Ob jemand kriminell wird, entscheidet sich oft in früher Jugend. Da Wissenschaftler die Gefahr frühzeitig erkennen können, kann man gegensteuern.
Im Jahr 1975 mussten nahezu alle Dreijährigen der neuseeländischen Hafenstadt Dunedin zu einer psychologischen Untersuchung, deren prophetische Kraft niemand ahnen konnte. Die Aufgaben waren harmlos. Die Kleinen sollten beispielsweise sagen, was sie auf Bildern sahen, und zeigen, wie geschickt sie sich bewegen konnten. Anschließend beurteilten die Psychologen die Knirpse: Reagierten sie übermäßig empfindlich? Benahmen sie sich aggressiv? Verhielten sie sich freundlich? Wirkten sie gleichgültig? Die Wissenschaftler hatten die Kinder vorher nie gesehen, sie verließen sich allein auf ihre Eindrücke aus dem anderthalbstündigen Test. Ihr Urteil erwies sich als hellsichtig.
Das zeigte sich, als die Forscher den weiteren Lebensweg der 3.000 Kinder verfolgten. Dazu mussten sie sie in späteren Jahren auf drei Kontinenten wieder aufspüren. Selbst mit 21 Jahren kamen noch über 97 Prozent zu den aufwändigen Nachuntersuchungen.
Schon unter den Kleinkindern hatten die Wissenschaftler drei Haupttypen ausgemacht, die sich in anderen Untersuchungen auch in Island, den USA und Deutschland fanden: Ein Großteil der Kinder entsprach dem gut angepaßten Typ und ließ sich durch nichts groß aus der Ruhe bringen. Andere wiederum reagierten scheu und ängstlich.
Doch es gab noch einen dritten Haupttyp: die unterkontrollierten Kinder. Diese zehn Prozent agierten impulsiv, leicht irritierbar und labil. In den folgenden Jahren erwiesen die Unterkontrollierten sich als die Problemkinder. Sie verließen die Schule häufig vorzeitig und das nicht immer freiwillig. Mit 18 Jahren beschrieben sie sich selbst als tollkühn, unbekümmert und ließen sich nach eigenem Bekunden gern auf gefährliche Unternehmungen ein. Sie verloren deutlich häufiger als die gut Angepaßten ihre Arbeit, hatten mehr Alkoholprobleme, wurden von Bekannten als wenig verläßlich beschrieben, unterhielten konfliktreiche und wenig vertrauensvolle Liebesbeziehungen.
Vor allem aber kamen sie häufiger – und sehr früh – mit dem Gesetz in Konflikt. Jeder achte von denen, die schon mit drei Jahren durch ein unterkontrolliertes Temperament aufgefallen waren, hatte es im Alter von 21 zum Kriminellen mit mehreren Vorstrafen gebracht. Von den gut angepaßten Kindern waren es nicht einmal halb so viele. Sind manche Menschen von frühester Jugend an für eine früh beginnende Verbrecherlaufbahn prädestiniert?
Spektakuläre Fälle scheinen diesen Verdacht zu bestätigen:
- In England entführten 1993 zwei Zehnjährige den zwei Jahre alten James Bulger aus einem Liverpooler Einkaufszentrum, bewarfen ihn mit Ziegelsteinen, schlugen ihn mit einer schweren Eisenstange und legten ihn schließlich auf Eisenbahnschienen. Da war James wahrscheinlich bereits tot.
- In der deutschen Kleinstadt Bad Reichenhall schoß ein 16jähriger Schlosserlehrling 1999 mit Gewehrsalven "auf alles, was sich bewegt" – so die Polizei – und tötete ein Ehepaar aus der Nachbarschaft, einen Patienten des nahen Krankenhauses, seine Schwester und schließlich sich selbst.
Das sind Extremfälle, doch die meisten kriminellen Laufbahnen beginnen früh. Ein Großteil der Verbrechen wird von – zumeist männlichen – Heranwachsenden begangen. In den USA gehen über die Hälfte der Tötungsdelikte auf das Konto von 14- bis 24jährigen. Die Polizei verdächtigt in Deutschland unter den 12- bis 14jährigen einen größeren Anteil, Straftaten begangen zu haben, als in allen Altersgruppen jenseits von 25 Jahren. Die Anzahl steigt steil bis zum Alter von 21 und geht dann fast ebenso zügig zurück. So unglaublich es klingt: Mit 25 ist jeder dritte deutsche Mann straffällig geworden.
Und das sind nur die Ertappten. In Wirklichkeit bewegen sich noch weit mehr Halbstarke immer mal wieder außerhalb der Legalität. Das beweisen anonyme Befragungen, sogenannte Dunkelfeld-Studien. Sie zeigen, "dass die weit überwiegende Mehrheit der Jugendlichen wenigstens gelegentlich Straftaten begeht", resümiert Leo Montada, Professor für Entwicklungspsychologie in Trier: "Delinquenz im Jugendalter ist ‚normal‘ geworden."
Die Bundesrepublik steht nicht allein. Auch andere europäische Länder verzeichnen mehr jugendliche Gewalttäter. In den USA avancierten Mord und Totschlag schon vor einem Jahrzehnt zur führenden Todesursache unter männlichen Teenagern in den Großstädten. Nicht nur statistisch gesehen sind Straftaten inzwischen die Regel: "Jugenddelinquenz ist so häufig, dass sie als normales Entwicklungsphänomen und nicht als Entwicklungspathologie zu interpretieren ist", urteilt Psychologe Montada. Die Psychologin Terrie Moffit bietet eine von vielen Kollegen geteilte Erklärung dafür an, dass immer mehr Jugendliche in westlichen Ländern über die Stränge schlagen: Die Kids sind in die sogenannte Reifungslücke geraten. Schon als Teenager sind sie biologisch erwachsen, doch Kinder bekommen und auf eigenen Füßen stehen, ist noch lange nicht angesagt – Biologie und soziale Rolle klaffen auseinander. So demonstrieren sie ihre Eigenständigkeit, indem sie auf die Regeln der Erwachsenen pfeifen, vielleicht klauen sie nebenbei noch das Geld für Statussymbole zusammen.
Sobald sich die Reifungslücke schließt, weil die älter Gewordenen in die Erwachsenen-Rolle schlüpfen, lassen die meisten der gereiften Früchtchen ihre Jugendsünden hinter sich und leben fortan als brave Bürger. Doch einige machen weiter und entwickeln sich zu Berufsverbrechern oder zu Gelegenheitskriminellen. Sie stellen den harten Kern der Unterwelt. Unter ihnen sind Männer wie der Entführer Thomas Drach, der zeitlebens alles mied, "was irgendwie mit Legalität zu tun hat", so sein 33 Tage im Keller gehaltenes Opfer Jan Philipp Reemtsma.
Sie sind das eigentliche Kriminalitätsproblem. Zahlreiche Studien zeigen: Eine Gruppe von lediglich fünf Prozent aller Kriminellen begeht über die Hälfte aller Delikte. Und noch etwas haben die Forscher in großen Untersuchungen wie der mit den Kleinkindern von Dunedin herausgefunden: Künftige Schwerverbrecher fallen zumeist schon früh auf. Als Kinder sind sie ungehorsam und aggressiv, nach der Grundschule begehen sie erste Diebstähle, später schwerere Straftaten. Verschiedene Forschergruppen haben diesen Typus in ihren Studien immer wieder ausgemacht. Gerald Patterson vom Oregon Social Learning Center prägte den prägnanten Namen: early starters – Frühstarter.
Um Mißverständnissen vorzubeugen: Keineswegs alle Kinder, die früh Schwierigkeiten machen, entwickeln sich zu Kriminellen. Etwa die Hälfte schafft den Absprung. Doch die andere Hälfte bringt weiter Unglück über ihre Mitmenschen. Die Dauerhaftigkeit der Delinquenz hat wie die Kriminalität selbst viele Ursachen. Trinkende Väter, prügelnde Mütter, Vernachlässigung, Armut, kriminelle Nachbarschaft. Aber selbst unter ungünstigsten Bedingungen geraten längst nicht alle Kinder auf die schiefe Bahn. Auch ihre Persönlichkeit spielt eine Rolle.
Es gibt Menschen, die wenig Mitgefühl für andere aufbringen, die manipulieren, schlagen und manchmal töten, aber keine Reue spüren. Das Diagnose-Handbuch der Weltgesundheitsorganisation bescheinigt ihnen eine sogenannte Dissoziale Persönlichkeitsstörung, andere Forscher verwenden den griffigeren Begriff "Psychopath". Der kanadische Psychologieprofessor Robert Hare macht Psychopathen für über die Hälfte aller schweren Verbrechen verantwortlich.
Der Psychologe Donald Lynam von der Universität von Kentucky versucht gezielt, die Verbrecher von morgen möglichst früh aufzuspüren. Sein Ausgangspunkt sind sogenannte hyperkinetische Kinder. Diesen Youngstern fällt es schwer, länger aufmerksam zuzuhören oder sich etwa auf ihre Hausaufgaben zu konzentrieren. Statt dessen tigern sie ruhelos herum und tun, was ihnen gerade in den Sinn kommt.
Wie sich zeigte, entwickeln dramatisch viele von ihnen später eine dissoziale Persönlichkeit – in einer Studie waren es 23 Prozent gegenüber 2 Prozent in einer Vergleichsgruppe. Lynam ist allerdings überzeugt, dass keineswegs alle hyperkinetischen Kinder besonders gefährdet sind, in die Kriminalität abzurutschen. Nach seinen Analysen trägt nur ein bestimmter Teil dieses Risiko in sich: Nur wer zusätzlich massive Verhaltensprobleme zeigt – sich beispielsweise nichts sagen läßt, schnell wütend wird, andere absichtlich ärgert und die Schuld für eigene Missetaten abwälzt. Von den Kindern, die im Alter zwischen 10 und 13 die gefährliche Diagnose-Kombination erfüllten, fanden sich als junge Erwachsene 58 Prozent in der Kriminalkartei wieder, so das Ergebnis einer älteren Studie.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kam gerade eine große Untersuchung des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit in Mannheim: Kinder, die mit acht Jahren als hyperkinetisch oder dissozial eingestuft wurden, waren als Erwachsense fast sechsmal häufiger kriminell als andere.
Lynam vermutet, dass die frühen Probleme der Kinder die ersten Zeichen einer psychopathischen Persönlichkeit sind. Die Kleinen geben mit 13 nicht nur mehr geschwänzte Schultage, kleine Diebstähle und erste Einbrüche zu, sondern ähneln auch bei psychologischen Tests erwachsenen Psychopathen. Sie schaffen es beispielsweise nicht, bei einem Computerspiel darauf zu verzichten, vielleicht sofort zehn Cent zu gewinnen, obwohl sie nur 14 Sekunden warten müßten, um ihre Chancen zu verdoppeln. Diese Unfähigkeit, Versuchungen zu widerstehen, prädestiniert zu kriminellen Akten.
In den Augen von Lynam sind die Diagnosen der Hyperaktivität und der Verhaltensstörungen daher "die Netze, in denen Therapeuten und Forscher den flügge werdenden Psychopathen fangen werden". Das klingt martialisch, doch Lynams Ziele sind menschenfreundlich: Er will solche Kinder gezielt fördern, damit sie nicht in die Kriminalität abgleiten.
Langsam fassen solche Überlegungen auch in Deutschland Fuß. "Kriminalstrategisch ist es vordringlich, die Entwicklungsbahn des chronischen Lebenslauf-Straftäters, des Karriere-Kriminellen vorbeugend zu unterbrechen", forderte vergangenes Jahr das Fachblatt Kriminalistik.
Allerdings halten gerade die Oberhäupter von Problemfamilien ihre Sippe meist keineswegs für behandlungsbedürftig – nur zehn Prozent stehen einer Therapie aufgeschlossen gegenüber und selbst von dieser Minderheit nimmt nur ein Viertel sie tatsächlich in Anspruch. Darum verspricht es womöglich mehr Erfolg, im Kindergarten Programme für alle Kinder und Eltern anzubieten. "Sie können nicht sagen, Kind 7, Kind 15 und Kind 23 sind auffällig, die Eltern brauchen ein Training", meint Psychologieprofessor Friedrich Lösel von der Universität Erlangen. Wenn die Erziehungsberechtigten erst einmal Vertrauen gefaßt haben, sind sie eher für gezielte Hilfen aufgeschlossen, beschreibt Lösel seine "Einschleich-Taktik". Mit dieser Untersuchung prüfen die bayerischen Forscher im Auftrag des Bundesfamilienministeriums, ob in den USA bereits bewährte Programme für Problemkinder auch in Deutschland helfen. Angeboten werden Trainings für Eltern und für Kinder. Die Kleinen bekommen ihre Lektionen meist mit Hilfe der aus der Sesamstraße bekannten Puppen Ernie und Bert vermittelt und üben dann in Rollenspielen. So lernen sie laut Lösel beispielsweise, "dass sie anderen nicht unbedingt auf die Nase hauen müssen, wenn sie etwas wollen". Vor allem Kindern aus Problemfamilien hilft das Programm, wie die ersten Ergebnisse nach drei Monaten zeigen.
Bemühungen um gefährdete Kinder können sich lohnen: In den sechziger Jahren starteten US-Forscher die High/Scope Perry Preschool-Studie. 123 farbige Kinder, deren Familien oder alleinerziehende Mütter oft von Sozialhilfe lebten, besuchten jeden Wochentag eine dreistündige Vorschule, zusätzlich wurde die Familie jede Woche von einem Helfer anderthalb Stunden besucht. Mehr als zwei Jahrzehnte später zogen die Forscher Bilanz und verglichen die Situation ihrer jetzt 27jährigen Zöglinge mit der von Herangewachsenen aus demselben Milieu, die damals nicht in das Förderprogramm gekommen waren. 35 Prozent der Alleingelassenen waren in die Kriminalität gerutscht und hatten bereits mindestens fünf Festnahmen hinter sich, von den Geförderten hatten nur 7 Prozent ein solches Strafregister. Sie hatten es auch wesentlich häufiger zu ordentlich bezahlten Berufen gebracht. Weil die Gesellschaft von braven Steuerzahlern mehr hat als von Kriminellen, rentierte sich das Vorschulprogramm sogar finanziell. Wie die Forscher der High/Scope Educational Research Foundation in Michigan penibel ausrechneten, kamen für jeden ausgegebenen Dollar 7,16 Dollar wieder herein – "eine außerordentlich lukrative Geldanlage".
erstveröffentlicht in “Bild der Wissenschaft”, Heft 9/2001, mit freundlicher Genehmigung des Verfassers
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