FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2001

 

John T. Bruer

Der Mythos der ersten drei Jahre

Warum wir lebenslang lernen

Beltz, 2000, ISBN 3-407-85790-X

 


Der amerikanische Wissenschaftsjournalist J. T. Bruer legt eine fulminante Streitschrift gegen den ‘Mythos der ersten drei Jahre’ vor. Um von vornherein ein naheliegendes Mißverständnis auszuräumen: Weder bestreitet er die schicksalhafte Bedeutung der frühen Kindheit für die spätere Persönlichkeitsentwicklung, noch leugnet er die einschlägigen neurophysiologischen Befunde. Im Gegenteil, er stellt sie als „die drei neurobiologischen Argumente“ heraus (S. 18 ff).

  1. „In den letzten 25 Jahren haben Neurowissenschaftler bei einer ganzen Reihe von Spezies beobachtet, daß kurz vor oder nach der Geburt ... das Gehirn in seiner biologischen Dichte förmlich überbordet. Gehirne von Kleinkindern produzieren Billionen mehr Synapsen ... als in reifen, erwachsenen Gehirnen vorhanden sind.“
  2. „Es gibt Zeiten, in denen das Gehirn bestimmte Arten der Stimulation braucht, um sich normal zu entwickeln. Kritische Phasen sind also Fenster in der Entwicklung, durch die sich, wenn die richtigen Stimuli gegeben werden, die normale Vernetzung des Gehirns herausbildet. Unangemessene Stimuli oder ihr vollständiges Ausbleiben während dieser Phase führen zu einer abnormalen Hirnentwicklung“
  3. „Tierversuche ... haben gezeigt, daß Tiere, die in komplexen, anregenden Umwelten aufwuchsen, mehr Synapsen in bestimmten Bereichen ihres Gehirns haben als Tiere, die unter kargeren Bedingungen aufwuchsen.“

Auch die tiefgreifenden Schäden durch soziale Deprivation sind Bruer bestens bekannt:

 „Kleine Kinder, die in extremer Isolation oder sozialer Deprivation aufwachsen, können ernste, irreversible Verhaltensstörungen davontragen .... einige dieser Kinder erleiden dauernde und offenbar irreversible sprachliche, soziale, emotionale und intellektuelle Beeinträchtigungen. ... Die klassischen Beispiele für kritische Phasen haben mindestens ein Merkmal gemeinsam. Es handelt sich bei allen um elementare Eigenschaften, die für das Überleben und eine erfolgreiche Fortpflanzung notwendig sind - Erkennen der Mutter, Paarung, Sehen, Sprache und sozialemotionale Entwicklung in einer so hoch sozialen Spezies wie der des Menschen. Für Eigenschaften und Verhaltensweisen wie diese dürften abnorme Erfahrungen in einer kritischen Phase zu permanenten, abnormen und nonadaptativen Folgen führen, die durch keine noch so intensive normale Erfahrung späterhin korrigiert werden können.“ (S. 137)

Was er bekämpft, ist die überzogene Interpretation dieser Befunde und ihr Mißbrauch für stark finanzierte Früherziehungskampagnen, die in den USA u.a. durch die Unterstützung von Bill und Hillary Clinton erheblichen bildungspolitischen Einfluß gewonnen haben. Bei uns gibt es solche Kampagnen nicht. Im Gegenteil, in der BRD stehen die Vertreter der Deprivationsforschung und die Anwälte der vernachlässigten, mißhandelten und mißbrauchten Kinder in der Defensive gegenüber den siegreichen Restauratoren eines dominierenden Elternrechts.

Was nützt also hierzulande Bruers Kampfschrift? Sie vermittelt solide neurophysiologische Kenntnisse, wenn auch in einseitiger Selektion. Beispielsweise werden die dramatischen hirnorganischen Schäden nach fortgesetztem sexuellen Mißbrauch nicht erwähnt. Die alarmierenden Untersuchungsergebnisse Bruce Perrys spielt er folgendermaßen herunter:

„Perrys Entdeckung ist bestenfalls ein vorläufiges Ergebnis, das er und seine Kollegen ohne Zweifel noch ausarbeiten müssen, bevor sie es schließlich in einer wissenschaftlichen Zeitschrift veröffentlichen.“ (S. 255)

Well, die von Bruer geforderte Ausarbeitung liegt inzwischen vor (vgl. Violence and Childhood: How Persisting Fear Can Alter the Developing Child’s Brain.... auf dieser Webseite).

Kurt Eberhard und Christoph Malter (Feb. 01)

 

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