Vorweg eine kritische Bemerkung, die sich allerdings mehr gegen den Verlag als gegen den Autor richtet: Wenn eine „veränderte Auflage“ angekündigt wird, die Veränderung aber lediglich darin besteht, daß der empirische Anhang weggelassen wurde, statt z.B. ein aktualisierendes Ergänzungskapitel anzufügen oder wenigstens auf die neueste einschlägige Literatur hinzuweisen, dann werden auch gutmütige Käufer ärgerlich.
Die Lektüre ist aber nach wie vor sehr lohnend, weil Maywald erst in interdisziplinärer Sichtweise eine gründliche Aufarbeitung der wichtigsten Autoren zum Thema Trennung liefert (Sigmund Freud, Melanie Klein, Anna Freud, Rene Spitz, David W. Winnicott, Erik H. Erikson, Margret S. Mahler, John Bowlby, James u. Joyce Robertson, Mary D. Ainsworth u. Leon J. Yarrow, Klaus u. Karin Grossmann, Robert Kegan, u.a.m. ) und dann die Ergebnisse seiner eigenen empirischen Untersuchung referiert.
Den damaligen Stand der Forschung (die erste Auflage erschien 1997) komprimiert er in 23 Thesen:
(1) Jeder Mensch ist einzigartig und vom anderen verschieden. Zugleich sind wir alle aufeinander angewiesen. Wir würden sterben, wenn insbesondere zu Beginn unseres Lebens niemand wäre, der da ist und sich um uns kümmert. Für eine gesunde Entwicklung bezieht sich dieses Kümmern gleichermaßen auf die Befriedigung körperlicher, seelischer und sozialer Bedürfnisse.
(2) Individualität entwickelt sich in Absetzung vom anderen und bleibt damit auf ihn bezogen. Sozialisation ist Aufwachsen in Gemeinschaft. Entwicklung und menschliches Leben kann verstanden werden als Wechselspiel von Bindungs- und Trennungserfahrungen.
(3) Der Säugling kommt mit der angeborenen Bereitschaft zur Welt, menschliche (Teil-) Objekte mit Libido zu besetzen. Dieses primäre menschliche Bindungsbedürfnis äußert sich besonders in den ersten Lebensjahren unabhängig von der Beziehungsqualität.
(4) Die instinktiven Reaktionskomponenten des Neugeborenen (Saugen, Anklammern, Folgen, Schreien, Lächeln) orientieren sich bereits in den ersten Wochen auf eine Hauptbindungsperson, in der Regel auf die leibliche Mutter.
(5) Mutter (bzw. eine entsprechend zur Verfügung stehende Mutterfigur) und Kind entwickeln miteinander eine intersubjektive (wenn auch aufgrund der Abhängigkeit des Säuglings ungleiche), zielkorrigierte Partnerschaft, in der das Kind allmählich über die Gewahrung des Anderen ein Bild des Eigenen (Körpers usw.) bekommt .
(6) Die Entwicklung des Menschen vollzieht sich in der Dialektik von Befriedigung und Versagung, in der Spannung von Bezogenheit und Anderssein beziehungsweise im Wechsel zwischen dem Einssein harmonischer Einstimmung und dem Zweisein der Ablösung. Jede Entwicklungsstufe des Selbst ist gekennzeichnet durch eine labile und vorläufige Balance zwischen Differenzierung und Integration, die sich in altersspezifischen bindungs- bzw. trennungsbezogenen Reifequalitäten äußert.
(7) Im Rahmen der Ontogenese entspricht jeder Stufe von Loslösung und Individuation eine ebensolche Stufe von Bindung und Bezogenheit. Ungleichzeitigkeiten auf der einen oder anderen Seite führen zu einer Gefährdung des gesamten Systems.
(8) Die Qualität der Beziehung zu seiner Hauptbindungsperson führt beim Kind zu unterschiedlichen, internalisierten Arbeitsmodellen, die einen lebenslangen Einfluß auf seine Art der Kontaktaufnahme und auf das Beziehungsverhalten behalten. Unter diesen Arbeitsmodellen lassen sich neben der sicheren Form der Bindung eine unsicher-vermeidende und eine unsicher-ambivalente Form unterscheiden. Diese Bindungsmuster erweisen sich in der Weitergabe von einer Generation auf die nächste als relativ stabil.
(9) Unter der Bedingung eines ausreichenden Bindungsangebots kann das heranwachsende Kind altersangemessene Trennungen gut verkraften und diese für seine Entwicklung nutzen. Es lernt dabei, passiv erlittene Trennungen - zunächst spielerisch und unter Zuhilfenahme von Übergangsobjekten - aktiv herzustellen und sich ihrer dadurch zu bemächtigen.
(10) Trennungen sind insofern nicht per se schädigend. Gefahren ergeben sich erst durch das Zusammenspiel einer Reihe von im Einzelfall zu gewichtenden Variablen. Hierzu gehören - neben der Trennung von wichtigen Bindungspersonen selbst - die Dauer und Schwere der Trennung, der Entwicklungsstand und die individuelle Empfindlichkeit des Kindes, die Art der Beziehungen vor der Trennung sowie die Qualität der zur Verfügung stehenden Ersatzbeziehungen. Alle diese Faktoren haben als intervenierende Variablen eine streßerhöhende bzw. streßmindernde Wirkung.
(11) Aufgrund mangelnder Vorbereitung auf eine zeitweilige Trennung oder auf einen dauerhaften Verlust und bei einem ungünstigen Zusammentreffen verschiedener Variablen kann es zu Störungen unterschiedlicher Dauer und Intensität kommen. Der normale kindliche Trauerprozeß als Reaktion auf Trennung oder Verlust mit der dafür typischen Folge von Verleugnung, Protest, Verzweiflung und Reorganisation kann sich unter diesen Umständen pathologisch verformen und die gesamte Entwicklung eines Kindes ernsthaft gefährden.
(12) Schädigende Trennungsfolgen sind insbesondere zu erwarten, wenn ein kleines Kind dauerhaft von seiner Mutterfigur getrennt und in einer Einrichtung/Familie untergebracht wird, in der es unzureichende Fürsorge erhält oder wenn es wiederholte längere Trennungen von seiner Mutterfigur erlebt, zu der es bereits enge Bindungen entwickelt hat.
(13} Um weitere Verletzungen zu vermeiden, "beschließen" viele Kinder nach traumatisierenden Trennungen innerlich, sich lieber gar nicht mehr zu binden. Sie verweigern sich neuen Bezugspersonen und sind aufgrund ihrer Gekränktheit schwierig im Umgang. Ihre (scheinbare) Beziehungslosigkeit und Unverbindlichkeit kann zu Abstumpfung, Passivität und Depression bis hin zur Suizidalität und/oder zu kompensatorischer Hyperaktivität, verfrühtem Autonomiestreben, Selbstverwahrlosung, Delinquenz und Prostituierung führen.
(14) Ähnlich gefährdend wie eine traumatische Trennung kann es sein, wenn ein Kind in seiner Beziehung zu einer wichtigen Bindungsfigur festgehalten, Trennung nicht zugelassen und die natürliche Loslösung und Individuation nicht akzeptiert wird. In der Folge solcher symbiotischer Verschmelzungen kann es zu psychosomatischen Beschwerden, Pseudodebilität und zu schweren kindlichen Psychosen kommen.
(15) Schädigende Bindungsfolgen sind zu erwarten, wenn wichtige Bindungspersonen das kindliche Erkundungs- und Autonomiestreben aufgrund von Überfürsorglichkeit, Reizarmut, Isolierung, doppelten Botschaften oder starken Ambivalenzen massiv behindern oder die Bindung und Abhängigkeit des Kindes für eigene Zwecke (von der Parentifizierung bis zur sexuellen Mißhandlung) grob ausnutzen.
(16) Die dyadisch erworbenen Bindungs- und Trennungsqualitäten finden ihre Fortsetzung in familialen Bindungs- und Ausstoßungsmodi. Ein unsichtbares Netz von Loyalitäten hält die Familie generationenübergreifend in einer labilen Balance zentripetaler und zentrifugaler Kräfte.
(17) Familiendynamisch führt eine Dominanz des Bindungsmodus zu Abkapselung und vordergründiger Einigkeit der Familie nach außen bzw. zu gegenseitiger Verklammerung ihrer Mitglieder. Demgegenüber kommt es bei einer Dominanz des Ausstoßungsmodus zu Abspaltungen und Sündenbockkonstruktionen bis hin zur Isolierung und Verstoßung eines Mitglieds im Rahmen inszenierter Familienkrisen.
(18) Im Falle der unvermeidlichen Fremdunterbringung eines Kindes orientiert sich die am wenigsten schädliche Alternative (das Wohl) des Kindes daran, im Rahmen langfristiger und rechtlich gesicherter Entscheidungen kontinuierliche neue Bindungen anzubieten und zugleich die Existenz bestehender psychischer Bindungen zu berücksichtigen
(19) Bei der Unterbringung in einer Pflegefamilie beinhaltet die Berücksichtigung bestehender Bindungen die Anerkennung der doppelten Elternschaft sowie die durch Fachkräfte geförderte Kooperation auf der Elternebene zwischen Herkunfts- und Pflegefamilie. Im Adoptionsbereich kann dieses Ziel durch offene Formen der Adoption erreicht werden. Bei allen Formen der Fremdunterbringung (Heim, Jugendwohngemeinschaft, Pflege- oder Adoptivfamilie) werden durch eine intensive Beteiligung der Kinder, Jugendlichen und Eltern am Unterbringungsprozeß der Zusammenhang zwischen altem und neuem Lebensort gestärkt und die u. U. negativen Folgen der Trennung gemildert.
(20) Die mit dem Übergang zur Neuzeit einsetzende und besonders in unserem Jahrhundert zu beobachtende Vergesellschaftung der Fremdbetreuung hat zur Herausbildung einer Vielzahl von Institutionen der Tages- wie auch der Tag-und-Nacht-Betreuung von Kindern geführt. Damit verbunden ist eine wachsende Förderung vieler Kinder und Stärkung ihrer Rechte auf der einen und die Gefahr der Stigmatisierung, Anonymisierung und Segregation defavorisierter Gruppen auf der anderen Seite.
(21) Die Gefährdungen, die sich aufgrund der Isolierung fremduntergebrachter Kinder in geschlossenen Systemen (totalen Institutionen) ergeben, können durch eine Umgestaltung des Binnenraums und durch die Öffnung (Sprengung) der Institution in Richtung einer allgemeinen Lebensweltorientierung vermieden oder zumindest gemindert werden.
(22) Ähnlich wie die Psychogenese entwickelt sich die Soziogenese in Richtung auf eine zunehmende Differenzierung und zugleich Integration. Die vom modernen Menschen erstrebte wie auch erwartete hohe Mobilität erfordert eine wachsende Zahl von Trennungen bereits im Kindes- und Jugendalter. Vorangetrieben u.a. durch ein System globaler Kommunikation ist mit der Individualisierung zugleich eine Standardisierung und Konformisierung von Lebenslagen verbunden, die dem Einzelnen eine hohe Anpassungsleistung abfordern.
(23) Wo Trennung, Vereinzelung und die Vermassung des Individuellen zunehmen, wächst das Bedürfnis nach Bindung, sozialem Aufgehobensein und Originalität. Die Bindung an das und die Trennung vom Kind bekommt daher in moderner Gesellschaft einen hochgradig ambivalenten Charakter: ihrer Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit beraubt und dem Zwang zur freien Entscheidung unterworfen, wird das Leben mit Kind einerseits zum Hindernis erfolgreicher Lebensplanung, andererseits zu einem der letzten Garanten sozialer Kontinuität und emotionaler Sicherheit.
Die Resultate seiner Gespräche mit 20 Fachleuten aus verschiedenen europäischen Ländern wurden unter folgenden Gesichtspunkten rubriziert:
Ablösung, Abschied, Adoption, Ambivalenz, Ausstoßung, Chance, Geschlechtsrollen, Heim, Helfer, Herkunftsfamilie, Institution, Integration, Krise, Pflegefamilie, Trauma, Trennung, Unterbringung.
Sie können hier nicht angemessen wiedergegeben werden, aber die praktischen Konsequenzen sind es wert, wörtlich zitiert zu werden:
(1) Angebotspräsentation und Kontaktaufnahme. Angebote im Bereich des Sozialen müssen für alle Menschen leicht zugänglich sein. Wichtige Merkmale offen gestalteter Bürgerbüros für Soziales könnten sein: freundlicher Service; Vertraulichkeit; fachkundige Information, Beratung und Vermittlung einer breiten Produktpalette; ansprechende Präsentation der Angebote; gute technische Ausstattung (Datenbanken, Kommunikationsmedien); leichte Erreichbarkeit (z.B. im Bereich belebter Einkaufsgegenden); benutzerfreundliche Öffnungszeiten; lokale Vernetzung mit anderen Dienstleistungen (z.B. gastronomische Ange- bote, Mediothek, Sport- und Freizeitaktivitäten o.ä.).
(2) Produktdefinition und Rollenklärung. Die Leistungen und Angebote müssen deutlich abgegrenzt, in ihren Folgen einzusehen, in den Kosten abschätzbar und in den Nebenwirkungen zu überschauen sein. Hierzu gehören: Informationen über Wirkungen und Grenzen von Angeboten; Aufklärung über die Rechte und Pflichten der Nutzer (Datenschutz, Aktentransparenz, Beschwerderechte, Pflichten zur Offenlegung persönlicher und finanzieller Verhältnisse u.a.); Verfahrens- und Kostenhinweise; Aufklärung über die Rolle der beteiligten Fachkräfte.
(3) Analyse und Prozeßplanung. Hierbei geht es um einen Aushandlungsprozeß zwischen hilfesuchenden Nutzern und professionellen Anbietern sozialer Dienstleistungen mit den Elementen: Austausch der Situationsdefinitionen und Handlungsvorstellungen aller Beteiligten; gemeinsame Bewertung des Hilfebedarfs und der möglichen Angebote; Aushandlung und Fixierung eines Hilfeplans einschließlich der Modalitäten für eine spätere Auswertung und eventuelle Fortschreibung; Festlegung von Verantwortlichkeiten. Im Falle einer Trennung von Kind und Eltern und der damit verbundenen Fremdunterbringung des Kindes kommen als Qualitätsmerkmale hinzu: Langfristigkeit und Stabilität der Perspektive (permanency planning); Kontinuität der vorgesehenen Bezugspersonen und Überschaubarkeit des neuen Ortes; Aufrechterhaltung von Familienbeziehungen (Eltern, Geschwister, andere Verwandte) und deren Einbeziehung in eine Besuchsregelung.
(4) Kooperation und Vernetzung. Die wachsende Spezialisierung sozialer Dienstleistungen erfordert zugleich die Fähigkeit zu Kooperation und Vernetzung der Einrichtungen. Hierzu zählen: interdisziplinärer Diskurs innerhalb und zwischen Einrichtungen; Einberufung von Hilfekonferenzen (z.T. unter Einbeziehung der Hilfesuchenden); Koordination unterschiedlicher Hilfeaspekte in der Hand eines Case Managers.
(5) Evaluation und Sozialplanung. Planvolles und transparentes Handeln verlangt eine kontinuierliche Auswertung, deren verallgemeinerte Ergebnisse in eine der Praxis verbundene Sozialplanung (z.B. Jugendhilfeplanung) Eingang finden müssen. Wichtige Elemente dabei sind: regelmäßige Selbst- und exemplarische Fremdevaluation einschließlich Nutzerbefragungen; unabhängige Qualitätskontrolle; Supervision und berufsfeldnahe Weiterbildung; Vernetzung der Ergebnisse mit Sozialplanung und Sozialpolitik.
(6) Öffentlichkeitsarbeit und Prävention. Soziale Dienstleistungen und die sie anbietenden Institutionen leisten einen essentiellen Beitrag zur Verbesserung bzw. Rückgewinnung von Lebensqualität. Die Bedeutung des Sozialen offensiv zu präsentieren, ist Teil öffentlicher Vorsorge gegenüber Sozialitätsverlust und gesellschaftlicher Desintegration.
Eine Frage sei angemeldet: Ob Maywald auf seinem etwas einseitigen Plädoyer für die „Aufrechterhaltung von Familienbeziehungen und deren Einbeziehung in eine Besuchsregelung“ bestanden hätte, wenn er die neuesten Ergebnisse der neurophysiologischen Traumaforschung schon gekannt hätte? Wohl nicht: siehe seinen Vortrag 'Die Position des Kindes stärken'. Wir jedenfalls haben mit solchen Besuchskontakten zum Teil sehr problematische Erfahrungen i.S. destruktiver Retraumatisierungen machen müssen (vgl. auch Susanne Lambeck).
Gleichwohl ist die Monographie immer noch das einzige Buch, in dem ein interdisziplinärer Theoretiker und sozialpraktisch sowie sozialpolitisch erfahrener Autor das komplexe Trennungsthema gründlich und sachkundig behandelt. Kurt Eberhard (Dezember 2001)
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