FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2002

 

Lise Eliot

Was geht da drinnen vor? – Die Gehirnentwicklung in den ersten fünf Lebensjahren

Übersetzt aus dem Amerikanischen von Barbara Schaden
2001 im Berlin-Verlag (748 Seiten, 29,- Euro)

Lise Eliot ist – wie Sarah Blaffer Hrdy - dreifache Mutter und erfolgreiche Wissenschaftlerin. Sie hat viele Artikel zur Gehirnentwicklung veröffentlicht und lehrt als Neurobiologin an der Chicago Medical School.

Das Programm ihres Buches geht klar aus dem Inhaltsverzeichnis hervor:

  1. Gene oder Umwelt? Das Gehirn ist beides
  2. Ein neues Leben, ein neues Gehirn
  3. Vorgeburtliche Einflüsse auf das reifende Gehirn
  4. Wie die Geburt das Gehirn beeinflusst
  5. Körperkontakte: der Tastsinn
  6. Warum Babys das Wippen lieben: der frühreife Gleichgewichts- und Bewegungssinn
  7. Die frühe Welt des Geruchs
  8. Schmecken, Milch und die Entstehung von Geschmacksvorlieben
  9. Die Entstehung des Gesichtssinns
  10. Die Verbesserung des Gehörs
  11. Motorische Meilensteine
  12. Soziale und emotionale Entwicklung
  13. Die Entstehung des Gedächtnisses
  14. Sprache und das reifende Gehirn
  15. Wie die Intelligenz heranwächst
  16. Gene, Umwelt und Geschlechtsunterschiede in der intellektuellen Entwicklung
  17. Wie wird mein Kind intelligenter?

Die inhaltliche Gründlichkeit zeigt sich in der Differenziertheit der Untergliederungen, z.B. in dem besonders verdienstvollen Kapitel über vorgeburtliche Einflüsse, das sie während ihrer dritten Schwangerschaft schrieb:

Neuralrohrdefekte
Auswirkungen der Ernährung
Arzneimittel und toxische Substanzen
Alkohol
Tabakrauch
Drogen
Koffein
Süßstoffe
Mononatriumglutamat
Aspartat und Glutamat
Weitere chemische Substanzen
Blei
Ionisierende Strahlung
Nichtionisierende Strahlung
Elektromagnetische Strahlung
Mikrowellen und Funkwellen
Bildschirme
Hochspannungsleitungen und Heizdecken
Kernspinresonanztomographie
Ultraschall
Infektionen der Mutter
Röteln
Zytomegalie
Toxoplasmose
Herpes simplex
Windpocken
Syphilis
Grippe
Hormone, Gefühle und Stress bei der Mutter

In unserem Rahmen interessiert besonders das 12. Kapitel über die soziale und emotionale Entwicklung, aus dem folgende Passagen entnommen sind:
„Unter der Form von Isolation, der die oben erwähnten Affenjungen ausgesetzt wurden [Deprivations-Experimente], wachsen nur sehr wenige Menschenkinder auf. Unter einer weniger extremen Form von Vernachlässigung leiden jedoch sehr viele, zumal während der sensiblen Phase der emotionalen Entwicklung, und noch mehr Kinder werden Opfer von Mißbrauch und Mißhandlung und wachsen in einer gewalttätigen und angsterfüllten Umgebung heran. Erst in den letzten zehn Jahren sind wir uns bewusst geworden, wie häufig Kindesmissbrauch tatsächlich vorkommt, der hinter vielen verschiedenen psychiatrischen Erkrankungen sowie sozialen Problemen wie extremer Aggressivität, Drogenmissbrauch und Kriminalität steht. Es besteht wenig Zweifel, dass Vernachlässigung und Missbrauch von Kindern zu den Problemen unserer Gesellschaft erheblich beitragen, weil sich dadurch die Gehirnstrukturen, die für die Emotionalität einer Person zuständig sind, unwiederbringlich verformen.

Die Neurowissenschaftler haben gerade erst damit begonnen, zu erforschen, nach welchen Mechanismen Vernachlässigung und Missbrauch dauerhafte Spuren im limbischen System eines Kindes hinterlassen. Bei einer Untersuchung aus jüngerer Zeit ergaben Kernspinresonanztomographien bei schwer vernachlässigten Kindern im Vergleich zur Kontrollgruppe eine um bis zu 30 Prozent verringerte Gehirngröße. Bei einer anderen Untersuchung verglichen die Forscher die Ergebnisse von Hirnstrommessungen bei zwei Gruppen junger Psychiatriepatienten: Die Kinder der einen Gruppe waren körperlich, seelisch oder sexuell missbraucht worden, die der anderen Gruppe hatten keine vergleichbare Vorgeschichte. Dabei stellte sich heraus, dass bei den missbrauchten Kindern doppelt so häufig abnorme Hirnströme gemessen wurden, insbesondere in den Stirn- und Schläfenregionen, wo die Aktivität des limbischen Systems am ausgeprägtesten ist. Außerdem zeigten sich häufig Störungen in der Gegend des linken Stirnlappens - dem Ort, an dem die angenehmen Gefühle wahrgenommen werden. Schließlich deutet auch einiges darauf hin, dass der Hippokampus, die limbische Struktur, deren Hauptfunktion das Langzeitgedächtnis ist, bei Erwachsenen, die als Kinder missbraucht wurden, atrophiert ist. Die Beschädigung des Hippokampus könnte eine Erklärung sein, weshalb kaum jemand, der Opfer eines schweren Missbrauchs wurde, in der Lage ist, sich an diese Ereignisse bewusst zu erinnern, selbst wenn sie relativ spät in der Kindheit stattfanden.

Diese Ergebnisse führen uns vor Augen, wo die wahren Narben von Kindesmissbrauch und Vernachlässigung liegen: im Gehirn der Opfer, insbesondere im limbischen System, das ihre Persönlichkeit bestimmt und ihr künftiges Gefühlsleben steuert.“ (S. 464/465)

In einem für die familienpolitische Debatte in Deutschland sehr bedeutsamen Abschnitt über die Folgen der aushäusigen Kinderbetreuung referiert Eliot über das großangelegte Forschungsprojekt des amerikanischen National Institute of Child Health and Human Development:
„Fünfzehn Forschungsstandorte wurden eingerichtet und über 1300 Kinder aus allen größeren ethnischen Gruppen und sozioökonomischen Schichten von Geburt an als Teilnehmer an einer Langzeituntersuchung gewonnen, die sich mit den Auswirkungen früher Betreuung außerhalb der Familie auf die emotionale und kognitive Entwicklung der Kinder befasste. ....

Die wichtigsten Erkenntnisse, die sich bislang ergaben, sind ermutigend für alle, die früh auf eine Kinderbetreuung angewiesen sind. Jede Analyse der Resultate ergab, dass für die spätere emotionale Entwicklung des Kindes familiäre Faktoren eine sehr viel größere Rolle spielen als die Kinderbetreuung als solche. Im Widerspruch zu früheren Untersuchungen war die Wahrscheinlichkeit einer stabilen Mutterbindung bei fünfzehn Monate alten Kindern unabhängig davon, wie sie tagsüber betreut wurden: allein von der Mutter, vom Vater, von einer Tagesmutter mit und ohne eigene Familie oder in einer Kindertagesstätte. Über die Verlässlichkeit und Stabilität der Bindung entschied vielmehr die Art der mütterlichen Betreuung, das heißt, sie hing entscheidend davon ab, wie einfühlsam die Mutter auf die Bedürfnisse ihres Babys während ihrer gemeinsamen Zeit einging. Mit anderen Worten, unsensible Mütter haben häufig eine weniger stabile Bindung zu ihren Kindern, unabhängig davon, ob sie berufstätig sind oder nicht.

Ähnliche Resultate ergaben sich bei Kindern im Alter von zwei und drei Jahren. Verhaltensstörungen bei Kleinkindern hatten allesamt mit der familiären Situation zu tun, insbesondere dem psychologischen Gleichgewicht der Mutter und ihrer Sensibilität gegenüber ihrem Kind. Die Studie fand ’wenig Hinweise darauf, dass eine frühe, umfangreiche und fortgesetzte außerfamiliäre Kinderbetreuung mit problematischem Verhalten des Kindes in Zusammenhang stand; dies im Widerspruch zu den Resultaten früherer Untersuchungen’. .....

Trotz aller Kontroversen stimmen die Forscher in einem Aspekt überein, nämlich darin, wie wichtig die Qualität der Kinderbetreuung ist. Eine qualitativ hochwertige Betreuung kann das emotionale Wohlbefinden des Kindes sicherstellen, seine soziale Kompetenz verbessern und insbesondere seine kognitive Entwicklung fördern. Einer jüngeren Schätzung zufolge trifft dies in Amerika für die übergroße Mehrheit der Kleinkinder jedoch nicht zu. In den meisten Kinderbetreuungsanstalten kommen zu viele Kinder auf zu wenige Erwachsene, die Ausstattung ist schlecht, die Umgebung bedrückend, es fehlt an anregenden Spielsachen und anderem entwicklungsförderndem Material, der Spracherwerb wird nicht ausreichend stimuliert, und die Ausbildung der Betreuer ist ungenügend, wie überhaupt die Fluktuation beim Personal hoch ist, was für Kleinkinder emotional sehr verstörend sein kann.“ (S. 442/445)

Im letzten Kapitel faßt die Autorin noch einmal die wirksamsten Komponenten erfolgreicher Erziehung zusammen:
„Was sind die wichtigsten Aspekte an der Kindererziehung? Nach ausführlichen Beobachtungen haben Psychologen mehrere Kennzeichen aufgedeckt, die am häufigsten mit dem intellektuellen und schulischen Erfolg des Kindes in Beziehung stehen. Danach sind die besten Eltern jene, die fürsorglich sind (ihren Kindern körperliche Zuwendung und seelische Unterstützung zukommen lassen), engagiert mit ihren Kindern umgehen (bei gemeinsamen Unternehmungen regelmäßig Zeit mit ihnen verbringen), einfühlsam auf ihre Bedürfnisse eingehen (sie als Individuen anerkennen, als Berater zur Seite stehen, um ihnen bei der Lösung von Problemen zu helfen), aber auch eher fordernd sind (reifes Verhalten und Unabhängigkeit erwarten, klare Normen und Regeln setzen und auf ihre Einhaltung achten).“ (S. 641/642)

Das Buch ist gut lesbar und genügt doch hohen wissenschaftlichen Ansprüchen. Es ist sehr umfangreich, kann aber wegen seiner übersichtlichen Gliederung in kleinen Partien gelesen und sogar als Nachschlagewerk genutzt werden. Seine Anschaffung empfehlen wir allen anspruchsvollen Eltern und Erziehern und wird wohl niemand bereuen.

Kurt Eberhard (Juni 2002)


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