bei Pflegekindern anders zu bewerten ist als bei Adoptivfamilien, sehe ich doch Entwicklungen, die für beide – sagen wir noch mal das Wort - Settings, fruchtbar gemacht werden können. Dabei denke ich zunächst an die leidenschaftliche Auseinandersetzung über die Funktion der Pflegefamilie, wie sie in der Polarisierung Ergänzungs- und Ersatzfamilie zum Ausdruck kam und uns - ja in den 80er Jahren, glaube ich - sehr beschäftigt hat, wobei ich nicht sagen will, dass die Diskussion zu Ende ist, aber sie ist - ich sag einmal Gott sei Dank - etwas in den Hintergrund gerückt. Ich glaube, dass keines der beiden Konzepte der Vielfältigkeit der Pflegekindschaft gerecht werden kann. Dieser Ansatz hat den Blick auf die Herkunftsfamilie geöffnet. Das Kind kommt nicht als unbeschriebenes Blatt in eine Pflegefamilie, sondern mit seiner Biographie, in der die Herkunftseltern eine wichtige, nicht immer positive Rolle spielten. Dieser Teil der Biographie kann nicht von dem Kind als Person abgetrennt werden, sondern muss akzeptiert werden. Es müssen Wege des Umgangs und des Zugangs zu den Eltern gefunden werden. Die Bereitschaft des Kindes, den Kontakt zu seinen Eltern zu erhalten, sollte unterstützt werden. Hier gibt es gewisse Parallelen innerhalb der ganzen Diskussion um die Adoption. Nicht nur das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung, sondern auch die Bedeutung einer rekonstruierbaren Lebensgeschichte für die Identitätsentwicklung des Kindes, fördern die Diskussion um eine halboffene und offene Adoption, bei denen den leiblichen Eltern auch nach der Adoption weiter ermöglicht werden soll, Informationen vom Kind zu bekommen oder Gelegenheit zum Umgang zu haben, aber natürlich auch für das Kind Information über seine Eltern, ihre Lebenssituation und deren Motive zur Freigabe zu erhalten. Damit wird aber gleichzeitig die Fragwürdigkeit der anonymen Geburten, der sogenannten Babyklappen, deutlich. Auch in diesem Punkt bedürfen Pflege- und Adoptiveltern einer fachlichen Beratung und Begleitung, da die Kontaktaufnahme zu den Eltern keine einfache Aufgabe ist.

4. Pflegekindschaft im System der Kinder- und Jugendhilfe

Pflegekindschaft ist heute in der Regel eine Form der Hilfe zur Erziehung auf der Rechtsgrundlage des Kinder- und Jugendhilfegesetzes. Das Kinder- und Jugendhilfegesetz bietet in den §§ 36, 37 eine solide rechtliche Grundlage für die Anbahnung und die Etablierung von Pflegekindschaftsverhältnissen. Man kann an dieser Stelle nicht oft genug darauf hinweisen, dass wir es hier in der Praxis mit erheblichen Umsetzungsdefiziten zu tun haben. Die Praxis ignoriert schlicht - unter Anführung unterschiedlicher Gründe, meist die Finanzen - die Gesetze. Es gibt keine Form der kommunalen Aufsicht, die die Kommunen in ihre Schranken weist und leiblichen Eltern oder Pflegeeltern sind aus ihrer Lebenssituation heraus nicht bereit oder in der Lage, ihre Rechte einzuklagen und damit ein Stück weit Jugendämter auch unter Druck zu setzen. Es gibt keinen Königsweg, wie man diesen grundsätzlichen Missstand beseitigen könnte. Es bleibt mir - und ich denke uns allen - auch immer nur darauf hinzuweisen, diesen Missstand möglichst öffentlich zu machen. Das zeigt letztlich einen mangelnden Respekt von Teilen der Verwaltung gegenüber dem Gesetz. Es geht um ein vom Parlament verabschiedetes und damit für Alle verbindliches Gesetz, das von der Verwaltung ignoriert wird. Das SGB VIII etabliert die Gleichrangigkeit aller Hilfen, also es kennt keine Rangordnung zwischen den verschiedenen Formen der Hilfe zur Erziehung. Es kennt also nicht gute oder schlechte Hilfen. Und es etabliert auch keinen Vorrang etwa ambulanter Hilfen vor stationären Hilfen, auch keinen Vorrang der Pflegefamilie vor dem Heim. Und ich sage auch, was man natürlich so auf der Straße öfters hört, der Grundsatz „Jede Familie sei nun besser als ein Heim“, ist in der Pauschalität nicht richtig. Es geht also darum, - das sagt das KJHG - den erzieherischen Bedarf im Einzelfall festzustellen und eine spezifische Leistung zu erbringen, die diesem erzieherischen Bedarf gerecht wird. Damit liegt natürlich die Verantwortung im wesentlichen bei den vor Ort tätigen Fachkräften in den Jugendämtern. In welcher Weise sie das Hilfeplanverfahren ausgestalten, welche Personen sie einbeziehen, wie weit sie die Herkunftseltern und die potentiellen Pflegeeltern in das Verfahren mit einbeziehen, um eben letztlich – und das wäre das Ideal - eine maßgeschneiderte Hilfe zu entwickeln, die wirklich den Interessen und den Bedürfnissen dieses einzelnen, dieses konkreten Kindes gerecht wird, bleibt ihnen überlassen. Wenn hier darauf hingewiesen wird, dass es keinen Vor- oder Nachrang der Hilfen gibt, dann muss man natürlich doch darauf hinweisen, dass, bevor das Jugendamt sich entscheidet, eine Hilfe zur Erziehung außerhalb der eigenen Familie zu gewähren, es natürlich immer wird prüfen und prüfen müssen, ob denn Hilfen in der Familie, Eltern unterstützende Familienhilfen, nicht geeignet oder ausreichend sind. Diese Prüfung als solche ist nicht nur legitim, sie ist auch notwendig, weil mit der Entscheidung gravierendere Folgen und Risiken für das Kind verbunden sind. Das heißt nicht, dass man automatisch immer erst ambulante Hilfen leisten müsste, sie gewissermaßen ausprobieren müsste, bevor man zu dem Ergebnis kommt, es reicht eben doch nicht aus, und dann muss das Kind in ein Heim vermittelt werden oder in die Pflegefamilie. Das steht nicht im Gesetz und ist auch keine professionelle Verfahrensweise.

5. Kinder- und Jugendhilfestatistik

Die Zahlen der Inanspruchnahme der Hilfe in Vollzeitpflege zeigen, dass diese Hilfeform in den letzten acht bis zehn Jahren im wesentlichen konstant geblieben ist. Es hat also auf die Gesamtpopulation bezogen kaum Veränderungen gegeben. Gravierende Veränderungen ergaben sich in den neuen Bundesländern. Dort hat sich bezogen auf die Gesamtzahlen der Kinder unter 21 Jahren die Zahl der Kinder in Vollzeitpflegen fast verdoppelt. Die Jugendhilfestruktur in der DDR war eine andere als in den alten Bundesländern. Familienpflege bei nicht verwandten Personen wurde nicht praktiziert. Setzt man dazu die Entwicklung der Heimerziehung ins Verhältnis – vergleicht die Entwicklung der Heimerziehung mit der der Pflegefamilien -, dann kann man in den westlichen Bundesländern eine Stagnation bezogen auf die Gesamtpopulation der 0- bis 21jährigen feststellen, während wir in den neuen Bundesländern, im östlichen Teil Deutschlands auch hier eine Steigerung verzeichnen, wenn auch längst nicht so spektakulär - also keine Verdoppelung - sondern etwa um 20 % in diesen letzten acht bis neun Jahren. Dies lässt auch Rückschlüsse auf die Lebenssituation von Familien in den neuen Bundesländern in den letzten Jahren zu. Wenn man sich diese Zahlen anschaut, dann sind sie immer interpretationsfähig und interpretationsbedürftig. Auf direktem Wege die Philosophie der Jugendämter abzuleiten, wäre zu kurzsichtig. Dazu bedürfte es näherer konkreter Untersuchungen. Eine Sorge ist auch immer, dass Entscheidungen der Jugendämter sehr stark unter finanziellen Aspekten erfolgen. Dennoch glaube ich, wäre es vorschnell, wenn man behaupten würde, Jugendämter würden aus Kostengründen vermehrt Kinder in Pflegestellen unterbringen. Sicher ist, wenn man die Höhe der monatlichen Belastung anschaut, dass das Pflegegeld für Pflegeeltern wesentlich geringer ist, als das, was stationäre Unterbringung in der Regel kostet. Berücksichtigen sollte man, dass Kinder, die außerhalb der Familie erzogen werden, hoch belastete Kinder sind, also in vielen Fällen für Pflegeeltern bei allem Engagement eine Überforderung darstellen. Man kann in einem solchen Fall auf professionelle Pflegestellen zurückgreifen, wobei der finanzielle Unterschied im Vergleich zu einer Heimunterbringung dann nicht mehr so groß ist.

6. Kinder- und jugendhilfepolitische Perspektive

Wir brauchen eine „Qualifizierungsoffensive“ im Pflegekinderwesen. Ausgelöst durch die Paragraphen 78aff, in denen die Entgeltfinanzierung neu geregelt wurde, wurde in den letzten fünf bis sechs Jahren eine umfassende Qualitätsdiskussion im Bereich der stationären Erziehung ausgelöst. Das Pflegekinderwesen muss sich dieser Diskussion stellen und Anschluss finden, damit nicht der Eindruck entsteht, dass sich die stationäre Unterbringung weiter entwickelt und neue Wege der Qualifizierung findet und im Pflegekinderwesen stagniere die Entwicklung. Daher ist es unverzichtbar, Qualitätsstandards zu entwickeln. Die Entwicklungsdefizite der Kinder, die Risiken für ihre Entwicklung, nehmen zu, also werden die Anforderungen an die Pflegeeltern, die Belastungen, die Zumutungen immer größer. Pflege- und Adoptiveltern brauchen fachliche Begleitung, Qualifizierung und Fortbildung. Als Konsequenz daraus ergibt sich die Frage, ob die Anerkennung für die Erziehungsleistung den Anforderungen gerecht wird. Das heißt, wenn wir über Qualifikation oder über eine Offensive in diesem Bereich reden, dann bedeutet das für mich immer auch diese Frage der materiellen Entlohnung, der Honorierung für Pflegeeltern, was den Unterhalt aber vor allem die Erziehungsleistung anbelangt. Dazu gehört auch die schon lange anstehende Klärung der Frage der Alterssicherung von Pflegeeltern. Das gilt sowohl für Tagespflegeeltern als auch für Vollzeitpflegeeltern. Immer wieder bekomme ich Briefe von Pflegeeltern, von Pflegemüttern, die mehrere Kinder, die zum Teil ihr ganzes Leben Kinder nacheinander aufgezogen haben, die nachher im Grunde keine Altersabsicherung haben. Jugendämter sollten bereit sein, die materiellen Leistungen so weit aufzustocken, dass Pflegeeltern daraus einen Anteil für ihre Alterssicherung zurücklegen können. Gelingt es uns, die Anforderungen an Pflegeeltern in Zusammenhang mit einer Qualitätsdiskussion zu bringen, ergibt sich daraus die Frage nach der materiellen Honorierung. Ich lade Sie alle ein, gemeinsam an diesem Prozess zu arbeiten, um damit letztlich die Situation von Kindern und Jugendlichen in den Familien verbessern zu können.

 

Kommentar zu
Reinhard Wiesner – Perspektiven aus der Sicht der Familienpolitik

Reinhard Wiesner ist einer der Väter des “Eltern-Hilfs-Gesetzes“ (KJHG), und niemand kann ihm eine Überbetonung der Kindesrechte gegenüber den Elternrechten vorwerfen, um so wertvoller ist sein klares Bekenntnis vor Pflege- und Adoptiveltern, daß die Interessen der Eltern dem Kindeswohl untergeordnet seien.

Auch die Betonung des staatlichen Wächteramtes kommt zur rechten Zeit. Die Durchführung des Wächteramtes ist nach dem neuen KJHG viel schwieriger und anspruchsvoller als nach dem vorangegangenen JWG (vgl. Das Kindeswohl auf dem Altar des Elternrechts). Der Herausnahme eines seelisch verletzten Kindes aus einer traumatisierenden Familie gehen oft viele ambulante Versuche voraus mit entsprechender Verfestigung der psychischen und hirnorganischen Defekte. Deshalb vertritt Wiesner wie der prominente Rechtswissenschaftler Ludwig Salgo “das Konzept der zeit- und zielgerichteten Intervention“, d. h. es muß von Anfang an klar sein, unter welchen Bedingungen eine Herausnahme des Kindes erfolgen wird. Außerdem kennt das Gesetz “keinen Vorrang ambulanter Hilfen vor stationären Hilfen“.

Wiesner legt Wert darauf, daß das staatliche Wächteramt natürlich auch gegenüber Pflegefamilien gilt. Die vielfach angestrebte Privatisierung der Pflegekinderdienste sei nur zu rechtfertigen, wenn das Hilfeplanverfahren und dessen Kontrolle in den Händen des Jugendamtes bleibe. Diese sehr anspruchsvolle Aufgabe ist ohne fachlich spezialisierte Pflegekinderdienste gar nicht zu bewältigen. In dieser Hinsicht sprechen wir aus 22-jähriger Erfahrung als freier Träger in der Beratung und Betreuung von Pflegefamilien: ungenügend qualifizierte Mitarbeiter des Jugendamtes können ganz ohne bösen Willen die komplizierten therapeutischen Prozesse in heilpädagogischen Pflegefamilien auf vielfältige Weise vereiteln. Beispielsweise durch prinzipielle statt aus Einzelfallanalyse gewonnene Forderungen nach Direktkontakten des Pflegekindes zu seiner Herkunftsfamilie. Es gibt Kinder, die brauchen zur Identitätsentwicklung (zum geeigneten Zeitpunkt!) Kontakte zu ihren leiblichen Eltern, und es gibt Kinder, deren Identitätsentwicklung dadurch erheblichen Schaden nähme.

Unabhängig von der Debatte um die Privatisierung der Pflegekinderdienste fordert Wiesner zu Recht eine “Qualifizierungsoffensive“. Die Praxis zeigt, daß staatliche Pflegekinderdienste dazu durchaus in der Lage sind (vgl. Projekt Kindertransfair in Herten). Ob auch private Träger dazu in der Lage sein werden, muß sich erst zeigen. Unser therapeutisches Programm für Pflegekinder (TPP ) konnte eine ehrliche, auch die Mißerfolge benennende Begleitforschung nur etablieren, weil die personellen Ressourcen durch Unterstützung des Friedrich-Stifts, der Arbeitsgemeinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie und der Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin gegeben waren und keine Konkurrenzsituation zu anderen privaten Trägern bestand (vgl. Entwicklungschancen für vernachlässigte und misshandelte Kinder in sozialpädagogisch und psychotherapeutisch betreuten Pflegefamilien). Die bisherigen Qualitätskontrollen der privaten Heimträger und ambulanten Dienste sind jedenfalls wenig überzeugend.
Kurt Eberhard (März 2002)

 

 

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