PD Dr. phil. Ute Ziegenhain ist Pädagogin und Entwicklungspsychologin. Prof. Dr. med. Jörg M. Fegert ist Kinder- und Jugendpsychiater. Beide sind am Universitäts-Klinikum Ulm tätig.
Aus der Einleitung: „Dieses Buch ist das Ergebnis und die Weiterführung eines Expertenforums zum Thema »Steigerung der elterlichen Feinfühligkeit zur Prävention von Vernachlässigung und Kindeswohlgefährdung im Säuglings- und Kleinkindalter«, das mit Unterstützung der Stiftung Ravensburger Verlag von der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm vom 18.1. bis zum 20.1.2006 durchgeführt wurde. Anlass war es, eine grundlegende und umfassende Diskussion über Vernachlässigung und Kindeswohlgefährdung zu führen, die über aktuell geführte Debatten nach tragischen Fällen früher Kindesvernachlässigung und -misshandlung hinausgeht. Mit der Neueinführung des § 8a Kinder- und Jugendhilfegesetz, Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII), zum Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung (1.10.2005) war überdies die Chance einer erhöhten Bereitschaft und Motivation in der Fachöffentlichkeit gegeben, diese Thematik nun systematisch und auch unter einer interdisziplinären Perspektive aufzugreifen. Der wesentliche Schwerpunkt dieses Buches liegt im Bereich der frühen Kindheit. Bei Vernachlässigung und Kindeswohlgefährdung sind Säuglinge und Kleinkinder in besonderem Maße gefährdet. Gleichzeitig werden gerade bei Säuglingen und Kleinkindern frühe Warnzeichen von emotionaler Belastung, emotionalen Problemen oder Kindeswohlgefährdung häufig übersehen oder erst dann wahrgenommen, wenn die Belastung und die Gefährdung bereits hoch sind. Hier liegen besondere Herausforderungen im Kinderschutz. Frühe und dezente Warnzeichen von Kindeswohlgefährdung lassen sich jedoch in der Beziehung und Interaktion mit den Eltern identifizieren. Misshandlung und Vernachlässigung zeigt sich letztlich in der Entgleisung und im Versagen adäquaten elterlichen Verhaltens. Hier liegen Chancen, den Schutz von Kindern präventiv und nicht reaktiv zu gestalten. Daher ist die Förderung elterlicher Beziehungs- und Erziehungskompetenzen zur Prävention von Vernachlässigung und Kindeswohlgefährdung ein weiterer zentraler Aspekt dieses Buches. Er geht insofern über eine enge Diskussion über Kindeswohlgefährdung bzw. über Unterstützung für hoch belastete Familien hinaus als Wissen über Entwicklung oder Förderung feinfühligen Umgangs mit dem Kind etwas ist, wovon alle Eltern profitieren. Immer mehr junge Eltern aus allen Schichten sind heutzutage im Umgang und in der Erziehung ihrer Kinder verunsichert oder teilweise sogar überfordert. Wie die Autorengruppe im gemeinsamen Ulmer Aufruf feststellt, sind aber die Grenzen zwischen Normalität, Belastung und Entwicklungsgefährdung fließend und somit der Unterstützungsbedarf von Eltern unterschiedlich. Familien in hoch belasteten Lebenssituationen sind diejenigen, die mehr und spezifisch zugeschnittene Unterstützung brauchen. Schließlich war es ein weiteres Anliegen, die Expertendiskussion über Vernachlässigung und Misshandlung interdisziplinär zu führen. Kinderschutz ist ein interdisziplinäres Problem, das Praxis und Forschung, gleichermaßen Kinder- und Jugendpsychiatrie, Entwicklungspsycho(patho)logie, Jugendhilfe und Pädiatrie angeht. Dafür, dass dieser Anspruch eingelöst wurde, danken wir den Autorinnen und Autoren als Experten aus Familien- und Sozialrecht, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Pädiatrie, Pädagogik, Entwicklungspsychologie, Erwachsenenpsychiatrie, Jugendhilfe und Gesundheitshilfe sowie Familienpolitik. Sie haben die Expertentagung erfolgreich gestaltet und in vielen Diskussionen fachliche und strukturelle Möglichkeiten und Hinderungsgründe analysiert und vorangetrieben.“ (S. 7)
Der Inhalt:
Einleitung von Jörg M. Fegert und Ute Ziegenhain
Teil I: Gesetzliche Voraussetzungen
§ 8a SGB VIII – Anmerkungen und Überlegungen zur Vorgeschichte und den Konsequenzen der Gesetzesänderung von Ludwig Salgo
Rechtliche Vorgaben zur Kommunikation bei interdisziplinärer Kooperation von Thomas Meysen
Die strategische Herausforderung – ökologisch-systemische Entwicklungsperspektiven der Kinderschutzarbeit von Reinhart Wolff
Frühe Kindheit in der Jugendhilfe – Präventive Anforderungen und Kinderschutz von Reinhold Schone
Teil II: Risikoeinschätzung
Risikoeinschätzung bei (drohender) Kindeswohlgefährdung: Überlegungen zu Diagnostik und Entwicklungsprognose im Frühbereich von Teresa Ostler und Ute Ziegenhain
Vernachlässigung im Säuglings- und Kleinkindalter aus ärztlicher Sicht von Reiner Frank
Prävention von Vernachlässigung und Kindeswohlgefährdung im Säuglings- und Kleinkindalter von Heinz Kindler
Sekundärpräventionsstrategien im Kinderschutz von Lutz Goldbeck
Teil III: Prävention und Intervention durch frühe Förderung von Feinfühligkeit
Stärkung elterlicher Beziehungs- und Erziehungskompetenzen – Chance für präventive Hilfen im Kinderschutz von Ute Ziegenhain
Präventive Programme zur Stärkung elterlicher Beziehungskompetenzen – Beitrag der Bindungsforschung von Gabriele Gloger-Tippelt
Entwicklungspsychologische Besonderheiten bei behinderten Säuglingen und Kleinkindern von Hellgard Rauh
Interdisziplinäre Anforderungen und Herausforderungen in der Prävention und Versorgung von Kindern psychisch kranker Eltern von Michael Franz und Karin Jäger
Teil IV: Umgang mit Kindeswohlgefährdung in der Praxis
Präventionsprojekt „Zukunft für Kinder in Düsseldorf“ – Neue Wege in der Prävention für Kinder und Familien in Risikolagen und hohen Risikolagen von Peter Lukasczyk und Wilhelm Pöllen
Niedrigschwellige Angebote im Sozialraum: Das „Kalker Netzwerk für Familien“ von Renate Blum-Maurice
Prävention von Kindeswohlgefährdung im Säuglings- und Kleinkindalter aus der Sicht des Jugendamtes von Hans Hillmeier
Erfahrungen in der Zusammenarbeit von stationärer Kinder- und Jugendpsychiatrie und Jugendhilfe bei Kindeswohlgefährdung von Renate Schepker, Paul Erdélyi und Isabel Boege
Teil V: Implikationen und Perspektiven für den Kinderschutz
Vorschläge zur Entwicklung eines Diagnoseinventars sowie zur verbesserten Koordinierung und Vernetzung im Kinderschutz von Jörg M. Fegert
Ulmer Aufruf zum Kinderschutz
Die Autorinnen und Autoren
Die Expertengruppe kommt zu folgenden, allgemein gehaltenen Empfehlungen zur Verbesserung des Kinderschutzes:
(1) durch ein empirisch geprüftes Frühwarnsystem, mittels dessen möglichst viele gefährdete Familien möglichst früh erreicht werden können,
(2) durch eine standardisierte, systematisch und wissenschaftlich abgesicherte Diagnostik im Einzelfall,
(3) durch die Kombination von wirksamen allgemeinen Angeboten, die sich an alle Familien richten, und durch spezifisch darauf aufbauende Angebote für psychosozial hoch belastete Familien,
(4) durch eine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit klar geregelten Verfahrenswegen und Zuständigkeiten,
(5) durch hinreichende Fortbildungsangebote und Leitsätze zur praktischen Umsetzung des § 8a SGB VIII,
(6) durch eine politisch veränderte Kultur im Umgang mit Fehlern und Verantwortlichkeiten (insbesondere durch eine multidisziplinäre Qualitätssicherung)
(7) sowie durch die Etablierung einer abgestimmten und längerfristig angelegten Forschungsstrategie zum Kinderschutz.
Christoph Malter (Juli 2007)
s.a. Forderungen der Holzmindener Kinderschutzkonferenz
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