FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2004

 



Ulrike und Gerd Lehmkuhl (Hg.)

Frühe psychische Störungen und ihre Behandlung

Vandenhoeck & Ruprecht Göttingen, 2004

(200 Seiten, 24,90 Euro)


Die beiden Herausgeber, Ulrike Lehmkuhl (Univ.-Prof. Dr. med. Dipl.-Psychologin, Direktorin der Klinik für Psychiatrie. Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters der Charite, Berlin) und Gerd Lehmkuhl (Univ.-Prof. Dr. med. Dipl.-Psychologe, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Universität zu Köln) geben in ihrem Vorwort folgende Fragen vor: 
"Die Bedeutung der emotionalen Welt des Kindes (Dornes 2000) für den weiteren Lebensweg wurde zunehmend erkannt und führte zu einer Vielzahl von Fragen: Wie wirken sich frühe Risiken und belastende Kindheitserfahrungen auf die weitere Entwicklung aus? Lassen sich protektive Faktoren definieren, die trotz Risiken und widriger Umstände eine Schutzfunktion übernehmen? Welche Behandlungs- und Beratungskonzepte sind bei frühen dysfunktionalen Beziehungsstrukturen hilfreich? Können Präventionsansätze dazu beitragen, Entwicklungsprozesse in größerem Umfang zu optimieren? Die Beiträge dieses Bandes versuchen, aus unterschiedlichen Perspektiven Antworten auf diese Fragen zu geben. Hierbei besteht ein wesentliches Anliegen darin, den interdisziplinären Dialog zwischen empirischen und psychodynamischen Ansätzen im Interesse einer ganzheitlichen Betrachtung anzustoßen."

Als mitwirkende Autoren haben sie 21 Wissenschaftler und Praktiker gewonnen:

Katja Becker, Dr. med. wiss. Mitarbeiterin in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim.

Bernhard Blanz, Prof. Dr. med., Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Klinikum der Friedrich-Schiller-Universitat, Jena.

Karl-Heinz Brisch, Dr. med.. Oberarzt und Leiter der Abteilung Pädiatrische Psychosomatik und Psychotherapie im Dr. v. Haunerschen Kinderspital der Universitat München.

Tanja Brückl, Dipl.-Psychologin, Doktorandin am Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie der TU Dresden.

Christian Eggers, Prof. Dr. med., Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Rheinischen Landes- und Hochschulklinik in Essen.

Günter Esser, Prof. Dr. phil., Professor für Klinische Psychologie/Psychotherapie, Direktor der Akademie für Psychotherapie und Interventionsforschung, Universität Potsdam.

Michael Günter, Priv.-Doz. Dr. med., Leitender Oberarzt der Abteilung Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter an der Universität Tübingen.

Martin Holtmann, Dr. med.. Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Klinikum der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität, Frankfurt am Main.

Wolfgang Ihle, Dipl.-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Institut für Psychologie der Universität Potsdam.

Manfred Laucht, Dr. phil., Dipl.-Psychologe, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim.

Klaus Lenz, Dipl.-Mathematiker, wiss. Mitarbeiter der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters der Charite, Virchow-Klinikum, Berlin

Fritz Mattejat, Prof. Dr. phil., Dipl.-Psych., Psychol. Psychotherapeut, Kinder- und Jugendl.psychotherapeut, Philipps-Universität Marburg.

Eva Möhler, Dr. med., wiss. Mitarbeiterin der Abt. Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Heidelberg, Säüglingssprechstunde des Universitätsklinikums.

Gabriele Oepen, Ärztin an der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters der Charite, Campus Virchow-Klinikum, Berlin

Helmut Remschmidt, Prof. Dr. med. Dr. phil., Dipl.-Psych., Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie der Philipps-Universität Marburg.

Franz Resch, Prof. Dr. med., Ordinarius und Ärztlicher Direktor der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Heidelberg.

Uwe Ruhl, Dr., Dipl.-Psych., Institutsambulanz des Instituts für Klinische Psychologie und Psychotherapie der TU Dresden, Bereich 'Verhaltenstherapie bei Kindern und Jugendlichen'

Martin H. Schmidt, Prof. Dr. med. Dr. rer. nat., Dipl.-Psych., Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim, Lehrstuhl für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Heidelberg.

Andreas Wiefel, Dr. med., Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters der Charite, Campus Virchow-Klinikum, Berlin

Hans-Ulrich Wittchen, Prof. Dr. phil., Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie Technische Universität Dresden, Cosultant am Max-Planck-lnstitut für Psychiatrie München.

Susanne Wollenweber, Dipl.-Psych. an der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik des Kindes- und Jugendalters der Charite, Campus Virchow-Klinikum, Berlin

 

Das Inhaltsverzeichnis macht Appetit auf ein delikates Menue:

Ulrike Lehmkuhl und Gerd Lehmkuhl
Die Beziehung zwischen frühen Entwicklungsbedingungen und psychischer Stabilität

Hans-Ulrich Wittchen, Tanja Brückl und Uwe Ruhl
Haben frühe psychische Störungen Folgen?

Helmut Remschmidt und Fritz Mattejat
Therapieevaluation in der Kinder- und Jugendpsychiatrie

Martin H. Schmidt
Indikation als Schlüsselbegriff zwischen Diagnostik und Intervention

Franz Resch
Zur Bedeutung der Psychodynamik für eine entwicklungsorientierte Psychotherapie:  Mythen und Fakten

Fritz Mattejat
Perspektiven einer entwicklungsorientierten Psychotherapie

Michael Günter
Psychotherapie bei Substanzmissbrauch: Was soll behandelt werden?

Günter Esser, Wolfgang Ihle, Martin H. Schmidt, Bernhard Blanz
Modell der Entstehung des Substanzmissbrauchs

Karl-Heinz Brisch
Störungsspezifische Diagnostik und Psychotherapie vonBindungsstörungen

Martin Holtmann, Katja Becker, Manfred Laucht, Martin H. Schmidt
Verlauf frühkindlicher Regulationsprobleme - wer braucht frühe Interventionen?

Andreas Wiefel, Gabriele Oepen, Susanne Wollenweber, Klaus Lenz, Christian Eggers, Ulrike Lehmkuhl
Psychiatrie der frühen Kindheit

Eva Möhler und Franz Resch
Regulationsstörungen im zweiten und dritten Lebensjahr .

Die Autorinnen und Autoren

Stichwortregister

 

Den ersten Beitrag liefern die Herausgeber. Ausgehend von einer sorgfältigen Analyse internationaler Längsschnittstudien gelangen sie zu einer differenzierten Beurteilung, die sich von einem einseitigen tiefenpsychologischen Determinismus ebenso abhebt wie von einem  tabula-rasa-Behaviorismus, der die langfristigen Wirkungen frühkindlicher Prägungen gänzlich ignorieren möchte:
"Es ist unstrittig, dass unzureichende Betreuung in der frühen Kindheit für die Pathogenese die entscheidende Rolle spielt, obwohl Daten an bindungsgestörten Kindern kaum erhoben wurden. Vielmehr handelt es sich eher um Rückschlüsse aus Beschreibungen von Kindern aus institutioneller Erziehung und misshandelten, vernachlässigten Kindern (Übersichten bei Zeanah 1997; Zeanah u. Emde 1994; Greenberg 1999). Allerdings bleibt bei vielen Studien die Frage offen, ob nicht Bindungstypen als psychopathologische Diagnose im Sinne einer Bindungsstörung missverstanden werden (Seiffge-Krenke 1999).
     Eine Studie an adoptierten englischen und rumänischen Kindern mit unterschiedlich langer Deprivationsdauer (O'Connor et al. 1999; O'Connor u. Rutter 2000) zeigt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen Deprivationsdauer und Auftreten von Zeichen einer Bindungsstörung. Die Tatsache, dass 70 Prozent der Kinder nach langer Deprivation keine Bindungsstörung entwickeln, verweist auf die komplexe Interaktion pathogener und schützender Faktoren. Die Studie zeigt außerdem, dass auch nach kurz dauernder Deprivation bereits eine Bindungsstörung entstehen kann. Diese Befunde sprechen für ein multifaktorielles Ätiologiemodell, in dem biologische Vulnerabilität, Intensität und Dauer der Deprivation und schützende Faktoren sich zu einem 'developmental puzzle' (O'Connor u. Rutter 2000) zusammenfügen." (S.17)

Eine methodologisch anspruchsvolle Längsschnitt-Untersuchung führt Wittchen, Brückl und Ruhl zu wichtigen Resultaten:
"Eine Schlussfolgerung, die sich aus den Befunden ableiten lässt, ist, dass psychische Störungen keineswegs, wie oft vermutet, lediglich vorübergehende Befindlichkeitsstörungen ohne größere Entwicklungsrelevanz darstellen. Eine komplette longitudinale Spontanremission ist die Ausnahme  sowohl bei Kindheitsstörungen als auch noch ausgeprägter bei Störungen in der Adoleszenz. Die in der Literatur verschiedentlich immer noch zu findende Einschätzung einer hohen Spontanremission und geringen Stabilität von Störungen im Kindesalter ist vermutlich ein Artefakt, das sich lediglich bei einer strikt diagnosenspezifischen Betrachtung ergeben kann." (S.41)

Während sich die meisten Untersuchungspläne der Therapieforschung zwecks besserer Kontrolle der angepeilten Variablen ziemlich weit von der klinischen Praxis entfernen, zeigen Remschmidt und Mattejat, daß sich auch die Therapieprogramme des klinischen Alltags und ihre Effektstärken quantitativ analysieren lassen.
"Es wird deutlich, dass die familienbezogenen Maßnahmen den höchsten Stellenwert einnehmen (fast 80 %), gefolgt von der individuellen Psychotherapie des einzelnen Patienten (etwa 43 %) und anderen umfeldbezogenen Maßnahmen und der Übungsbehandlung sowie der Medikation, die in dieser Gesamtstichprobe nur einen Wert von etwa zwölf Prozent erreicht. Letzteres Ergebnis ist besonders wichtig im Hinblick auf manche Darstellungen in den Medien und in der Öffentlichkeit, die Kinder- und Jugendpsychiatern vielfach vorwerfen, dass sie jede Störung mithilfe von Medikamenten behandeln würden. Eine solche Darstellung ist völlig irreführend. Unsere Auswertung zeigt vielmehr, dass insgesamt gesehen (wenn man alle kinder- und jugendpsychiatrische Patienten betrachtet) die Medikation nur eine untergeordnete Rolle spielt; man kann davon ausgehen, dass sich das nicht nur in der untersuchten Klinik so darstellt, sondern in der Regel auch für andere kinder- und jugendpsychiatrische Kliniken gilt. ....
     Nach dem derzeitigen Kenntnisstand über Ätiologie, therapeutische Beeinflussbarkeit und Verlauf psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter sind bei den meisten Störungsbildern gute Erfolge zu erzielen, hundertprozentige Erfolgsquoten der Behandlung können allerdings nur im Ausnahmefall erreicht werden, da viele Störungen zur Chronifizierung neigen." (S.53 u. 60) 

M. H. Schmidt, der mit anderen zusammen die vom Bundes-Familien-Ministerium finanzierte Untersuchung über die Effektivität von Jugendhilfemaßnahmen durchführte, widmet sich den Problemen der Indikation, u.a. auch ihren ethischen Implikationen, die sonst gerne ignoriert werden:
"Hier sind Indikationsfragen unter den ethischen Rahmenbedingungen zu erörtern. Dazu wird auf die Prinzipien von Beauchamp und Childress zurückgegriffen: das Prinzip der Selbstbestimmung des Patienten, der Fürsorge, also des Nutzens ärztlichen Handelns, das Prinzip der Nichtschädigung und das Gerechtigkeitsprinzip. Bezüglich des Autonomieprinzips als Rahmenbedingung für die Indikationsstellung ist die Besonderheit im Kindes- und Jugendalter, dass bei der Konsensfindung zwischen Arzt und Patient die Rechte von Eltern und Minderjährigen zu berücksichtigen sind. Der Konsens der Eltern Minderjähriger ist durch die Grenzen des Elternrechts beschränkt, der Konsens der Minderjährigen dadurch, dass ihre Pathologie nicht dazu führen darf, dass Entwicklungschancen ungenutzt bleiben. Im Sinne des letzteren Prinzips wird in den letzten Jahren eine Zunahme der Begutachtung (nach § 1631b BGB) zur Frage der Genehmigung einer geschlossenen Unterbringung in Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie oder der Jugendhilfe beobachtet. Die Problematik dieser Begutachtungen liegt darin, dass die Evidenz des Nutzens bestimmter Interventionen gerade bei Patienten mit schwerwiegenden Störungen, die Selbst- oder Fremdgefährdung nach sich ziehen können, nämlich Suizidalität, Substanzmissbrauch, Schulverweigerung und aggressives Verhalten, vor allem bezüglich der Nachhaltigkeit der Interventionen mäßig ist. Gerade bei Störungen, die Eingriffe in die Rechte des Minderjährigen erfordern, wünschte man sich aber eine weitaus höhere Evidenz." (S.75/76)

Resch konstatiert, daß ein 'kalter Gegenwind' die psychodynamischen Konzepte erfaßt hat und wirbt für eine undogmatische 'empirische Psychodynamik' 
"Das psychoanalytische Ideengebäude gleicht einem alten Schloss, das von modernen Therapieschulen gleichsam als Steinbruch und Ideenlieferant genutzt wird, so dass psychodynamische Konzepte sich immer wieder in anderen Therapieschulen und Denksystemen wiederfinden, ohne dass sie dort zitiert würden, weil ihre Ideenräume einfach mit anderen Begriffen nachgebildet wurden. Moderne Versuche, psychodynamisches Denken und Erkenntnisse aus anderen Wissensfeldern, die auf empirischem Wege erworben wurden, miteinander zu verbinden, sollen vorgestellt werden. Eine solche empirische Psychodynamik bezieht Erkenntnisse der Emotions- und Kommunikationsforschung, der Bindungsforschung, der Gedächtnisforschung, der modernen Selbstkonzeptforschung und der Psychotherapieforschung ein." (S.85)
Leider fehlt bei ihm die so naheliegende Integration der neuropsychologischen Traumaforschung.

Aus der stürmischen Entfaltung der Entwicklungspsychopathologie zieht Mattejat die Konsequenz, deren Erkenntnisse für eine 'Entwicklungsorientierte Psychotherapie' zu nutzen, nicht im Sinne einer neuen Schule, sondern unter Heranziehung der bisherigen Psychotherapieforschung und mit entwicklungspsychologischer Grundorientierung.
"Der aktuelle Stand der Psychotherapieforschung  bezogen auf den Kinder- und Jugendlichenbereich  kann wie folgt zusammengefasst werden:

  • In den letzten beiden Jahrzehnten können wir einen erheblichen Zuwachs an Studien zur Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter verzeichnen.
  • Die Qualität der durchgeführten Studien verbesserte sich in den letzten Jahren erheblich; hohe methodologische Standards (Nutzung von Manualen, Überprüfung der klinischen Signifikanz von Veränderungen, Follow-up-Untersuchungen) haben sich durchgesetzt.
  • Diese Studien haben gezeigt, dass Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen im Allgemeinen effektiv ist; die Effektstärke (verglichen mit keiner Behandlung/Placebo) ist relativ hoch und liegt in einem ähnlichen Bereich wie Erwachsenentherapien (.7 bis .8). Kognitiv-behaviorale Methoden erreichen im Durchschnitt höhere Effektstärken (.7 bis 1.0) als nichtbehaviorale Methoden (.2 bis .5).
  • Im letzten Jahrzehnt wurde die allgemeine Frage nach der Effektivität von Psychotherapie von der störungsspezifischen Frage abgelöst: 'Welche Störung kann mit welcher Intervention beziehungsweise mit welchem Behandlungsprogramm wirksam behandelt werden?' Die störungsspezifische Fragestellung ('What works for whom') hat mittlerweile für eine Reihe von Störungsbildern bei Kindern und Jugendlichen Behandlungen identifiziert, die empirisch gut validiert sind und deshalb als 'evidenzbasiert' einzustufen sind." (S.112)

Günther kritisiert, daß drogenabhängige Patienten im allgemeinen sehr symptomzentriert behandelt werden und plädiert stattdessen für einen ganzheitlichen Ansatz, der die gesamte psychosoziale Situation umfaßt.
"Daraus ergibt sich, dass traditionelle Behandlungskonzepte, die auf den Substanzkonsum zentriert sind und in denen schwerpunktmäßig mithilfe verschiedener Techniken versucht wird, Konsumstil und Haltungen gegenüber dem Substanzkonsum zu ändern, bei Jugendlichen fehlgehen müssen. Denn die soziale Integration schlägt bei vielen dieser Patienten selbst dann weiterhin fehl, wenn zunächst eine Abstinenz erreicht werden kann, da die vielfältigen Problemlagen einen hohen Rückfalldruck erzeugen. Insoweit ist die Tendenz zu einer mechanistischen Abhängigkeitsdefinition in Richtung einer im Extremfall gar ausschließlich biologisch zu fassenden Krankheitseinheit zumindest für Jugendliche mit größtem Misstrauen zu betrachten.
     Was ergibt sich daraus für die Konzepte zur Behandlung Jugendlicher mit Substanzmissbrauch? Zunehmend wird aus diesen Erkenntnissen abgeleitet, dass die umfassende Behandlung nicht substanzbezogener Probleme Voraussetzung für eine längerfristige Sicherung einer erfolgreichen Abstinenz ist. Dabei ist vor allem davon auszugehen, dass die Definition der Alkohol- und Substanzabhängigkeit als Krankheit nicht dazu führen sollte, dass einseitig symptomorientierte Ansätze unter Außerachtlassen der komplexen psychosozialen Problemlagen favorisiert werden, obgleich diese heutigen Tendenzen zur Operationalisierung der Verkürzung der Behandlungszeiten und vermeintlichen Effizienzsteigerung entgegenkommen. Demgegenüber sollten verstärkt Modelle entwickelt werden, die in flexibler, aber systematisch miteinander verknüpfter Weise Entwicklungsförderung, berufliche und soziale Reintegration, psychiatrische Behandlung, eine Stärkung der Selbsthilfemöglichkeiten und der Beziehungs- und Kommunikationsfähigkeit miteinander verknüpfen." (S.119/120)

Wegen der zahlreichen Schwierigkeiten, die mit der Therapie drogenabhängiger Klienten verbunden sind, setzen Esser, Ihle, Schmidt und Blanz auf Prävention. Diese aber setzt die Kenntnis jener Merkmale voraus, die eine Entwicklung zum Substanzmißbrauch erwarten lassen. Zur Identifikation solcher Indikatoren unternahmen die Autoren eine aufwändige Längsschnittuntersuchung.
"Als zentrale Variable im Modell der Entstehung von Substanzmissbrauch erweisen sich expansive Störungen im Grundschulalter. Sie sind ihrerseits bedingt durch familiäre Risikofaktoren der frühen Kindheit. Bereits aus der Symptomatik der Achtjährigen lassen sich fast 60 Prozent der Kinder mit späterem Substanzmissbrauch richtig vorhersagen. Aus den Symptomen der Dreizehnjährigen gelingt dies bereits für fast drei Viertel der Betroffenen und im Alter von 18 Jahren zu hundert Prozent. Die Symptome der Störungen des Sozialverhaltens sind zu allen Messzeitpunkten dominant. In den Diskriminanzanalysen der Acht- und Dreizehnjährigen kommt hypermotorischem Verhalten jedoch ein eigenständiges Gewicht zu. Dies zeigt, dass die Symptome der Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen nicht allein über ihre Korrelation mit Störungen des Sozialverhaltens einen signifikanten Beitrag zur Vorhersage von Substanzmissbrauch leisten. Aus den vorgelegten Daten fand sich kein Hinweis auf bedeutende Symptome aus dem introversiven emotionalen Bereich. Eine frühzeitige und effektive Behandlung der Störungen des Sozialverhaltens und hyperkinetischer Störungen muss als eine Form der Prävention von Substanzmissbrauch angesehen werden." (S.133)

Mit der bei ihm üblichen Klarheit beschreibt Brisch (s.a. Der Einfluss von traumatischen Erfahrungen..., Bindungsstörungen, Bindung und seelische Entwicklungswege, Bindung und Trauma) die verschiedenen Bindungsstörungen und ihre Ursachen, ferner deren Diagnostik und Therapie. Die Therapie der Bindungsstörungen steht vor dem Problem, daß sie eigentlich das voraussetzt, was sie herstellen will, eben Bindung.
"Erst nach Herstellung der 'therapeutischen Bindung' kann der Patient seine inneren und äußeren, Angst auslösenden Konflikte tiefer gehend explorieren. Ohne ein Gefühl von Sicherheit in der Übertragung zum Therapeuten kann das motivationale System der Exploration nicht sehr gut vom Patienten elaboriert eingesetzt werden. Es würden wesentliche Anteile der Geschichte und der inneren Konflikte dem Therapeuten sowie dem Patienten selbst verborgen bleiben. Hierbei wird ein Schwerpunkt auf Erfahrungen von Trennung, Verlust und Trauma (wie etwa Gewalt, Misshandlung und Vernachlässigung) gelegt, da diese für die Entwicklung der Bindung beim Patienten besonders pathogen gewirkt haben können, wenn sie nicht verarbeitet wurden. ....
     Im Lauf der Therapie wird es so möglich, dass der Patient seine innere Repräsentation von Bindung ändert und etwa statt eines Musters der Bindungsstörung ein unsicher-ambivalentes, aber organisiertes 'inneres Arbeitsmodell' von Bindung als neue Form der psychischen Repräsentation aufbaut (Brisch 1999a; Dozier 1990,2003; Fonagy et al. 1996). Dies wäre im Sinne der psychischen Struktur ein großer Gewinn, weil jede Form der organisierten psychischen Repräsentation auch wenn sie ein unsicheres Bindungsmuster widerspiegelt mehr psychische und psychosomatische Stabilität verspricht als eine 'Bindungsstörung'." (S.146/147)

Frühkindliche Regulationsstörungen (insbes. Störungen der Nahrungsaufnahme, des Schlaf-Wach-Rhythmus und der affektiven Erregung) nehmen sehr unterschiedliche Verläufe. Einerseits werden vollständige Spontanremissionen und andererseits langjährige komplizierte Entwicklungen beobachtet. Holtmann, Becker, Laucht und Schmidt ermittelten im Rahmen der Mannheimer Risikostudie die Faktoren, die den Verlauf der Regulationsstörungen beeinflussen.
"Frühkindliche Regulationsprobleme sind ein verbreitetes Phänomen. Betrachtet man die weitere Entwicklung regulationsgestörter Säuglinge vom Kleinkind- bis zum Schulalter, so zeigt sich eine insgesamt günstige Prognose isolierter Regulationsprobleme. Ein erhöhtes Risiko für spätere psychische Störungen besaßen dagegen Säuglinge mit multiplen Regulationsproblemen. Bei ihnen fanden wir über den gesamten Verlauf der Entwicklung signifikant mehr externalisierende (hyperkinetische, aggressive und oppositionelle) Symptome als auch mehr internalisierende (ängstliche und depressive) Auffälligkeiten als in der Vergleichsgruppe.
     Frühkindliche Regulationsprobleme gingen in vielen Fällen mit Beeinträchtigungen der frühen Interaktion zwischen Mutter und Kind einher. Dysfunktionale Interaktionsmuster äußerten sich unter anderem in signifikant verkürzten Phasen positiver Interaktionen (wech- selseitiges Anlächeln), aber auch in einer geringeren Feinfühligkeit und Responsivität der Mutter verglichen mit der Gruppe der unauffälligen Säuglinge. Das Vorliegen disharmonischer Interaktionen erhöhte das Risiko späterer Auffälligkeiten und trug damit zu einer ungünstigen Prognose bei." (S.160)

Wiefel, Oepen, Wollenweber, Lenz, Eggers und Lehmkuhl bearbeiteten folgende Fragestellung:
"Die Möglichkeiten und Probleme der diagnostischen Klassifikation in der kinder- und jugendpsychiatrisch geführten Baby- und Kleinkind-Sprechstunde wurden erfasst und beschrieben. Dazu haben wir die Klassifikationssysteme ICD-10 und DC 0-3 angewendet und miteinander verglichen. Die Beziehung zwischen der Qualität der EItern-Kind-Interaktion gemessen mit den Emotional-Availability-Scales als dimensionalem Parameter und der kategorialen Klassifikation mit der DC 0-3 sowie der Intensität der notwendigen therapeutischen Maßnahmen im Sinne einer Schweregradeinschätzung wurden untersucht. Es wurde erwartet, dass sich einzelne diagnostische Gruppen hinsichtlich der Qualität der Mutter-Kind-Interaktion unterscheiden. Niedrige Werte in den Emotional Availability-Scales sollten mit größerer Intensität der nachfolgenden notwendigen Behandlungsmaßnahmen als möglichem Maß für den Schweregrad unabhängig von der gegebenen Diagnose assoziiert sein. Veränderungen im Patientenaufkommen der bis zu Dreijährigen nach Einrichtung einer kinderpsychiatrischen Baby- und Kleinkind-Sprechstunde wurden aufgezeigt. Dazu wurden Daten, die vor und nach Einführung der Spezialsprechstunde erhoben wurden, miteinander verglichen." (S.165/166)

In der Diskussion der Ergebnisse teilen die Autoren u.a. folgendes mit:
"Im Unterschied dazu [zu den ICD-Diagnosen] lassen sich mit der DC 0-3 zunächst alle Primärdiagnosen systematisch einteilen (Dunitz-Scheer 1996). Besonders hervorzuheben ist die gute Differenzierungsmöglichkeit beim Spektrum der klassischen Regulationsstörungen. Die hypermotorischen Verhaltensauffälligkeiten werden dem Verständnis nach ebenfalls den Regulationsstörungen, hier vom motorisch desorganisierten Typ, zugeordnet.
     Im Detail sind wir allerdings immer wieder auf Schwierigkeiten mit den Formulierungen der Kriterien gestoßen. Die Zero-to-Three ist zurzeit noch mit der Ausarbeitung eines verbesserten Algorithmus befasst. ....
     Die höchsten EA-Summenscores fanden wir in der Gruppe der Regulationsstörungen. Es handelt sich hierbei definitionsgemäß eher um transiente Verhaltensprobleme als um Störungen, so dass dieses Ergebnis nicht überrascht. Bezüglich der therapeutischen Konsequenzen fanden wir einen deutlichen Zusammenhang der Qualität der EItern-Kind-Interaktion mit den notwendigen und empfohlenen therapeutischen Maßnahmen. Je niedriger der EA-Summenscores war, desto intensivere therapeutische Maßnahmen waren indiziert. ....
     Die vorliegenden Daten unterstützen die Hypothese, dass das Spezialangebot einer kinderpsychiatrischen 'Baby- und Kleinkindsprechstunde' zur Spezifizierung und Validierung der ärztlichen Diagnostik und damit zu einem Qualitätszuwachs bei den jüngsten Patienten beiträgt." (S.175/176)

Möhler und Resch beleuchten die Umbruchphase vom Baby zum Kindergartenkind, insbes. die Interaktion zwischen Entwicklungs- und Temperamentsbedingungen. Im letzten Kapitel ziehen sie Konsequenzen zur Therapie:
"Somit gelten für die 'Behandlung' oder Erziehung der zur Expansivität neigenden Kleinkinder ähnliche Grundsätze, wie man sie Eltern von älteren hyperaktiven Kindern vermittelt, da ja auch im Kleinkindalter die exekutiven Funktionen schwach sind, auch wenn es sich dabei in dieser Altersphase meist nur um eine entwicklungsbedingte Defizienz der Handlungsplanung und Impulskontrolle handelt, welche noch reifen kann. Daher ist auch Zurückhaltung gegenüber einer vorschnellen Etikettierung eines Kleinkindes als 'hyperaktiv' geboten. Es ist den Eltern gegenüber vielmehr zu betonen, dass viele Kleinkinder nur eine kurze Aufmerksamkeitsspanne und eine große Impulsivität besitzen, selbst wenn sie später nicht hyperaktiv werden. Die exekutiven Funktionen benötigen Zeit und eine kontinuierliche Erziehung, die liebevoll und konsequent zugleich ist, um im zweiten und dritten Lebensjahr zur Funktionsfähigkeit heranzureifen. Bis dahin muss in der Beratungssituation unbedingt anerkannt werden, dass die Eltern einiges auszuhalten haben. Das für viele Eltern erstaunliche oder auch erschreckende Paradoxon muss unbedingt angesprochen werden, dass ein Wesen, welches nicht einmal Nahrungsaufnahme und -ausscheidung allein bewältigen kann, gleichzeitig ein erhebliches Zerstörungs- und Aktivitätspotenzial hat. Durch diese Kluft zwischen maximaler Abhängigkeit und schwer eingrenzbarer Autonomiebestrebungen des Kindes entstehen oft massive emotionale Belastungen der Eltern, welche in der Sprechstunde thematisiert werden müssen, oft auch in mehreren Sitzungen. Die Inanspruchnahme von Unterstützung ist daher auch keinesfalls als Insuffizienz, sondern als gutes Recht der Eltern zu werten. Leider werden in der frühen Kindheit Probleme zwischen Eltern und Kind und ein oft erheblicher Leidensdruck beider 'Parteien' nicht oder nicht an der richtigen Stelle oder eben erst Jahre später angesprochen. Die Praxis der Eltern-Kleinkind-Beratung sollte aus präventiver Sicht unbedingt weitere Verbreitung und gesellschaftliche Akzeptanz erlangen, um durch oft einfache Interventionen vielen Eltern-Kind-Dyaden ein unbelasteteres Miteinander zu ermöglichen." (S.191/192)

Dieser Sammelband über frühe seelische Störungen wurde hier relativ ausführlich dokumentiert, weil seine Verbindung von empirisch-wissenschaftlicher Qualität und klinischem Praxisbezug vorbildlich ist. Wir wünschen ihm nachhaltige und epidemische Ausbreitung.

Kurt Eberhard  (Okt. 2004)

 

 

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