FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2004

 

Brief des BMFSFJ zu § 86(6) KJHG
(mit Kommentar von G. u. K. Eberhard)

 

Bundesministerium
für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend
Referat 911
Kinder- und Jugendhilfe
Alexanderplatz 6
10179 Berlin

 

An den
Landesverband der Pflege- und Adoptiveltern in Niedersachsen e.V.

 

Entwurf des Gesetzes zum qualitätsorientierten und bedarfsgerechten Ausbau und zur Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe (Tagesbetreuungsausbaugesetz TAG)

 

Sehr geehrte Frau Rutka,

vielen Dank für Ihr Schreiben vom 18.5.2004, das vom Bundeskanzleramt an mich weitergeleitet wurde.

In diesem Brief nehmen Sie Stellung zur geplanten Änderung von § 86 Abs. 6 SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe.

Dem Votum der kommunalen Spitzenverbände, der Länder und vieler Fachverbände entsprechend ist im inzwischen vom Bundeskabinett verabschiedeten Regierungsentwurf eines Tagesbetreuungsausbaugesetzes vorgesehen, die Sonderzuständigkeit für Dauerpflegeverhältnisse nach § 86 Abs. 6 SGB VIII zu streichen. Diese Streichung wird aber nur für neue Pflegeverhältnisse wirksam. Für die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes bestehende Pflegeverhältnisse bleibt die Sonderzuständigkeit bis zum Ende des jeweiligen Pflegeverhältnisses fortbestehen. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass auf lange Zeit angelegte Hilfeprozesse und deren Zielsetzung nicht durch eine plötzliche Gesetzesänderung gefährdet werden.

Die Anwendung dieser im Rahmen der Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts im Jahre 1990 geschaffenen Sonderzuständigkeit hat in der Praxis zu einer Fülle von Problemen geführt, die sich belastend auf Pflegeverhältnisse auswirkten. Besonders belastend wirkt sich die mit dem Zuständigkeitswechsel verbundene Kostenerstattungspflicht des Jugendamts am Wohnort der Eltern aus. In der Vergangenheit sind hier häufig langwierige Verhandlungen geführt worden mit hohem bürokratischem Aufwand. Zudem wurde nur ein Teil der Kosten als erstattungsfähig anerkannt.

Vor diesem Hintergrund erscheint es sachgerecht, die Sonderzuständigkeit für Pflegeverhältnisse mit einer längerfristigen Prognose aufzugeben und auch für diese Hilfe die allgemeinen Zuständigkeitsvorschriften des Kinder- und Jugendhilferechts zur Anwendung zu bringen.

Die Zuständigkeitsordnung des SGB VIII knüpft am Grundgedanken des Gesetzes an, die elterliche Erziehung des Kindes zu unterstützen und zu ergänzen. Dies gilt im Grundsatz auch für die Formen der Hilfe zur Erziehung, bei denen das Kind außerhalb des Elternhauses im Heim oder in einer Pflegestelle lebt, das Jugendamt aber gleichzeitig zur Arbeit mit den Eltern verpflichtet ist. Das Ziel der Hilfe ist es, die Eltern in den Stand zu setzen, das Kind möglichst wieder eigenverantwortlich zu erziehen. Die elterliche Erziehungsverantwortung bleibt auch bei einer Unterbringung des Kindes in einer Pflegefamilie bestehen, solange sie nicht vom Familiengericht auf einen Vormund oder Pfleger übertragen worden ist. Vor diesem Hintergrund erscheint es sinnvoll, die Hilfesteuerung da anzulegen, wo die Eltern ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Dabei wird nicht verkannt, dass die Kooperation mit den Pflegeeltern eine zentrale Voraussetzung für den Hilfeerfolg ist und deshalb gewährleistet sein muss, dass der Anspruch der Pflegeperson auf Beratung und Unterstützung nach § 37 Abs. 2 SGB VIII realisiert wird. Daher wird in der Begründung zum Regierungsentwurf ausdrücklich betont, dass das Jugendamt am Wohnort der Pflegefamilie im Rahmen von Amtshilfe als Ansprechpartner für die Pflegefamilie zur Verfügung steht.

Der von Ihnen übermittelte Vorschlag, die Zuständigkeit dauerhaft bei dem Jugendamt anzuknüpfen, das die Vermittlung vorgenommen hat, vermeidet zwar jeden Zuständigkeitswechsel, nimmt aber damit weder auf einen Wohnsitzwechsel der Herkunftsfamilie noch der Pflegefamilie Rücksicht. Er nimmt damit in Kauf, dass ggf. sowohl die Eltern als auch das Kind in größerer Entfernung zum zuständigen Jugendamt leben. Damit wird sowohl die Zusammenarbeit mit der Herkunftsfamilie als auch diejenige mit der Pflegefamilie erschwert.

Nach vielen Gesprächen mit Praktikern ist uns bewusst, dass es eine perfekte Lösung dieser Frage angesichts der komplexen Anforderungen nicht gibt.

Mit freundlichen Grüßen
Im Auftrag
Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Wiesner 
   

 

Kommentar:
     Wiesner hat recht: es gibt angesichts der komplexen Anforderungen keine perfekte Lösung dieser Frage. Also kommt es auf die Prioritäten an. Vorrang vor Verwaltungserfordernissen hat eindeutig das Kindeswohl. Von der bisherigen Regelung des § 86.6 KJHG profitieren die Pflegekinder, weil sie die gesetzlich zugesagte “Beratung und Unterstützung“ durch den örtlichen Träger gewährleistet, “in dessen Bereich die Pflegeperson ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat.“
     „Die Vorschrift durchbricht den Grundsatz, wonach ein Ortswechsel des Kindes oder des Jugendlichen, der durch die Gewährung einer Leistung bedingt ist, niemals zu einem Zuständigkeitswechsel führt. Sie trägt der psychosozialen Realität Rechnung, daß ein Kind oder ein Jugendlicher, das bzw. der längere Zeit mit anderen Personen zusammenlebt, die sich ihm liebevoll zuwenden, ein neues schützenswertes Eltern-Kind-Verhältnis begründen kann.“ (vgl. Kommentar zu SGB VIII, § 86, RD 33, Wiesner et al.).
     Auf engagierte Unterstützung ist die Pflegefamilie besonders angewiesen, wenn es zu Konflikten mit der Herkunftsfamilie kommt. Zu dem Sozialdienst des für die Herkunftsfamilie zuständigen Jugendamts kann die Pflegefamilie das dafür notwendige Vertrauensverhältnis nicht entwickeln, und jenes wird sich erfahrungsgemäß mehr für seine Klienten, d.h. für die Herkunftsfamilie einsetzen als für die ihm kaum bekannte Pflegefamilie. Der Verweis auf die Amtshilfe des für die Pflegefamilie zuständigen Jugendamts in der Begründung des Regierungsentwurfs hilft nicht weiter, weil eine solche Anmerkung später kein Jugendamt verpflichtet, sich angemessen einzusetzen. Es ist sicher kein Zufall, daß die Amtshilfe-Idee in der Begründung, aber nicht als einklagbare Pflicht im Gesetzestext auftaucht. Was ist, wenn das Jugendamt seine Beratungs- und Unterstützungsaufgaben auf einen freien Träger delegiert hat? Wer bezahlt dessen zusätzliche Arbeit?
     Der vom Bundes-PFAD erarbeitete Kompromißvorschlag wird von Wiesner mit einleuchtenden Argumenten abgelehnt. Deshalb unser Appell: § 86.6 wurde zum Wohl des Pflegekindes eingeführt und sollte zu seinem Wohl erhalten bleiben! (vgl. Wiesner s.o.)

Gudrun und Kurt Eberhard (August 2004)


siehe auch:

 

 

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