Mit einer Sammlung von Referaten, die im Rahmen des Kongresses ‚Attachment and Trauma: Risk and Protective Factors in the Development of Children’ (Nov. 2001) vorgetragen wurden, führen Karl Heinz Brisch und Theodor Hellbrügge die bisher weitgehend unabhängig voneinander gewonnenen Erkenntnisse aus Bindungsforschung und Psychotraumatologie zusammen. „Bereits mit seiner Trilogie Bindung, Trennung und Verlust wies Bowlby immer wieder auf die Bedeutung von traumatischen Erfahrungen für die Entstehung von Störungen in der Bindungsentwicklung hin... Die Bindungsforschung hat nachgewiesen, wie diese Traumata mit Desorganisationen in den Bindungsrepräsentationen von Erwachsenen und mit desorganisiertem Verhalten von Kindern verbunden sein können... Die Forschung zur Psychotraumatologie hat andererseits ebenfalls in der Grundlagenforschung und der Klinik zeigen können, welche Vielzahl von Symptomen nach unverarbeiteten Traumata entstehen können und dass viele psychische Erkrankungen wie Borderline-Störungen, Angsterkrankungen, Depressionen auf dem Hintergrund von Traumatisierungen und posttraumatischen Belastungsstörungen entstehen können.“ (S. 7f.)
Im Folgenden werden die Autoren und ihre Beiträge aufgeführt:
Klaus E. Grossmann (Psychologe, Lehrstuhl an der Universität Regensburg) Emmy Werner: Engagement für ein Lebenswerk zum Verständnis menschlicher Entwicklung über den Lebenslauf
Theodor Hellbrügge (Sozialpädiater, em. Ordinarius an der Universität München) Risiko- und Schutzfaktoren in der kindlichen Entwicklung Mit einer Hommage an den Kinderforscher René Spitz
Manfred Laucht (Psychiater und Psychotherapeut, Mannheim) Vulnerabilität und Resilienz in der Entwicklung von Kindern Ergebnisse der Mannheimer Längsschnittstudie
Zdenek Matejcek (Psychologe, Prague Psychiatric Center) Schutzfaktoren in der psychosozialen Entwicklung ehemaliger Heim- und Pflegekinder
Günther Opp und Ellen Wenzel (Erziehungswissenschaftler, Universität Halle) Schule: Schutz- oder Risikofaktor kindlicher Entwicklung
Gerald Hüther (Neurobiologe, Universität Göttingen) Die Auswirkungen traumatischer Erfahrungen im Kindesalter auf die Hirnentwicklung Das allgemeine Entwicklungsprinzip
Karl Heinz Brisch (Psychiater und Psychotherapeut, Kinderpoliklinik München) Bindungsstörungen und Trauma Grundlagen für eine gesunde Bindungsentwicklung
Mechthild Papousek und Ruth Wollwerth de Chuquisengo (Kinderzentrum München) Auswirkungen mütterlicher Traumatisierungen auf die Kommunikation und Beziehung in der frühen Kindheit Werkstattbericht aus 10 Jahren Münchner Sprechstunde für Schreibabys.
Peter Riedesser (Kinder- und Jugendpsychiater, Universitätsklinikum Hamburg) Entwicklungspsychopathologie von Kindern mit traumatischen Erfahrungen
Arne Hofmann und Lutz-Ulrich Besser (EMDR-Institut; Zentrum für Psychotraumatologie) Psychotraumatologie bei Kindern und Jugendlichen Grundlagen und Behandlungsmethoden
Jaroslav Sturma (Detske centrum Paprsek) Psychische Deprivation als pathoplastischer und prognostischer Faktor bei Kindern mit minimaler zerebraler Dysfunktion
Anni Bergmann (New York) Aspekte von Bindung und Trauma in der langjährigen Behandlung eines autistischen Kindes
Daniel S. Schechter (Psychiater, Columbia University) Gewaltbedingte Traumata in der Generationenfolge Bericht über eine laufende klinische Studie mit Müttern und Kleinkindern
Daniel S. Schechter, Susan W. Coates und Elsa First (Columbia University) Beobachtungen aus NewYork Reaktionen von psychisch vorbelasteten Kindern auf die Anschläge auf das World Trade Center
Marc H. Bornstein (National Institute of Child Health) Förderung positiver Eigenschaften und Werte bei Kleinkindern Rahmenbedingungen für Forschung und Praxis
Alle Beiträge sind von einschlägig anerkannten Experten. Nur aus einigen wenigen kann hier zitiert werden.
Klaus Grossmann gibt einen Überblick über das Lebenswerk von Emmy Werner. In einer 40jährigen Längsschnittstudie auf der Hawaii-Insel Kauai erforschte diese, welche langfristigen Folgen geburtliche Komplikationen, Armut und widrige Entwicklungsbedingungen auf die Entwicklungsverläufe und Lebensgestaltung haben. Es wurden protektive, also schützende sowie die Entwicklung belastende oder gefährdende Faktoren identifiziert. Immer wieder hat sich gezeigt, dass eine sichere Bindungserfahrung in der Kindheit (wenigstens eine!) ein wichtiger Schutz gegen das Aufkommen psychopathologischer Symptome ist.
Theodor Hellbrügge würdigt die Arbeiten des ersten Lehranalysanden Sigmund Freuds, René Spitz. Dessen Forschungen über Deprivationsschäden bei Säuglingen, also Schädigungen in Folge von ausbleibenden befriedigenden Bindungserfahrungen, waren in den 50er Jahren bahnbrechend. „Außer bei Pfaundler [1915] fand sich keine einzige Stelle in der pädiatrischen Literatur, die sich mit dem Deprivationssyndrom beschäftigte. Spitz regte mit seinen Forschungen an, neben den somatischen und physiologischen Parametern erstmals auch das Verhalten von Säuglingen und Kleinkindern näher zu analysieren..... Er kam aus der Psychoanalyse, wurde aber zum Kinderverhaltensforscher.“ (S.42) „Das Deprivationssyndrom, das entsteht, wenn Säuglinge und Kleinkinder in der frühen Kindheit nicht genügend Bindung durch eine konstante mütterliche Hauptbezugsperson erfahren, ist eine in unserer Zeit hochaktuelle Gefahr und verdient größte Beachtung.“ (S. 51)
Besonders lohnend für Jugendhilfepraktiker, die mit fremdplatzierten Kindern arbeiten, ist der Beitrag des tschechischen Kinderpsychologen Zdenek Matejcek. Dieser arbeitete zwanzig Jahre lang mit Heimkindern und weitere dreißig Jahre mit Kindern aus Pflegefamilien und Adoptionsfamilien sowie Kindern, die in der eigenen Familie unter ungünstigen Bedingungen aufwuchsen. In der Langzeitbetrachtung bestätigt Zdenek Matejcek die Überlegenheit der familiären Ersatzerziehung gegenüber der Heimerziehung und benennt den wichtigsten protektiven Faktor – die sichere Bindung zur Pflegemutter: „In den Fällen, in denen der Mann oder die Frau keine eigene Familie gegründet hatten oder in ihrer Ehe gescheitert waren, beobachtete man bei den Kindern aus den SOS-Kinderdörfern fast immer eine überdauernde, starke Beziehung zur Pflegemutter und bei Kindern aus der individuellen Pflegefamilie zu den Pflegeeltern. 93 Prozent der Männer und 81 Prozent der Frauen aus SOS-Kinderdörfern stellen ihre Pflegemutter als die wichtigste Beziehungsperson ihrer Kindheit an die erste Stelle. Kinder aus Kinderheimen haben keine solche Person, ....“ S.80)
Gerald Hüther beschreibt die Auswirkungen emotionaler Verunsicherung auf die Gehirnentwicklung und Verhalten und bestätigt damit aus der Sicht der modernen Neurobiologie die klinischen Beobachtungen der Deprivationsforscher. Das misshandelte Kind kann sich auf psychosoziale Unterstützung „... nicht mehr verlassen, vor allem dann, wenn das Trauma durch bisherige enge Bezugspersonen ausgelöst worden ist. Der Glaube an familiäre psychosoziale Geborgenheit ist ihm ebenso verlorengegangen wie der Glaube an seine eigene Fähigkeit, Bedrohungen abzuwenden. Die einzige Strategie, die ihm nun noch Linderung verschaffen kann, ist die Abkoppelung der traumatischen Erfahrung aus dem Erinnerungsschatz, ihre Ausklammerung durch eine gezielt veränderte Wahrnehmung und assoziative Verarbeitung von Phänomenen der Außenwelt. Es ist gezwungen, mit diesen Strategien gegen die immer wieder aufflackernden Erinnerungen an das Trauma anzurennen. Falls es eine Strategie findet, die es ihm ermöglicht, die traumatische Erinnerung und die damit einhergehende unkontrollierbare Stressreaktion kontrollierbar zu machen, hört der Destabilisierungsprozess auf, und es werden nun all die neuronalen Verschaltungen gefestigt und gebahnt, die zur ‚erfolgreichen’ Bewältigung seiner durch die traumatische Erinnerung ausgelösten Ängste aktiviert werden. Auf diese Weise entstehen zunächst kleine, durch ihre wiederholte ‚erfolgreiche’ Nutzung aber schließlich immer breiter und effektiver werdende zentralnervöse ‚Umgehungsstraßen’ und ‚Umleitungen’, ‚Verbotszonen’, ‚Rastplätze’ und die dazugehörigen ‚verkehrsregelnden Leiteinrichtungen’. Gefunden werden diese Lösungen mehr oder weniger rasch und meist intuitiv, aber bis die dabei benutzten Verschaltungen hinreichend effektiv gebahnt sind, können Monate und Jahre vergehen. Die dabei ablaufenden Bahnungsprozesse können offenbar so tiefgreifend und weitreichend werden, dass bei manchen Kindern die Erinnerung an das traumatische Erlebnis schließlich nicht mehr abrufbar ist. Bei manchen wird die gesamte emotionale Reaktionsfähigkeit und damit auch die basale Aktivität und die Aktivierbarkeit der HPA-Achse permanent unterdrückt. Bei manchen können bizarr anmutende oder gar selbstgefährdende Bewältigungsstrategien bis zur Zwanghaftigkeit gebahnt werden. Immer ist es die subjektive Erfolgsbewertung einer zunächst meist unbewusst gefundenen Strategie, die zur Aktivierung einer nunmehr kontrollierbaren Stressreaktion und damit zur Bahnung der dabei benutzten Verschaltungen führt. Zwangsläufig sind all diese gebahnten Abwehrstrategien daher individuelle Lösungen, die sich deutlich von den ‚normalen’ Bewältigungsstrategien nicht traumatisierter Kinder unterscheiden. Damit geraten diese traumatisierten Kinder in ein ‚soziales Abseits’ und werden oft als persönlichkeitsgestört oder antisozial attributiert. So schließt sich ein fataler Circulus vitiosus, aus dem sie aus eigener Kraft nicht mehr herausfinden. Zwangsläufig vollzieht sich die geistig-emotionale, bisweilen sogar die motorische und körperliche Entwicklung dieser Kinder anders, als es ohne die einschneidende traumatische Erfahrung der Fall gewesen wäre. Besonders häufig kommt es zu Störungen des Sozialverhaltens, zu aggressiv-destruktiven Handlungen gegen andere oder gegen sich selbst. Die Kinder zeigen Störungen in ihrer Affektregulation mit Zuständen von Betäubung und Übererregung, häufig gepaart mit impulsivem und riskantem Verhalten. Sie sind in ihrer Selbstwahrnehmung und in ihrer Wahrnehmung von anderen gestört und haben Schwierigkeiten, zwischen sich und anderen Grenzen zu ziehen und aufrechtzuerhalten. Oft zeigen diese Kinder Bewusstseinsveränderungen, Amnesien, Hypermnesien, Dissoziationen, Depersonalisations- und Derealisationsphänomene, Flashbacks und Alpträume. Typisch sind weiterhin korrupte Wertesysteme und brüchige Normen sowie generell fehlende Orientierungen. Häufig weisen sie schwere Lern-, Aufmerksamkeits- und Kontaktstörungen auf.“ (S.102ff.)
Hieraus erklärt sich, warum Pflegeeltern von in der frühen Kindheit Misshandelten so oft mit hartnäckigen Verhaltensauffälligkeiten zu kämpfen haben und weshalb ungerechtfertigte Kontaktansprüche eine Gefährdung für die Entwicklung des Kindes darstellen können.
Karl-Heinz Brisch schreibt über Misshandlung und Missbrauch: „Eine der traumatisierendsten Erfahrungen für ein Kind ist das Erleben von sexueller Gewalt durch eine Bindungsperson oder eine Person, die durch ihre Fürsorgestellung in einer solchen Position ist,... Ähnlich traumatisierend wirken körperliche Gewalt und Misshandlung des Kindes durch eine Bindungsperson.... Traumatische Erfahrungen zerstören die Bindungssicherheit und wirken sich besonders zerstörerisch auf die gesunde psychische Entwicklung aus, wenn das Trauma durch Bindungspersonen ausgeübt wird. Schwerwiegende psychopathologische Entwicklungen mit Bindungsstörungen als einer grundlegenden Hauptsymptomatik sind die Folge, die ein Teil einer umfassenden schweren Persönlichkeitsstörung sind, wie dies von Borderline-Persönlichkeitsstörungen und schweren narzisstischen Persönlichkeitsstörungen bekannt ist. Bei Kindern sehen wir schwere emotionale Entwicklungsstörungen, die sich auf die kognitive und somatische Entwicklung negativ auswirken können und sowohl zu Wachstumsretardierungen als auch zu Schulversagen mit Pseudodemenz führen können. Somit sind traumatische Erfahrungen die gravierendste Ursache für psychopathologische und psychosomatische Entwicklungen, die in den Symptomen von Bindungsstörungen die schwerstwiegende Form der emotionalen Störung widerspiegeln.“ (S.111ff.)
Peter Riedesser begreift die dissoziale Symptomatik bei traumatisierten Kindern als Selbsthilfeversuch. „Die bei traumatisierten Kindern zu beobachtende Symptomatik darf also nach allem, was bisher gesagt wurde, in der Regel nicht als sinnlose, unverständliche Symptomatik gesehen, sondern muss als psychobiologisch sinnvoller Selbsthilfeversuch verstanden werden. Traumatisierte Kinder jeglicher Altersstufe leisten psychische Schwerstarbeit, um aus den pathogenen Konstellationen einigermaßen heil herauszukommen. In den Fällen, in denen die Quelle der Traumatisierung in der Familie liegt, nehmen die Bewältigungsversuche der Kinder tragische Formen an, weil sie verzweifelt versuchen, die Bindungen zu ihren zentralen Bezugspersonen aufrechtzuerhalten, auch wenn diese Bindungen noch so pathologisch sind und sie diese eigentlich lösen müssten. Solche ‚tragischen Konstellationen’ sind von der Säuglingszeit bis zur Adoleszenz zu beobachten, wo wir in der Klinik bei Jugendlichen, die schwerstkranke, oft traumatisierte Eltern haben, oft eine massive Ausbruchsangst und –schuld sehen, welche sich häufig in selbstschädigendem Verhalten manifestiert, wenn sie sich dann doch von ihren Eltern lösen – sie also subjektiv im Stich lassen.“ (S.168)
Die im deutschsprachigen Raum weniger als im angelsächsischen verbreitete Bindungslehre erfährt derzeit eine Reaktualisierung, gestärkt und bestätigt durch die Resultate der jüngeren Traumaforschung. Die Verbindung dieser beiden wissenschaftlichen Disziplinen ist das wesentliche Anliegen des vorliegenden Buches. Anschaulich dargestellt, enthält es wertvolle Informationen für Heimerzieher und Pflegeeltern und gehört zur Pflichtlektüre für alle in diesem Bereich tätigen Fachkräfte.
Christoph Malter (Mai 2003)
s.a. Sachgebiet Traumaforschung
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