Das vorliegende Buch mit einer Sammlung ausgewählter Aufsätze von John Bowlby wurde erstmals 1995 im Dexter-Verlag unter dem Titel »Elternbindung und Persönlichkeitsentwicklung« in deutscher Sprache veröffentlicht. Die Originalausgabe (A secure Base) erschien 1988, als John Bowlby 81 Jahre alt war. Das Werk ist „sein letzter Beitrag zur Bindungstheorie, einer Disziplin, die er mit Mary Ainsworth’ Hilfe ein halbes Jahrhundert zuvor gegründet hatte. »A secure Base« wirkt deshalb wie ein Vermächtnis, wie die Summe eines Lebenswerkes, gleicht aber auch einem Tribut, einer Gabe an interessierte Personen der nächsten Generation..... Kraftvoll vertritt er [Bowlby] die Ansicht, dass es die realen Nöte des Lebens sind – emotionale Deprivation, ungelöste Trauer, Zurückweisung, Verwirrung, Vernachlässigung, körperlicher und sexueller Missbrauch – die psychische Störungen auslösen....“ (aus dem Geleitwort von Jeremy Holmes)
Ergänzt wurde die deutsche Neuauflage um zwei Geleitwörter (von Oslind und Burkhard Stahl sowie Jeremy Holmes). Herausgenommen wurden das Vorwort zur deutschen Auflage, das Gespräch mit Virginia Hunter vom 15.2.1990 und das Kapitel 9 (Die Entwicklungspsychiatrie wird erwachsen), in dem Bowlby Umstände schilderte, „aufgrund derer er erforschen wollte, wie Kleinkinder reagieren, die von der Mutter getrennt und in einem Heim, bzw. einer Klinik oder einer anderen Familie untergebracht werden.“ (S. 47) Der Verweis auf Seite 47 („Im letzten Kapitel[9] habe ich Umstände geschildert...“) geht folglich ins Leere.
Zunächst das Inhaltsverzeichnis:
Geleitwort von Oslind und Burkhard Stahl Geleitwort von Jeremy Holmes Vorwort Danksagung
1. Elterliches Pflegeverhalten und kindliche Entwicklung 2. Die Entstehung der Bindungstheorie 3. Psychoanalyse als Kunst und Wissenschaft 4. Psychoanalyse als Naturwissenschaft 5. Gewalt in der Familie 6. Erlebnisse und Gefühle, zu deren Verdrängung Kinder regelrecht gezwungen werden 7. Elternbindung und Persönlichkeitsentwicklung 8. Bindung, Kommunikation und therapeutischer Prozess
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Eine weitere Besonderheit der Neuauflage ist, dass Änderungen in der Übersetzung vorgenommen wurden: Anstelle des ursprünglich eingeführten Begriffes »Bindungsstreben« wird der in Übersetzungen weiter verbreitete Begriff »Bindungsverhalten« (attachment behaviour) wieder benutzt. »Working Model« wird mit »Arbeitsmodell« anstatt »Repräsentanz« wiedergegeben. Das führt bspw. zu folgender Neuformulierung: „Postulieren wir eine psychische Struktur mit den zugehörigen internalen Modellen von Selbst und Bindungspersonen, so darf auch die Bindungstheorie.....“ (S. 22) Der gleiche Satz lautet in der ursprünglichen Übersetzung: „Postulieren wir eine psychische Struktur mit den zugehörigen Bindungsfigur- und Selbstrepräsentanzen, so darf auch die Bindungstheorie....)“ (S. 37 in der Dexter-Verlag-Ausgabe)
Anstatt einzelne Kapitel ausführlich zu besprechen, werden im Folgenden Textpassagen wiedergegeben, die den immer noch zu wenig beachteten Beitrag der Bindungstheorie zu den negativen und oft langfristigen Auswirkungen der Kindesmisshandlung zeigen: „Mutter oder Vater gegenüber verhalten sich misshandelte Kleinkinder oft seltsam kühl und äußerst wachsam; einige von ihnen erfassen die Bedürfnisse ihrer Eltern allerdings ungewöhnlich sensibel (Malone 1966), was den Schluss nahe legt, dass manche Kinder schon früh lernen, ihre psychisch gestörte, gewaltbereite Mutter durch ’vorauseilendes Erfühlen’ zu besänftigen. Im institutionellen Bereich fallen misshandelte Säuglinge und Kleinkinder vor allem durch Beziehungsstörungen und Aggressionen gegenüber Betreuern und anderen Kindern auf, worauf zumindest entsprechende kontrollierte Studien hindeuten, wie sie George und Main (George/Main 1979, Main/George 1985) an 20 ein- bis dreijährigen Kindern einer Kindertagesstätte in Berkeley durchgeführt haben. Dabei bildeten die Autoren zwei Gruppen - eine Testgruppe aus zehn nachweislich von Vater oder Mutter misshandelten Kindern sowie eine Kontrollgruppe, die ebenfalls aus zehn Kindern bestand, die in Erziehungsheimen lebten und bezüglich aller sonstigen relevanten Variablen parallelisiert worden waren..... Manche Kinder scheinen sich nach liebevoller Versorgung psychisch fast völlig zu erholen (Lynch/Roberts 1982), andere werden nach schweren Hirnschäden als geistig behindert eingestuft (Martin/Rodeheffer 1980); viele Kinder müssen jedoch in widrigen Verhältnissen ausharren. Ferner können Eltern, Stiefeltern oder Betreuer nicht ohne weiteres die nötige kontinuierliche Zuwendung gewähren, wenn das Kind erst einmal die beschriebenen Verhaltensauffälligkeiten angenommen hat, wie auch die Psychotherapie derartiger Störungen äußerst belastend ist, wobei insbesondere die bei älteren Kindern leicht ausufernden plötzlichen Attacken schwer zu ertragen sind. Einige dieser Kinder landen bekanntlich in psychiatrischen Kliniken, wo die eigentliche Wurzel ihrer psychischen Beeinträchtigung leider oft unentdeckt bleibt..... Wenn die Psychiatrie erst einmal realisiert, welche weit reichenden negativen Folgen frühe Misshandlungen bzw. Zurückweisungen haben können und in welchem Ausmaß Eltern relevante Informationen unterdrücken oder verfälschen und Therapeuten all dies ignorieren, dann dürften wir eine weit höhere Zahl an Kindesmisshandlungen zu verzeichnen haben.“ (S. 69ff)
Bowlby bringt Beispiele von Kindern, die traumatische Erlebnisse völlig vergessen hatten und erst wieder in der Langzeitpsychotherapie erinnern und verarbeiten konnten: „Ich hätte Todesängste ausgestanden, wenn ich die von Mama gesetzten Grenzen überschritten hätte. Natürlich bekam ich mit, wie sie meinen Vater und meine Schwester mit Worten und Schlägen traktierte, aber ich war doch nur ein kleines Kind und völlig machtlos.... Wie hätte ich Mama denn böse sein können, sie war doch mein einziger Halt.... also verbannte ich sämtliche Gefühle, sonst hätte ich das ganze gar nicht ertragen.... – ich durfte nicht aufgeben. Hätte ich meinen Gefühlen freien Lauf gelassen, säße ich jetzt nicht hier, sondern wäre wahrscheinlich tot oder in einer psychiatrischen Klinik.“ (S. 92)
Abschließend soll aus dem hier bedauerlicherweise nicht mehr aufgenommenen neunten Kapitel der vorangegangenen Ausgabe zitiert werden, weil dort wichtige Ausführungen zur Problematik der Fremdunterbringung zu finden sind: „Als ich im Rahmen meiner familienpsychiatrischen Tätigkeit vor vielen Jahren der Frage nachging, wie Kleinkinder die Unterbringung in Pflegefamilien oder Heimen verarbeiten, wurde ich mit einem Problem konfrontiert, das mich nicht mehr loslassen sollte. Ich realisierte, welch tiefen Kummer kleine Kinder in solch einer Situation empfinden und wie verzweifelt sie zur Mutter zurückstreben.... (S. 147) Ebenso wie eine prospektive Längsschnittstudie (Wadsworth, 1984), stützen diese Resultate die uns aus Therapien geläufige Hypothese, dass ein früher Verlust der Mutter psychische Auffälligkeiten begünstigt.... erwartungsgemäß waren die vor dem Verlust gegebenen Familienverhältnisse und die anschließende Betreuung am bedeutsamsten gewesen – je schlimmer die vorherigen Lebensumstände und je unzulänglicher die nachfolgende Betreuung, um so höher die Depressionsanfälligkeit. (S. 159) Deshalb sei hier abermals die durch zahlreiche unabhängige Studien nachgewiesene Bedeutung hervorgehoben, die dem Verhalten der Eltern(figuren) für die Persönlichkeitsentwicklung und psychische Gesundheit des Kindes zukommt. Von liebevoll zugewandten Eltern versorgt, die ihnen eine verläßliche Basis zur Umwelterkundung bieten und im Notfall hilfreich eingreifen, wachsen Kinder zu fröhlichen, sozial kooperativen und aufrechten Mitbürgern heran, die selbst schwierige Situationen aus eigener Kraft bewältigen und im Unterschied zu denjenigen, die in ihrer Familie kaum Geborgenheit und Beistand erfahren haben, wesentlich häufiger intakte Ehen führen und ihren Kindern ähnlich positive Entwicklungsbedingungen wie im eigenen Elternhaus bieten (Quinton & Rutter, 1985; Dowdney et al., 1985). Solche ’Binsenweisheiten’ sollten natürlich empirisch belegt werden. Die betrübliche ’Kehrseite der Medaille’ stellen jene Kinder und Jugendlichen dar, die ohne den notwendigen familiären Rückhalt einer verläßlichen Basis aufwachsen, eher resignieren, sich vor allem in engen Beziehungen schwertun, psychische Belastungen weitaus schlechter verkraften und später oft auch noch mit Ehe- und Erziehungsproblemen konfrontiert werden. Von den positiven Ausnahmen, die sich, wenngleich mit vermutlich deutlich höherem psychischen Aufwand, trotz dieser persönlichen Beeinträchtigungen ’durchbeißen’, dürfen wir uns freilich nicht den Blick trüben lassen, wie ja auch die Tatsache, daß manche starken Raucher überleben, kein Argument für das Rauchen ist.“(S. 162f)
Mit der Herausgabe dieses Buches hat sich der Ernst Reinhardt Verlag ein besonderes Verdienst erworben, gerade in einer Zeit, in der die Bindungstheorie zwar an Bedeutung immer mehr gewinnt, aber auch einseitigen bzw. verzerrenden Interpretationen ausgeliefert ist und teilweise geradezu missbraucht wird, wenn bspw. Gutachter vor Gericht Angstbindungen misshandelter und missbrauchter Kinder als Argument für den Verbleib dieser Traumaopfer in ihren Familien herbeiziehen. Von daher ist es höchste Zeit, Bowblys Originaltexte zur Geltung zu bringen.
An der Psychotherapie interessierte und mit therapeutischen Aufgaben betraute Fachkräfte sollten dieses Buch gelesen haben. Wer im Arbeitsfeld der Fremdunterbringung von misshandelten Kindern tätig ist, wird hier mühelos fündig und profitiert bei zu treffenden Entscheidungen von bewährtem Wissen.
Christoph Malter, Mai 2008
s.a. John Bowlby und die Bindungstheorie
s.a. Bindung, Trennung, Verlust
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