FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2004

 

Jeremy Holmes

John Bowlby und die Bindungstheorie

Ernst-Reinhardt-Verlag, München 2002
(278 Seiten, 26,90 Euro)

 

Es ist dem Leser gegenüber unhöflich, wenn ihm der Autor nicht vorgestellt wird, es ist sogar unverzeihlich, wenn es sich um eine Biographie handelt und der Biograph zu seinem Protagonisten in einem engen beruflichen und emotionalen Verhältnis stand. Wir wollen diese Lücke notdürftig schließen: Jeremy Holmes ist Psychiater, Psychologe und Psychoanalytiker. Er lehrt an der Peninsula Medical School in Devon und am Universitiy College in London und ist als beratender Psychotherapeut in der berühmten Tavistock Clinic tätig. Er hat viele Jahre mit Bowlby zusammen gearbeitet.

Zum Anliegen seines Buches schreibt Holmes:
„Dieses Buch hat vier Hauptziele. Das erste und einfachste ist, John Bowlbys Geschichte der Bindung .... zusammengefasst und kohärent zu erzählen. .... Deshalb wird ein Überblick über Bowlbys Schaffen und - hier ist das zweite Ziel - da schon mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen ist, seit er seine ersten Arbeiten veröffentlichte, auch eine historische Perspektive für die Entstehung seiner Ideen benötigt. .... Es gibt keinen einzigen Band, der sich explizit mit der modernen Bindungstheorie beschäftigt, und es wurde wenig unternommen, um ihre Auswirkungen auf die psychotherapeutische Theorie und Praxis zu untersuchen. Der Bedarf an einer solchen Arbeit ist das dritte Ziel und die Rechtfertigung für das vorliegende Werk. Ein vierter und überzeugenderer Grund als diese verdienstvollen, aber vielleicht banalen Überlegungen sagt viel über den Zweck dieses Buches aus. Dies ist der Versuch, ein kurioses Rätsel, das Bowlby und sein Werk umgibt, zu verstehen. Abgesehen von Freud und Jung ist Bowlby einer der wenigen Psychoanalytiker, deren Namen auch dem Laien zum Begriff wurden und deren Ideen Einzug in den Sprachgebrauch fanden. Die nachteiligen (oder sonstigen) Auswirkungen der mütterlichen Deprivation, die Wichtigkeit von Gefühlsbindungen zwischen Eltern und Kindern, die Notwendigkeit einer sicheren Basis und sich gebunden zu fühlen, die Erkenntnis, dass Trauer einen bestimmten Verlauf nimmt und in Phasen aufgeteilt werden kann - das alles sind Konzepte, mit denen Leute, die außerhalb der Welt der Psychologie und Psychotherapie stehen, vertraut sind. .... Dennoch sind Bowlbys Bekanntheitsgrad und Akzeptanz in der Öffentlichkeit und sein Einfluss in einigen speziellen Gebieten wie der Kinderheilkunde, Entwicklungspsychologie, Sozialarbeit und Psychiatrie im Bereich der Psychotherapie niemals erreicht worden. In dem von ihm gewählten Beruf der Psychoanalyse wird sein Einfluss öfter wegen seines Bruchs mit Konventionen als wegen seines Gehorsams gewürdigt. Zwischen seinen Arbeiten, die in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren an die psychoanalytischen Vereinigungen in Großbritannien und den Vereinigten Staaten gesandt wurden und den höflichen Beerdigungsfeiern der frühen Neunziger war meist eine nachhallende Stille die Antwort der psychoanalytischen Bewegung auf die Herausforderungen und Möglichkeiten, die sein Werk aufzeigt. Ein großes Anliegen dieses Buches ist es zu versuchen, diese Diskrepanz zwischen öffentlicher Anerkennung und Ignoranz durch die Fachwelt zu verstehen und sie zu beseitigen, indem gezeigt wird, wie die Bindungstheorie die Praxis der Erwachsenenpsychotherapie beeinflussen kann.“ (S. 15/16)

Die Durchführung dieses Programms ist aus den Hauptüberschriften des Inhaltsverzeichnisses ersichtlich:

Vorwort zur deutschen Ausgabe von Martin Dornes
Einleitung

Teil I: Die Ursprünge
1. Biographisches
2. Mutterentbehrung

Teil II: Die Bindungstheorie
3. Bindung , Angst, interne Arbeitsmodelle
4. Verlust , Zorn und Trauer
5. Bindungstheorie und Persönlichkeitsentwicklung: die Forschungsergebnisse

Teil III: Die Implikationen
6. Bowlby und die innere Welt: die Bindungstheorie und die Psychoanalyse
7. Bindungstheorie und die Praxis der Psychotherapie
8. Bindungstheorie und psychische Störung
9. Die Bindungstheorie und die Gesellschaft

Epilog
Danksagungen
Glossar
Biographisches Daten
Literatur
Register

Im zweiten Kapitel berichtet Holmes über ’Child Care and the Growth of Love’, eines der einflußreichsten Werke Bowlbys:
„Was ’Child Care and the Growth of Love’ in der Geschichte der sozialen Reformen heraushebt, ist die Betonung der psychischen Schwierigkeiten als Ursache sozialer Unzufriedenheit, im Gegensatz zu wirtschaftlichen, medizinischen, Ernährungs- oder Unterkunftsproblemen: ’In einer Gesellschaft, in der die Zahl der Todesfälle niedrig, die Beschäftigungsrate hoch und das soziale Sicherungssystem angemessen ist, sind emotionale Instabilität und die Unfähigkeit der Eltern, innerhalb der Familie effektive Beziehungen aufzubauen, die erkennbaren Ursachen dafür, dass Kindern ein normales Familienleben entzogen wird’(Bowlby 1952). Der zentrale Vorstoß in Bowlbys Arbeit liegt in dem Versuch, diese Behauptung zu beweisen und ihre klinischen, beruflichen, ethischen und politischen Konsequenzen in Betracht zu ziehen. Zu den Beweisen, auf denen das Buch beruht, gehören Bowlbys eigene Studien jugendlicher Delinquenten, Goldfarbs Vergleich von Kindern, die in den Vereinigten Staaten in Heimen aufgewachsen sind mit solchen, die in Pflegefamilien untergebracht wurden, und die Berichte von Anna Freud und Dorothy Burlingham aus ihrem Wohnheim in Hampstead. Alle diese Studien unterstützen stark die Ansicht, dass Kinder, denen die mütterliche Fürsorge entzogen wird, besonders wenn sie schon vor dem achten Lebensjahr in Heimen leben, in ihrer körperlichen, intellektuellen, emotionalen und sozialen Entwicklung ernsthaft beeinträchtigt werden können. Kinder, die in Heimen aufwachsen, entwickeln sich nicht so gut und bleiben in ihrem Spracherwerb zurück, und wenn sie älter werden, zeigen sie Anzeichen einer beeinträchtigten Fähigkeit, stabile Beziehungen aufzubauen - wobei sie dazu neigen, oberflächlich freundlich, aber in ihren Beziehungen promiskuitiv (entweder im metaphorischen oder buchstäblichen Sinn) zu sein. Auf der Grundlage seines eigenen Befunds, dass nur zwei von vierzehn ’bindungslosen Psychopathen’ in der frühen Kindheit keine längeren Trennungen von ihren Müttern erfahren hatten, stellt Bowlby) fest, dass ’eine längere Trennung eines Kindes von seiner Mutter (oder einem Mutterersatz) während der ersten fünf Lebensjahre an vorderster Stelle der Ursachen für delinquente Charakterentwicklung steht’ (Bowlby 1944; 1952).“ (S. 57)

Die Forschungen der Nachfolger Bowlbys haben diese Grundaussage bestätigt, aber auch differenziert:
„Die bisherigen Erkenntnisse, die für mehr als ein Jahrzehnt ’post-bowlbyanischer’ Forschung auf dem Gebiet der Bindungstheorie stehen, können wie folgt zusammengefasst werden: Beziehungsschemata, die im ersten Lebensjahr aufgebaut werden, haben weiterhin einen starken Einfluss auf das spätere Verhalten, die soziale Anpassung, das Selbstkonzept und die autobiografische Kompetenz des Kindes. Diese Auswirkungen bleiben mindestens zehn Jahre lang bestehen. Mutter-Kind-Beziehungen, die durch einen sicheren Halt (sowohl körperlich als auch emotional), Feinfühligkeit und Einstimmung gekennzeichnet sind, werden mit Kindern in Verbindung gebracht, die selbstsicher sind, den Schmerz der Trennung tolerieren und überwinden können, und die Fähigkeit zur Selbstreflexion haben. Diese Ergebnisse unterstützen zweifelsohne die Ansicht, dass die ersten Lebensjahre eine entscheidende Rolle in der Charakterbildung spielen, und sie zeigen uns auf eine faszinierende Art die Kontinuität zwischen dem vorsprachlichen Ich des Kindes und dem sozialen Ich, wie wir es im Allgemeinen begreifen. Aber zwei wichtige Bedingungen müssen beachtet werden. Erstens ist das, was wir sehen, nicht so sehr das Ergebnis eines irreversiblen frühen Ereignisses, als vielmehr einer fortlaufende Beziehung mit ihrer eigenen ’epigenetischen’ Stabilität, da die Eltern-Kind-Beziehung kontinuierlich über die Entwicklung hinweg wirkt. Es gibt Beweise dafür, dass wenn sich die Umstände für die Mutter ändern - zum Beispiel, wenn eine alleinstehende Mutter sich in eine stabile partnerschaftliche Beziehung begibt - sich der Bindungsstatus ihres Kindes ändern kann, in diesem Fall von unsicher zu sicher. Ähnliche Veränderungen können auftreten, wie wir später in diesem Kapitel sehen werden, wenn Mutter und Kind psychotherapeutisch behandelt werden (Murray/Cooper 1992).“ ( S. 136/137)

Besonders interessant sind die erkenntnistheoretischen Erörterungen des Autors, weil von ihnen abhängt, ob die gegenwärtigen Bemühungen um eine Zusammenführung von Bindungstheorie und Psychoanalyse nur zu einem oberflächlichen Eklektizismus oder zu einer echten Synthese führen können.

„Es gibt einen immanenten Dualismus im Projekt Freuds. Freud sah die Psychoanalyse als eine Wissenschaft und wollte, dass seine Berichte über die Psychopathologie den gleichen Status und die gleiche Erklärungskraft haben wie die der physischen Medizin. Gleichzeitig nannte er, wie Rycroft (1985) erklärt, sein magnum opus ’Die Traumdeutung’ und nicht ’Die Traumursachen’, und: ’Man kann in der Tat die Meinung vertreten, dass ein Großteil von Freuds Arbeit wirklich semantischer Natur war, und dass er eine revolutionäre Entdeckung in der Semantik gemacht hat, nämlich dass neurotische Symptome eine bedeutungsvolle und getarnte Form der Kommunikation sind, aber dass er, aufgrund seiner wissenschaftlichen Ausbildung und Loyalität, seine Erkenntnisse im Rahmen der Naturwissenschaften formulierte.’ (Rycroft 1985) Die wissenschaftlich-erklärenden und die semantisch-hermeneutischen Pole der Gedanken Freuds werden in der modernen Psychotherapie von der kleinschen und lacanschen Psychoanalyse auf der einen Seite, und der kognitiven Therapie auf der anderen verkörpert. In diesem Abschnitt werde ich zunächst eine kurze Darstellung dieser scheinbar unversöhnlichen Ansätze geben und dann den Vorschlag machen, dass die Bindungstheorie vielleicht als Brücke zwischen ihnen fungieren kann. Rustin (1991) hat die Geschichte der Psychoanalyse als eine Bewegung durch Kants drei Kategorien der Wahrheit beschrieben: wissenschaftlich, ethisch und ästhetisch. Freud sah sich als Naturwissenschaftler, der nach allgemeinen Wahrheiten über die Psychologie des Normalen und Anormalen sucht; Melanie Kleins Theorien waren von Grund auf ethisch

Theorien über die Zerstörungskraft und die Spaltung und Versöhnung von Gut und Böse in der depressiven Position; Rustin sieht die jetzige Psychoanalyse als überwiegend ästhetisch in ihrer Orientierung.“ (S. 170/171)

Wenn das so ist, dann müßten die Psychoanalytiker sich weniger um psychoanalytische Theorie und mehr um psychoanalytische Urteilskraft und dort besonders um die reflektierenden Urteile der ästhetischen Wahrnehmung bemühen und zwar nicht gegen, sondern mit Freud, der dem ästhetischen Erkenntnis- und Darstellungsvermögen der Romanciers, z.B. dem Arthur Schnitzlers, hohe Achtung zollte und seine eigenen Krankengeschichten als Novellen charakterisierte. Die gemeinsame Konstruktion kohärenter Entwicklungsgeschichten im therapeutischen Prozeß ist eines der zentralen Anliegen von Jeremy Holmes.

Seinen Epilog beschließt Holmes mit einem ‚Abschiedsbrief’, in dem seine hohe Achtung und Liebe für John Bowlby noch einmal deutlich hervortritt. Dort fragt er ihn und sich selbst:
„was Du wohl von unserer modernen Betonung von Geschichten und Erzählungen in der Psychotherapie gehalten hättest? Du warst der Hermeneutik gegenüber misstrauisch und hast immer versucht, innerhalb der Grenzen der evolutionären Wissenschaft zu bleiben. Und doch ist aus Deinem Werk eine Art von Verständnis entsprungen, das aufzeigt, wie die Fähigkeit, Geschichten zu erzählen und die Vergangenheit mit der Gegenwart und der Zukunft auf kohärente Art und Weise zu verbinden, eine Fortführung des feinfühligen Umgangs in der frühen Kindheit darstellt.“ (S. 248)

Dazu paßt, daß Bowlbys letztes Werk eine Biographie war, eine Biographie über sein großes Vorbild Darwin, so wie die unseres Autors über sein Vorbild Bowlby.

Die Empfehlung fällt leicht: wer die Bindungstheorie wirklich verstehen, nämlich als Resultat einer Lebensgeschichte, wer ihre Vermittlungsmöglichkeiten zwischen erklärender Naturwissenschaft und verstehender Geisteswissenschaft nutzen und wer z.B. als Pflegemutter bindungsgestörter Pflegekinder ihr therapeutisches Potential ausschöpfen will, muß dieses Buch lesen.

Kurt Eberhard (März, 2004)

 

 

Onlinebestellung über unseren Partner

Liste der rezensierten bzw. präsentierten Bücher

 

[AGSP] [Aufgaben / Mitarbeiter] [Aktivitäten] [Veröffentlichungen] [Suchhilfen] [FORUM] [Magazin] [JG 2011 +] [JG 2010] [JG 2009] [JG 2008] [JG 2007] [JG 2006] [JG 2005] [JG 2004] [JG 2003] [JG 2002] [JG 2001] [JG 2000] [Sachgebiete] [Intern] [Buchbestellung] [Kontakte] [Impressum]

[Haftungsausschluss]

[Buchempfehlungen] [zu den Jahrgängen]

Google
  Web www.agsp.de   

 

 

 

 

 

simyo - Einfach mobil telefonieren!

 


 

Google
Web www.agsp.de

 

Anzeigen

 

 

 

 


www.ink-paradies.de  -  Einfach preiswert drucken