FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Artikel / Jahrgang 2007

 

Demokratische Kinderschutzarbeit
– zwischen Risiko und Gefahr

von Reinhart Wolff

 

„Die Tür zum Paradies bleibt versiegelt. Durch das Wort Risiko.“
(Niklas Luhmann)

 

1. Kindesmisshandlung und Kinderschutz als Konstruktion – gesellschaftliche und politische Entwicklungslinien
Kindesmisshandlung und Kinderschutz hat es nicht immer schon gegeben. Sie sind als gesellschaftliche Problemkonstruktionen und –Reaktionen an bestimmte historische Veränderungen der Lebensumstände, der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse gebunden, wie in der Praxis des modernen Kinderschutzes viel zu wenig bedacht und erforscht wird. Immerhin hatten wir bereits bei der „Neuentdeckung“ von Kindesmisshandlung und Kinderschutz in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts auf diese Zusammenhänge hingewiesen und betont: „Daß ein Kind lebt und aufwächst, überhaupt als Mensch angesehen wird, ist abhängig von dem materiellen Lebenszusammenhang, den Produktionsverhältnissen und den politischen Formen, die ihnen entsprechen. Erst auf dieser Grundlage wäre die wissenschaftliche Geschichte der Kindheit und Kindererziehung zu schreiben, können die heutigen Verhältnisse erste verstanden werden.“ Zugleich formulierten wir mit Hinweis auf die Begründung des Gesetzentwurfes „Zur Neuregelung des Rechts der elterlichen Sorge“ (BR-Drucksache 690/73): „Der durch Wissenschaft und Technik erreichte Stand in der Produktion und politischen Organisation der entwickelten Industriegesellschaften zwingt zu einer Umstrukturierung der Erziehungsprozesse und läßt auch die jahrhundertealte Objektstellung des Kindes ins Wanken geraten, bewirkt, daß das Kind nicht mehr ‚als Objekt elterlicher Fremdbestimmung anzusehen (ist), sondern als Grundrechtsträger, der mit zunehmendem Alter grundrechtsmündig wird.’ “ (1)

Mit der „Erfindung der Kindheit“ in moderner Gesellschaft bereits Mitte und Ende des 18.Jahrhunderts wurde eine neue Sicht auf Kinder propagiert und bereits von Anbeginn des 19. Jahrhunderts entwickelten sich mit der Skandalisierung der Armut und der hemmungslosen Ausbeutung von Kindern erste Kinderschutzbemühungen, die als „Kinderrettungsbewegung“ vor allem der Armen und Waisen und als „Kampf gegen die Kinderarbeit“ bekannt geworden sind. Am Ende des 19. Jahrhundert – parallel zur Forderung nach allgemeiner Schulbildung –- deutete sich mit der Ausrufung des „Jahrhunderts des Kindes“ eine allmähliche Veränderung der Generationenstrukturen, der Autoritätsverhältnisse wie der emotionalen und pädagogischen Gestaltung der Erwachsenen-Kind-Beziehungen an, und sowohl in den USA als auch in Europa (vor allem in England und Deutschland) kam es zur Gründung der ersten „Gesellschaften zur Verhütung von Grausamkeiten gegen Kinder“, von Kinderschutzvereinen und von Wohlfahrtseinrichtungen von Verbänden und Gemeinden mit der Schwerpunktaufgabe der Säuglingsfürsorge bzw. der Fürsorgeerziehung. Neben dieser kindfokussierten Opferrettungsperspektive spielte freilich – mehr oder weniger stark - bis ins 20. Jahrhundert hinein eine Täterverfolgungs-  und Täterausgrenzungsperspektive eine Rolle. Kinderschutz, mit stark schichtspezifischen Vorurteilen und Neigungen und orbrigkeitsstaatlichen bzw. parternalistischen Systemstrukturen, zog in der gesamten Entwicklungsetappe bis zum Paradigmawechsel in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts im wesentlichen zwei Register: die Fremdunterbringung des misshandelten und vernachlässigten Kindes in Erziehungsheimen und / oder die Strafverfolgung der Misshandler (der Täter).

Vor allem nach dem 2. Weltkrieg und dann verstärkt im Zuge der weltweiten demokratischen Protestbewegungen kam es in den 60er und 70er Jahren zu einem breiten Ausbau der Kinder- und Jugendhilfe (Child and Family Welfare) und zugleich zu einer Reformulierung der Kinderschutzaufgaben. Ein starker gesellschaftlicher Individualisierungsschub motivierte allerdings im ersten Schritt vor allem eine medizinisierte und psychologisierte Konzeptualisierung von Kindesmisshandlung als „Battered Child Syndrome“, dem ein Handlungskonzept von Melden, Ermitteln, Registrieren, Behandeln und Bestrafen einherging, das sich eine international wachsende „Kindesmisshandlungs- und Kinderschutzindustrie“ (2) zu eigen machte, die vor allem im englisch-amerikanischen Kontext die existierenden Jugendhilfesysteme schwerpunktmäßig zu einem eng geführten Kinderschutzsystem umbaute, das auf das doppelte Mandat von Hilfe und Repression setzte.

Im Gegensatz dazu ging es im gesellschaftskritischen Ansatz des „Neuen Kinderschutzes“ um „Gewalt gegen Kinder“ als Herrschafts-, Beziehungs- und Ressourcenkonflikt und um ein Programm nicht-strafe-orientierter, multidisziplinärer Hilfe und solidarischer Unterstützung von Eltern und Kindern, von Schutz und Entwicklungsförderung von Kindern und Jugendlichen im Rahmen einer Vielzahl vernetzter professioneller Leistungsangebote des modernen Wohlfahrtsstaates von frühen Schwangerschaftshilfen, über Krisenintervention, Eltern-, Mütter- und Familienberatung und –Therapie und bis hin zu weit ausgreifenden Angeboten der Kindertageserziehung und einem differenzierten System stationärer Hilfen zur Erziehung.

Beide Kinderschutzkonstruktionen sowie die ihnen einhergehenden Programmatiken waren im übrigen, wie nie zuvor, einbezogen in einen Prozess massenmedialer Kommunikation, kam es zu einer geradezu televisionären Medialisierung der Misshandlungsproblematik wie der Kinderschutzaufgaben, wurden Kindesmisshandlung und Kinderschutz zu Metaphern der gesellschaftlichen Selbstverständigung (3) über Eltern- und Kinderrechte, Generationen- und  Familienbeziehungen sowie über das Verhältnis von Familie und Staat. Jedenfalls haben seither die Medien Kindesmisshandlung und Kinderschutz entdeckt und bestimmen entscheidend mit, was wichtig und wesentlich ist, welche Argumente und Handlungsperspektiven Gewicht und Masse haben. Dabei ist es zu einer Umstellung in der Problemsicht gekommen: Nachdem jahrzehntelang die mißhandelten und vernachlässigten Kinder als Opfer und vor allem die Eltern als Täter im Blick waren (dabei allerdings in der Regel keine Stimme hatten), sind die Medien nun – und zwar weltweit - auf die Kinderschutzeinrichtungen selbst aufmerksam geworden, sind nun die Professionellen in den Blick gekommen, denen Mißhandlung und Vernachlässigung im Amt, fachliche Inkompetenz und Fehler vorgeworfen wird. Die Medien reagieren damit seismographisch auf Veränderungen, die generell in der Entwicklung der postmodernen Gesellschaft im Übergang zum 21. Jahrhundert angelegt sind: der Tendenz zur Risikogesellschaft. (4)

2. Risikogesellschaft als Herausforderung für Kinderschutzarbeit - ein theoretischer Rahmen
Wer sich in der Geschichte der Sozialen Arbeit auskennt, wird wissen, dass seit Anbeginn der Moderne neben
den sozialen, politischen und moralischen (nicht zuletzt religiösen) Intentionen entsprechend ihrer übergreifenden strukturellen Tendenz hin zur Rationalität auch wissenschaftliche Intentionen eine Rolle spielen: sie ist insofern auch ein Projekt der (rationalen) Naturbeherrschung am Menschen, wie es sich im Zuge der Entfaltung der modernen Human- und Sozialwissenschaften (insbesondere der Medizin, Psychiatrie, Pädagogik, Sozialwissenschaft und Psychologie) seit dem 18. Jahrhundert entwickelte. „Die Lösung sozialer Probleme wird zu einer Sache von Disziplinen, die je für sich individuelles menschliches Verhalten regulieren.“ Und die sich schnell vergrößernde Gruppe solcher Gesellschaftsingenieure beginnt, …“menschliche Angelegenheiten wie physikalische, chemische und maschinelle Vorgänge zu betrachten“ (5) Dabei spielten je nach sozialem Standort und Interesse der Akteure unterschiedliche strategische Orientierungen eine Rolle: Emanzipation durch Aufklärung und Freiheit bzw. Herrschaft und Kontrolle durch reaktive und präventive (Verhaltens-) Problembearbeitung. Die Umbrüche in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft mit ihrer Tendenz der Infragestellung transzendenter Schicksals- und Glaubensmächte und absolutistischer Herrschaft führten zu Formen normativer Enttraditionalisierung und Liberalisierung im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang, die nach neuen Formen sozialer Regulierung verlangte: „Die Gesellschaft legt sich Agenturen zu, an die im Problemfall verwiesen werden kann und die der Gemeinschaft von ihr nicht mehr leistbare Interpretations-, Betreuungs-, Versorgungs- und Befriedungsaufgaben abnehmen. ...Diese Dienste bilden sich als kompetente Instanzen in von ihnen selbst umschriebenen Fällen aus, und sie werden in ihrer Zuständigkeit, Probleme sachgerecht zu verwalten, nach und nach öffentlich anerkannt. Ihre rationalen Praktiken, ihre gesammelte Erfahrung, ihr Sprachcode und andere Merkmale ihrer Wissenschaftlichkeit überzeugen.“ (6)

Dieser Prozess hat sich in den letzten 200 Jahren nicht nur fortgesetzt sondern kompliziert, sind wir gewissermaßen „auf dem Weg in eine andere Moderne“. (7) Es verschieben sich die Gewichte zwischen der Privatsphäre und dem gesellschaftlichen Raum der funktional differenzierten Berufssysteme, geht es auf erweiterter Stufenleiter um Individualisierung, um „eigenes Leben“ (8) im Kontext  komplexer Vergesellschaftung. Ulrich Beck hat das prägnant auf den Punkt gebracht:
„Das eigene Leben ist gar kein eigenes Leben, im Gegenteil. Es entsteht ein standardisiertes Leben, in dem die Prinzipien von Leistung und Gerechtigkeit sowie die Interessen des Individuums und der rationalisierten Gesellschaft miteinander kombiniert und verschmolzen werden sollen. Es ist der nationale Wohlfahrtsstaat, der die Individualisierung erzeugt und verstärkt. Das ist es, was ich das Paradox des »institutionellen Individualismus« nenne.... Individualisierung ist also keine Sache des »Überbaus«, der Ideologie, der gegenüber dem »Unterbau«, die objektive Lage als »eigentliche« Realität unterschieden und aufrechterhalten werden kann. Individualisierung ist sozusagen der »Überunterbau«, also die paradoxe »Sozialstruktur« der zweiten Moderne. Was heißt: Die Lebensbedingungen der Individuen werden ihnen selbst zugerechnet: und dies ist eine Welt, die sich fast vollständig dem Zugriff der Individuen verschließt. Auf diese Weise wird das »eigene Leben« zur biographischen Lösung systematischer Widersprüche...
Auf eine Formel gebracht: Individualisierung in der Zweiten Moderne meint »disembedding without reembedding«, Freisetzung ohne Wiedereinbettung. Zum ersten Mal in der Geschichte wird das Individuum zur Einheit sozialer Reproduktion.
Anders gesagt: Individualisierung selbst wird zur paradoxen Sozialstruktur der Zweiten Moderne (s.o.). Die Menschen werden aus den Selbstverständlichkeiten des nationalen Industriekapitalismus und Wohlfahrtsstaates entlassen in die Turbulenzen der Weltrisikogesellschaft.“
(9)

Moderne Gesellschaft wird darum nicht von ungefähr in wachsenden Maße als krisen- und konfliktträchtig erlebt wird, allerdings nicht allein aufgrund der erfahrenen politischen Großkrisen des 20. Jahrhunderts und aufgrund der dramatischen Veränderungen von Wissenschaft, Technik und Wirtschaft mit ihren kulturellen, technologischen und ökologischen Verwerfungen und Gefährdungen, sondern weil bei all der unübersehbaren Leistungsfähigkeit und Großartigkeit des modernen Wissens und Könnens deren riskanten Seiten (erkenntnistheoretisch und handlungspraktisch) nicht mehr übersehen werden können. Mit dem Insistieren auf Klärung von Sachverhalten (mit objektiven Methoden der Erfassung), auf Wissen, das Unterscheidung in Richtig oder Falsch erlaubt, ist es nun nicht mehr getan. Man muss sich vielmehr klarmachen, worauf der kritische Erkenntnistheoretiker des Sozialen, Niklas Luhmann, in seiner Soziologie des Risiko aufmerksam gemacht hat, dass wir es grundsätzlich mit dem Phänomen mehrfacher Kontingenz zu tun haben und zwar nicht nur in der Form, dass wir die Dinge nicht (jedenfalls nicht sicher) in der Hand haben, sondern dass wir die Dinge unterschiedlich beobachten und einschätzen und „daß etwas, was von verschiedenen Beobachtern für Dasselbe gehalten wird, für sie ganz verschiedene Informationen erzeugt.“ Und Luhmann fährt fort:
„Um beiden Beobachtungsebenen [Beobachtung erster Ordnung, nämlich was der Fall ist (Sachebene) bzw. Beobachtung zweiter Ordnung, nämlich die Beobachtung der Beobachter, RW] gerecht werden zu können, wollen wir dem Begriff des Risikos eine andere Form geben, und zwar mit Hilfe der Unterscheidung von Risiko und Gefahr. Die Unterscheidung setzt voraus (und unterscheidet sich dadurch von anderen Unterscheidungen), daß in Bezug auf künftige Schäden Unsicherheit besteht. Dann gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder wird der etwaige Schaden als Folge von Entscheidungen angesehen, also auf Entscheidung zugerechnet. Dann sprechen wir von Risiko, und zwar vom Risiko der Entscheidung. Oder der etwaige Schaden wird als extern veranlasst gesehen, also auf die Umwelt zugerechnet. Dann sprechen wir von Gefahr.“
(10)

In dem Maße, indem wir Zukunft in Situationen eines „hochstufigen Kontingenzarrangements“ (d.h. in struktureller Unsicherheit und Ungewissheit, aber auch der Offenheit für vielfältige Möglichkeiten) als von uns selbst und von organisationalen Entscheidungsprozessen bestimmt zu gewinnen trachten, werden Entscheidungen wie Nicht-Entscheidungen riskant. In einer Risikogesellschaft zu leben heißt darum, sich mit einer kalkulativen Haltung den offenen Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten zu stellen, um auf der sicheren Seite zu sein (wofür es allerdings keine Garantie gibt) bzw. um das Schlimmste zu verhindern und sich vor Schaden zu schützen. Risiken werden dabei nicht „gelöst“, „beseitigt“ oder „überwunden“, sondern sie entwickeln sich immer neu und kontinuieren sich. Wer in Risiken überlegt manövrieren will, muss sich darum auf eine ständige Reflexion kontextueller, situationeller und kommunikativer Prozesse einlassen. Ulrich Beck spricht in diesem Zusammenhang von „reflexiver Verwissenschaftlichung“. (11)

Solche risikotheoretischen Überlegungen sind in letzter Zeit auch in der modernen Kinderschutzarbeit wichtiger geworden, wird doch von den professionellen Systemen  - und das gilt für Soziale Arbeit insbesondere - verlangt, sich den allgegenwärtigen Risiken in der Lebenswelt wie in der beruflichen Praxis zu stellen. Sie liegen jedoch nicht einfach vor, sind sie faktisch schwer greifbar und nicht einfach zu erfassen. Risiken sind nämlich selbstkonstruiert.

Im Feld des Kinderschutzes gibt es allerdings bisher nur eine einzige Studie, die sich dieser Problematik explizit stellt. Sie nimmt bereits im Titel das Risiko-Thema auf: Child Protection. Risk and the Moral Order. (12) Die Autoren weisen mit Recht darauf hin:
„Risk in effect »exists« in the formulars, theorems or assessments which construct them. They remain essentially invisible and are based on causal interpretations and predictions, and thus »exist« in terms of knowledge about them. We are dealing with a theoretical and hence a scientized consciousness, even in the everyday consciousness of risk. They must always be imagined, implied and ultimately believed…The suggested causality always remains more or less uncertain and tentative. Risks can thus be changed, magnified or minimised within the knowledge of them, and to that extent they are particularly open to social redefinition and social reconstruction. The mass media and the scientific and legal professions thus play key roles in the defining, redefining and reconstituting of risk.
It is in this respect that it becomes evident that contemporary concerns with risk in child protection reflects ways of organising and thinking about the world, rather than some external or hidden reality. Thus while a significant part of expert thinking and public discourse is about risk-profiling – analysing what, in the current state of knowledge and current conditions, is the distribution of risks in the given milieu of action – such profiles are subject to continual critique and revision. No longer does expert knowledge create stable inductive arenas, for it is liable to produce unintended or unforeseen consequences or its findings may be open to diverse interpretations. The self and the wider institutional arrangements have to be continually assessed, monitored and reviewed and thereby reflexively made. Nothing can be taken for granted.”
(13)

Es ist diese Problemsicht, die auch bei der Novellierung der rechtlichen Grundlagen der Kinderschutzarbeit in Deutschland (insbes. § 8a SGB VIII –Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe) eine Rolle spielte: Hier werden die Verantwortungen präzisiert, werden die (“insoweit erfahrenen“ oder erst auszubildenden) Fachleute angehalten, in der Sprache des Risikos zu denken und zu sprechen, vor allem aber Risiken zu erkennen und sie kompetent zu managen. Denn Kinderschutz ist im Kern ein Risikogeschäft von Akteuren in Organisationen, die sich ihre Wahrnehmungen und Entscheidungen selbst zurechnen lassen müssen, wenn sie Ihre professionellen Ansprüche nicht aufgeben wollen. Als auf Kommunikation beruhende Systeme haben Kinderschutzorganisationen aber keine Stabilität, verfügen sie nicht über perfekte rationale Entscheidungsmechanismen, läuft nichts wie am Schnürchen, sind sie gewissermaßen keine Trivialmaschinen sondern lebende Systeme, so sehr sie als bürokratische Organisationen auch auf Regelung und „neue Steuerung“ hin angelegt sein mögen. Luhmann lakonisch: „Bürokratisches Verhalten ist in extremem Maße risikoavers, das ist bekannt.“ (14)

Dies wird allerdings inzwischen zunehmend als problematisch angesehen und darum propagiert man größere Risikobereitschaft oder man leistet sich einen Organisationsberater oder Coach, der als unbeteiligter Dritter multiperspektivisches Sehen, die Beobachtung der Beobachter anregt, um negative Folgen nicht gesehener oder bedachter Risiken minimieren zu können. Denn ausschließen kann man sie keineswegs, weder im eigenen System noch in der familialen Lebenswelt – den Mikrosystemen – an die Kinderschutzsysteme ankoppeln und in die sie hineinwirken wollen, um das Kindeswohl zu sichern. Das ist jedoch einfacher gesagt als getan, wie Praxiserfahrungen und Forschung zeigen.

3. Kinderschutzrisiken / Kinderschutzfehler – Messages from research
Obwohl es im Kinderschutz zentral um Kindeswohlgefährdung – also um Risiken und Gefahren in der Entwicklung von Kindern – geht, sind Kinderschutzrisiken und dabei systembedingt auftauchende Fehler bisher nur am Rande Ernst genommen und kritisch untersucht worden, mangelt es in der Kinderschutzarbeit an reflexiver Selbstbeobachtung und systematischer Praxisprozessforschung, nicht zuletzt an kontinuierlicher Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung. Immerhin aber gibt es - vor allem in Großbritannien – erste Ansätze, die Selbstblindheit des Kinderschutzsystems zu überwinden. (15) Was man aus diesen Forschungen sowie aus der eigenen jahrelangen Praxisbeobachtung lernen kann, lässt sich wie folgt systematisieren:

Die Ursachen dafür, dass Kinderschutzrisiken sich häufen oder zu folgenreichen Fehlentscheidungen (zu Kinderschutzfehlern) führen, sind vielfältig. Gefährlich wird es immer dann, wenn mehrere Problemlagen / Gefährdungen zusammen kommen, gehäuft auftreten, aber von den Trägern / Organisationen der Kinderschutzarbeit übersehen (ignoriert), nicht von allen Seiten angeschaut und nicht im offenen Dialog mit allen am Prozess Beteiligten reflektiert werden. (16) Die folgenden Problemlagen / Gefährdungen spielen in der Kinderschutzarbeit eine Rolle:

  1. Die risikogefährdete Kinderschutzorganisation ist in ihren Beobachtungen auf Außenbeobachtungen (z. B. die Familie oder Kinder) festgelegt und invisibilisiert sich dabei selbst, wird sie - ohne Selbstbeobachtung / ohne reflexive Verwissenschaftlichung ihrer eigenen Praxis – als Organisation zu ihrem eigenen blinden Fleck.
     
  2. Die risikogefährdete Kinderschutzorganisation ist programmatisch diffus (weiß nicht, was ihre Aufgabe ist, kennt die nach Lage der Dinge guten oder besten professionellen Strategien und Programme nicht und kann sie darum auch nicht nutzen) (17) und es fehlt ihr das notwendige methodische Können, Misshandlungen und Vernachlässigungen zu verhüten und gefährdete Kinder und deren Familien zu schützen und zu unterstützen, verfügt sie nicht oder nicht in ausreichendem Maße über die „insoweit erfahrenen Fachkräfte“ – wie sie nun nach § 8a SGB VIII verlangt werden.
     
  3. Die riskogefährdete Kinderschutzorganisation kennzeichnet eine vordemokratische, autoritäre Organisationskultur, mit aversivem Bias gegen Unterschichten und marginalisierte Minderheiten, mit steilen Hierarchien, defensiver Regelungsdichte und eklatanten Kommunikationsblockaden nach innen und außen, die eine sichere und optimistische Berufsrolleneinstellung und eine von gegenseitiger Anerkennung getragene Identifikation der Fachkräfte mit der eigenen Organisation erschweren.
     
  4. Die risikogefährdete Kinderschutzorganisation ist aufgrund der in Mode gekommenen Kürzungen der Jugendhilfeetats, die das Leistungsangebot gefährden, in ihren Handlungsmöglichkeiten trotz gewachsenem Hilfebedarf eingeschränkt, was immer wieder zu Dauerbelastungen und Stress (mit der Folge eines Ausbrennens) führt, die von vielen Fachkräften gerade der öffentlichen Jugendhilfe kaum noch verkraftet werden können. (18)
     
  5. Die risikogefährdete Kinderschutzorganisation mobilisiert Fremdmeldungen,  anstatt die freiwillige Hilfenachfrage zu ermutigen, zu stützen und attraktiv zu machen. Sie wird auf diese Weise selbst zu einer unfreiwilligen, reaktiven Organisation, die sich mit Fremdsichten konfrontiert sieht, die die eigenen Bobachtungs- und Entscheidungsmöglichkeiten schnell überlagern, nicht zuletzt, weil sie häufig verbunden werden mit einer bedrängenden Aufgabendelegation von anderen Einrichtungen (des Bildungs- und Gesundheitswesens oder auch der Justiz), denen man statusmäßig unterlegen zu sein glaubt.
     
  6. Die risikogefährdete Kinderschutzorganisation scheitert an Abwehr und Widerstand der mutmaßlichen oder tatsächlichen Mißhandler, die aus Angst und Erfahrung skeptisch gegenüber dem Hilfeangebot der Kinderschutzfachkräfte sind, die dann ihrerseits enttäuscht leicht gegenübertragungsmäßig aggressiv werden und deswegen mit den Menschen in kindeswohlgefährdenden Situationen nicht in Kontakt kommen, nicht an sie herankommen und dann auch kein tragfähiges Arbeitsbündnis zustande bringen. Auf diese Weise wird Kinderschutz zu einer Aktion ohne Klienten / ohne Hilfeteilnehmer, verfehlt sie das Partizipations- und Kooperationsgebot des SBG VIII.
     
  7. Die risikogefährdete Kinderschutzorganisation setzt auf einseitige, affirmative Problemkonstruktionen (auf unidirektionale Beobachtungen erster Ordnung) und verlässt sich auf nicht-diskursive, pseudo-objektivistische Diagnose- und Anamnesetechnologien und überschätzt formalisierte Risikoeinschätzraster und –skalen, anstatt relativistische, multiperspektivische, systemische Sichtweisen und dialogisches Verstehen zu fördern. Mit einem dergestalt zementiertem Außenstandpunkt kommt es leicht zu einem Machtkampf um die „richtige“ Sicht und eine mehrseitige Problemerforschung wird verfehlt.
     
  8. Die risikogefährdete Kinderschutzorganisation ist programmatisch, methodisch und überhaupt in ihren kommunikativen Abläufen zu starr und festgelegt. D.h. sie ist nicht fehlerfreundlich sondern fehler- und risikoscheu. Sie kennt keine Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung und wagt daher auch nicht, kreativ und experimentell immer wieder ganz neu anzusetzen. Sie kann deswegen nicht zu einer lernenden Organisation werden, die sich sensibel auf die das ganze Handlungsfeld bestimmende Ungewissheit und Unsicherheit einstellt und das Unerwartete kompetent und aufmerksam zu managen in der Lage ist.

3. Kinderschutz und Demokratie – Chancen und Möglichkeiten
Risikogefährdete Kinderschutzorganisationen haben jedoch immer auch die Chance, die Gefahren und Probleme, die sie als Organisation bedrohen, ins Auge zu fassen und anzugehen, zumal wenn sie die Möglichkeiten strategisch und programmatisch nutzen, die mit der Demokratie und im demokratischen Rechtsstaat gegeben sind, was allerdings überraschenderweise bisher kaum gesehen worden ist. Denn in der Kinderschutzarbeit werden bisher Praxis- und Programmfragen ohne jeglichen Bezug zur Demokratie diskutiert. Über demokratische Kinderschutzarbeit wird faktisch nicht nachgedacht, nicht geforscht, nicht diskutiert und nicht publiziert. Demokratie ist im Kinderschutz einfach kein Thema! Weder in Deutschland, noch im Ausland. (19) Die meisten Kinderschutzfachkräfte ignorieren sie völlig und phantasieren lieber autoritäre Konzepte der Bevölkerungskontrolle von oben. Anstatt aber auf eine „vorbeugende Verstopfung von Gefahrenquellen“ zu setzen oder den „Feindrechtsstaat“ zum vorbeugenden Gefahrencontainment drohender Risiken auszurufen, (20) könnten sich Jugendhilfe insgesamt und Kinderschutz insbesondere am Konzept entwickelter Demokratie orientieren. (21)

Kinderschutz in der Demokratie würde dann grundsätzlich davon ausgehen, dass hier freie Bürgerinnen und Bürger mit unaufgebbaren Rechten und Pflichten Fachleuten der öffentlichen und freigemeinnützigen Jugendhilfe begegnen. Diese Fachleute haben allerdings ebenfalls unaufgebbare Rechten und Pflichten (sie stehen also nicht mit Vorrechten und Sonderrollen zum gesellschaftlichen Containment von Gefahrenherden vor den „Klientobjekten“). Sondern sie haben die ehrenwerte Aufgabe, Eltern und Kinder davor zu schützen, in und an Gewalt zu scheitern und dergestalt das Wohl und die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen zu fördern. Dafür können sie mit Recht Anerkennung erwarten.

Im modernen demokratischen Rechtsstaat begegnen sich im Hilfeprozess grundsätzlich Gleichberechtigte, wie auch immer konfliktreich sich die jeweilige Situation darstellen und wie sehr sie auch immer durch Ungleichheiten, Interessen- und Machtunterschiede geprägt sein mag. Kinderschutz ist insofern eingebunden in die jeweils geltenden spezifischen politischen Herrschaftsverhältnisse: In der entwickelten Demokratie muss Kinderschutz darum zu einem Dispositiv demokratischer Macht werden. Damit wird Gegenseitigkeit (Partnerschaft) und Überwindung der Einseitigkeit zum Grundprinzip moderner Kinderschutzarbeit, die nunmehr seit etwa 100 Jahren eine spezifische professionelle Problemreaktion auf gesellschaftliche Umbrüche in den Produktions- und Reproduktionsverhältnissen, insbesondere von Familie und Kindheit darstellt.

Kinderschutz ist dabei immer auch ein wichtiger Motor der programmatischen, methodischen und organisationellen Herausbildung des modernen professionellen Hilfesystems gewesen. Allerdings muss Kinderschutz, traditionell tief verankert in vordemokratischen Kinderrettungsbewegungen und aggressiven Täterausgrenzungskampagnen und aktuell fasziniert von neo-imperialen Überwachungsstaatskonzepten, nun endlich (am Beginn des 21. Jahrhunderts) tatsächlich in der Demokratie ankommen.

Wenn wir uns die historische Entwicklung veranschaulichen, können wir einen großen Entwicklungsbogen schlagen: Von der repressiven Verhaltenskontrolle und Exklusion zur Hilfegewährung und Entwicklungsförderung / von der Devianzkontrolle zur Daseinsvorsorge und zum Bedürfnisausgleich / von der Ausbeutung und Deprivation  zur engagierten Förderung sozialer Gerechtigkeit / von der Autokratie zur Demokratie.

Moderner demokratischer Kinderschutz muss daher das Schwanken zwischen Repression und Hilfe / zwischen (inzwischen medial inszenierter) Kinderrettung und Täterverfolgung / zwischen Überwachung und Risikomanagement und dialogischer Verständigung, solidarischer Entwicklungsförderung und engagierter Unterstützung überwinden. Dieses Schwanken lässt sich freilich auch in der gegenwärtigen Diskussion um die neue Familienpolitik und spezifischer über die Folgen der Novellierung des SBG VIII (insbesondere der Einführung des neuen § 8a) beobachten, die ja im wesentlichen eine Klarstellung der rechtlichen Verantwortlichkeit der Fachkräfte im demokratischen Hilfesystem bedeutet, allerdings (wie sich bereits andeutet) - und zwar gegen die Intentionen des Gesetzgebers - erneut zur repressiven Aufrüstung bzw. zu einer instrumentellen Verregelung der Kinderschutzarbeit mit expertokratischer Eingriffs- und Überwachungstendenz benutzt wird.

Chancenreicher wäre,

  1. strategisch auf die Intensivierung einer dialogischen und partizipative Öffnung des Hilfesystems und ihre fachliche Qualifizierung zu setzen, um eine neue Feinfühligkeit und Selbstreflexivität zu ermöglichen, die Eltern und Kindern wie Fachkräften gut tut. Das hieße überhaupt, durchgängig andere Formenkalkülen zu entwickeln (s. Abbildung 1) und sie in der Kinderschutzarbeit ebenso wie in der Jugendhilfe und Sozialen Arbeit insgesamt als strategische Leitwerte zu nutzen, um unsere strategischen Visionen, die unsere berufliche Arbeit als Kinderschutzfachleute orientieren, deutlich werden zu lassen. Es geht also darum, uns als Fachleute um einen solidarischen Umgang gerade mit schwierigen, komplizierten Menschen in zugespitzten Konflikten und in komplexen, bedrohlichen gesellschaftlichen und lebensgeschichtlichen Situationen zu bemühen, die „linke“ Seite der hier aufgefächerten Kalküle der Form stark zu machen:

Kalküle der Form

  • Feinfühligkeit/Zartheit
  • Kontaktaufnahme
  • Dialog
  • Verständigung
  • Erfindung
  • Experiment
  • Großzügigkeit
  • Hilfe/Unterstützung
  • Talking the walk
  • Gefühllosigkeit/Grobheit
  • Intervention
  • Monolog
  • Ermittlung
  • Anwendung
  • Festgelegter Ablauf
  • Geiz
  • Repression/Kontrolle
  • Walking the talk

  1. Kinderschutz und Jugendhilfe insgesamt eindeutig auf Hilfe mit mehrseitigem konzeptuellen Bezug auszurichten, also tatsächlich auf Partnerschaft und dialogische Offenheit zu setzen, wie sie ja bereits im § 8a SGB VIII angelegt sind. Mehrseitige Hilfesettings, in denen Eltern mit Fachleuten als Partner zusammenarbeiten, sind, wie wir mit den neuen Programmen des dialogischen Elterncoachings des Kronberger Kreises für Qualitätsentwicklung haben zeigen können, (22) wesentlich produktiver, als allein mit den Familien und vor allem nur mit den Müttern zu arbeiten oder etwa nur den Kindern zu helfen.
     
  2. Schließlich gilt es, unsere fachliche Kompetenz in der diagnostischen Wahrnehmung von Misshandlungssituationen und von Kindeswohlgefährdungen zu schärfen. Dabei geht es im Kern um multiperspektivische Anamnese- und dialogische Problemkonstruktionskonzepte, die ressourcen- und lösungsorientiert sind. D.h. man muss wissen, dass man von außen allein Kindeswohlgefährdungen in der Familie wie in Einrichtungen nicht diagnostizieren kann. Man muss schon Kontakt aufnehmen und in den Dialog gehen. Vieles weiß man sonst nur vom „Hören-Sagen“ oder aus einer einseitigen „Außenperspektive“. Risiken kann man einschätzen, wenn man in verschiedene Richtungen schaut, messen kann man sie nicht. Warnsysteme oder sogar „Frühwarnsysteme“ sind technologische Phantasmen. Kritische Anamnesen, umfassendes Fallverstehen sind vom Dialog abhängig.
     
  3. Überhaupt ist es produktiv, in Kinderschutzorganisationen kontinuierlichem Lernen zur Erweiterung des fachlichen Wissens und Könnens (professional mastery) – von Leitungskräften und Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern - einen wichtigen Platz einzuräumen, was eine wesentliche Forderung für die Weiterentwicklung demokratischer Kinderschutzpraxis darstellt, wie in Deutschland nun auch durch die Präzisierungen im KJHG unterstrichen worden ist, dass wir nämlich im Kinderschutz „insoweit erfahrene Fachkräfte“ brauchen. Aufgrund des neuen § 8a SGB VIII haben die Leitungskräfte in der Jugendhilfe nun die Aufgabe sicherzustellen, dass diejenigen, die in Garantenrollen sind, diese Rolle auch wirklich wahrnehmen und wahrnehmen können. Das große Problem des sozialen Hilfesystems in Deutschland ist allerdings, dass die Leitungskräfte, die das sicherstellen sollen, fachlich dazu oft nicht in der Lage sind, vor allem oft nicht dazu, ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter qualifiziert fachlich anzuleiten und zu stützen. Das ist nicht überall so, aber es ist nach wie vor immer noch eine beunruhigende Tendenz im gesamten Jugendhilfesystem. Bei einigen öffentlichen und freigemeinnützigen Trägern gibt es jedoch inzwischen Professionelle, die die Aufgaben der „insofern erfahrenen Kinderschutzfachkräfte“ wahrnehmen können. Um aber eine breite Kompetenzerweiterung zu erzielen (denn Kinderschutz ist und bleibt eine Kernaufgabe der Jugendhilfe), muss man wirklich ernsthaft eine systematische und flächendeckende Weiterbildung von Kinderschutz- und Kriseninterventionsfachleuten ins Werk setzen und die dafür nötigen Mittel auch bereitstellen.
     
  4. Wir brauchen schließlich eine kritische Praxisforschung und organisationelles Lernen im Team, in der gesamten Einrichtung und im gesamten Feld (reflection-in-action / reflection-on-action). Wir brauchen ebenso eine kontinuierliche Praxisdokumentation und Evaluation der Ergebnisse vor allem aber die Entwicklung und Nutzung eines konkreten Qualitätssicherungssystems (mit kontinuierlicher Fehlerkontrolle, um das Unerwartete managen zu können). Während es in England bereits in diesem Zusammenhang eine jahrzehntelange Tradition des Social Services Inspectorate gibt, fehlen in Deutschland organisierte Qualitätssicherungssysteme völlig. Auch die Landesjugendämter nehmen diese Funktion leider nicht wahr, wie es überhaupt eine sorgfältige Fachaufsicht in der Regel hierzulande nicht gibt. Für jedes Jugendamt müsste es aber ein eigenes Qualitätssicherungsverfahren geben. In Anbetracht dieser Situation kann es daher auch nicht überraschen, dass in Deutschland bisher keiner der tödlichen Kindesmißhandlungs- oder Vernachlässigungsfälle durch überregionale Qualitätssicherungskommissionen erfahrener Fachleuten aus der Praxis und der Wissenschaft systematisch untersucht worden ist, wie es überhaupt in Deutschland an einer empirischen mittel- und langfristigen Kinderschutzprozessforschung mangelt. Mit Recht haben darum, führende Kinderschutzfachleute in ihrer „Ulmer Erklärung“ 2006 gefordert, sie nun endlich auf breiter Front in Gang zu setzen und zu fördern.

Wenn wir so ansetzen, gelingt uns eine neue Art des Sehens (23):

  • Das Sehen sehen (seeing the seeing),
  • Vom inneren Selbst her sehen (seeing from the inner self),
  • Mit dem Herzen sehen (seeing with the heart),
  • Vom Ganzen her sehen (seeing from the whole),
  • Das Ungesehene sehen (seeing the unseen),
  • Neues sehen und erproben (seeing and creating innovations).

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Anm. & Literatur

1 Wolff, Reinhart (1975): Kindesmißhandlung und ihre Ursachen. In: Bast, H. / Bernecker, A. / Kastien, I. / Schmitt, G. (Hg.): Gewalt gegen Kinder. Kindesmißhandlungen und ihre Ursachen. Reinbek. b. Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag. S. 18 bzw. 21.

2 Zu deren organisatorischem Zentrum im Lauf der Jahre die 1976 gegründete „International Society for Prevention of Child Abuse and Neglect“ (ISPCAN) und wissenschaftlicher Plattform „Child Abuse and Neglect – The International Journal“ wurden.

3  Bzw. „erregter Aufklärung“, wie Katharina Rutschky in ihrem Buch (1992): Erregte Aufklärung. Kindesmissbrauch: Fakten & Fiktionen. Hamburg: KleinVerlag kritisch herausarbeitete.

4 Die Herausbildung des modernen Kinderschutzes - mit dem weiten Entwicklungsbogen von der Kinderrettungsbewegung zur wohlfahrtsstaatlichen Daseinsvorsorge und Konfliktbearbeitung bis hin zum heutigen Risikomanagement ist historiographisch vor allem im englisch-amerikanischen Raum umfangreicher untersucht worden, während in Deutschland in dieser Hinsicht noch ein erheblicher Forschungsbedarf besteht.  Vgl. insbesondere: Nelson, Barbara (1984): Making an Issue of Child Abuse. Chicago: Univ. of Chicago Press. / Gusfield, Joseph R. (1963, 1986): Symbolic Crusade. Status Politics and the American Temperance Movement. Urbana and Chicago: University of Illinois Press. / Platt, Anthony M. (1969, 1977): The Child Savers – The Invention of Delinquency. Chicago and London: University of Chicago Press. / Parton, Nigel (1985): The Politics of Child Abuse. Houndmills, Basingstoke (Hampshire) and London: Macmillan Publishers. / Costin, Lela B., Karger, Howard, Jacob and Stoesz, David (1996): The Politics of Child Abuse in America. New York and Oxford: Oxford University Press. / Lindsey, Duncan (1994): The Welfare of Children. New York and Oxford: Oxford University Press / Zur vergleichenden Sicht auf die aktuelle Situation der Kinderschutzsysteme siehe insbesondere: Gilbert, Neil (Ed.) (1997): Combatting Child Abuses. International Perspectives and Trends. New York and Oxford. Oxford University Press und: Grevot, Alain (2001): Voyage en protection de l’enfance. Une comparaison européenne. Paris : Ministère de La Justice (CNFE-PJJ).

5 Wendt, Wolf Rainer (1995): Geschichte der Sozialen Arbeit. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag (4. neu bearb. Auflage). S.98

6 a.a.O., S. 107

7 So der Titel des die Wende markierenden soziologischen Werkes: Beck, Ulrich (1986): Die Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

8 Beck, Ulrich (2001): Eigenes Leben in einer entfesselten Welt: Individualisierung, Globalisierung und Politik. In: Hutton, Will / Giddens, Anthony (Hg.) (2001): Die Zukunft des globalen Kapitalismus. Frankfurt; New York: Campus Verlag, S. 197 – 212.

9 A a. O., S. 100 und S. 208.

10 Luhmann, Nilklas (1991): Soziologie des Risikos. Berlin; New York: Walter de Gruyter, S. 30 f.

11 Beck, Ulrich (1986): Die Risikogesellschaft: Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Vgl. auch: Giddens, Anthony (1991): Modernity and Self-Identity: Self and Society in the late Modern Age. Cambridge: Polity Press, insbes. S. 119: „reflexive monitoring of risk is intrinsic to institutionalised risk systems“ (ein reflexives Risiko-Monitoring ist wesentlich für institutionalisierte Risiko-Systeme).

12 Parton, Nigel / Thorpe, David / Wattam, Corinne (1997): Houndmills, Basingstoke (Hampshire) and London: Macmillan Press

13 a.a.O, S. 238

14 a.a.O, S. 204 mit anschaulichen Konkretionen.

15 Vgl. zur Fehlerproblematik in der Kinderschutzarbeit insbesondere:
Department of Health (Dartington Social Research Group) (1995): Child Protection. Messages from Research. London: HMSO. Es handelt sich dabei um eine Zusammenfassung einer ganzen Reihe vom englischen Gesundheitsministerium initiierter Forschungsprojekte, die in Reaktion auf eine Kette von „Kinderschutzkatastrophen“ im englischen Jugendhilfesystem durchgeführt wurden, im einzelnen: Cleaver, Heddy / Freeman, Pam (1995): Parental Perspectives in Cases of Suspected Child Abuse. / Farmer, Elaine / Owen, Morag (1995): Child Protection Practice: Private Risks and Public Remedies. /Ghate, Deborah / Spencer, Liz (1995): The Prevalence of Child Sexual Abuse in Britain. / Gibbons, Jane / Gallagher, Bernard / Bell, Carline / Gordon, David (1995): Development After Physical Child Abuse in Early Childhood: A Follow-Up Study of Children on Protection Registers. / Hallett, Christine (1995): Inter-agency Coordination in Child Protection. / Birchall, Elizabeth / Hallett, Christine (1995): Working Togerther in Child Protection. / Thoburn, June / Lewis, Ann / Shemmings, David (1995): Paternalism or Partnership? Family Involvement in the Child Protection Process. / Gibbons, Jane / Conroy, June / Bell, Caroline (1995): Operating the Child Protection System.
Deegener, Günther (1997): Probleme und Irrwege in der Diagnostik und Therapie von sexuellem Missbrauch. In: Amman, G u.a. (Hg.): Sexueller Mißbrauch. Überblick zu Forschung, Beratung und Therapie. Ein Handbuch. Tübingen: dgvt, S. 416-435.
Fegert, Jörg M. (1993): Kinderpsychiatrische Begutachtung und die Debatte um den Mißbrauch mit dem Mißbrauch. Verfälschungsgründe, Irrtumsrisiken und eine Phänomenologie sog. „Falschaussagen“. In: Scherl, M. / Wohlatz, S. (Hg.): Sexuelle Gewalt an Kindern. Tagungsdokumentation. Wien: BMfJustiz, S. 61-85.
Howitt, Dennis (1993): Child Abuse Errors. When Good Intentions Go Wrong. New Brunswick, N.J.: Rutgers University Press. 
Jones, David P. (1991): Professional and Clinical Challenges to Protection of Children. In: Child Abuse & Neglect. Vol.15, Sup.I, S. 57-66. 
Marneffe, Catherine (1996): Child Abuse Treatment: A Fallow Land. In: Child Abuses & Neglect. 20, S. 379-384.
Munroe, Eileen (1996): Avoidable and Unavoidable Mistakes in Child protection Work. In: Br. J. Social Work. vol. 26, S. 793-808.
Nixon, C. T. / Northrup, D. A. (Eds.) (1997): Evaluating Mental Health Services. How Do Programs for Children “Work” in the Real World? London: Sage.
Pelton, Leroy H. (1989): For Reasons of Poverty. A Critical Analysis of the Public Child Welfare System in the United States. New York; Westport; London: Praeger.
Runyan, D. K. et al. (1994): The intervention Stressors Inventory. A Mesure of the Stress of Intervention for Sexually Abused Children. In: Child Abuse & Neglect. 18. S.319-329.
Rutschky, Katharina / Wolff, Reinhart (19992): Handbuch Sexueller Mißbrauch. Reinbek b. Hamburg: Rowohlt.
Schmitt, Alain (1999): Sekundäre Traumatisierungen im Kinderschutz. In: Prax. Kinderpsychol. Kinderpsychiat. 48, S. 411-421. 
Weick, Karl E. / Sutcliffe, Kathleen M. (2003): Das Unerwartete managen. Wie Unternehmen aus Extremsituationen lernen. Stuttgart: Klett-Cotta.
Wolff, Reinhart (2002): «Aus Fehlern lernen». Berliner Standard zur Qualitätssicherung in der Kinderschutzarbeit im Jugendamt. Beitrag auf der Expertentagung „Kindeswohlgefährdung“ am 14. Februar 2002 im Dt. Jugendinstitut in München.
Wolff, Reinhart (1997): Kinderschutz auf dem Prüfstand. Überlegungen zur Notwendigkeit von Qualitätssicherung. Mainz: Kinderschutzzentrum Mainz [Sternschnuppe 5]

16 In der aktuellen Diskussion – insbesondere der Medien – über die Todesfälle misshandelter und vernachlässigter Kinder und ob die zuständigen Jugendämter und involvierten Jugendhilfeeinrichtungen eine Mitschuld trifft, fällt eine Vereinseitigung in der Erörterung des zumeist komplexen Problemfeldes auf, werden eher einzelnen Fachkräften Entscheidungsfehler zugerechnet, anstatt die (inter-)organisationalen Strukturen in ihrer Verbindung / Verwicklung mit den betroffenen Familiensystemen und deren Umfeld in den Blick zu nehmen.

17 Wie z. B. den „Dormagener Qualitätskatalog der Jugendhilfe“, hg. von der Stadt Dormagen (2001). Opladen: Leske + Budrich oder auch das DJI-Handbuch: Kindler, Heinz / Lillig, Susanne / Blüml, Herbert / Meysen, Thomas / Werner, Annegret (Hg.) (2006): Handbuch Kindeswohlgefährdung nach § 166 BGB und Allgemeiner Sozialdienst (ASD). München: DJI (auch elektronisch verfügbar: www.dji.de/asd/handbuch.htm).

18 Wie z. B. – wie im Bremer Jugendamt - ein einziger Amtsvormund bei über 300 Mündel die sorgerechtliche Verantwortung fachgerecht wahrnehmen soll, ist schwer vorstellbar.

19 Eine Suche im Internet und in Online-Katalogen von führenden Weltbibliotheken (Library of Congress, Deutsche Bibliothek, Deutsche Staatsbibliothek) ergab im Sommer 2006 das folgende ernüchternde Ergebnis: Die Stichworte: Demokratischer Kinderschutz / Kinderschutz in der Demokratie / Democratic Child Protection / Child Protection in a Democratic Society / Democratic Child Welfare / Democracy and Child Protection / Child Welfare & Democracy / Child Welfare in a Democratic Society ergaben immer dieselbe Antwort: Es wurden keine mit Ihrer Suchanfrage übereinstimmenden Dokumente gefunden / No records were found for the search! (Datum 21.06.2006)
Nur zwei Suchaktionen mit der Suchmaschine Google waren erfolgreich: Sie verweisen auf zwei Altmeister demokratischer Erziehung und Sozialarbeit: Heinrich Kupffer und Hans Thiersch. Der einzigen Aufsatz (weltweit) von Heinrich Kupffer zum demokratischen Kinderschutz hat den Titel:“. Er schlägt im Übrigen eine kritische Auseinandersetzung mit den eilfertigen Risikomanagern und Präventionsspezialisten vor. Der zweite Hinweis bezieht sich auf einen Beitrag von Hans Thiersch, dem Begründer der lebensweltorientierten Sozialarbeit und dem Senior der deutschen Sozialarbeitsforschung, der die Frage nach der Demokratie in der Jugendhilfe stellt. Er lautet: Wie geht‘s weiter? Thierschs zentraler Satz kann als konzeptuelle Orientierung auch für diese Tagung gelten: „Die Diskussion über die Zukunft der Jugendhilfe darf also nicht geführt werden ohne die komplementäre Diskussion zur Position der Jugendhilfe in der Demokratie.“ (S. 14) Vgl.: Kupffer, Heinrich (1991): Prävention ohne kontrollierende Gewalt? Demokratischer Kinderschutz auf dem Prüfstand. In: Kinderschutz aktuell. 1/1991, S. 4 -6. / bzw.: Thiersch, Hans (2006): Vortrag auf der Bonner Tagung im Dezember 1999 „Mehr Chancen für Kinder und Jugendliche – Stand und Perspektiven der Jugendhilfe in Deutschland“ / www.google.de/search, 21.06.2006

20 vgl. Thomas Uwer (Hg.): Bitte bewahren Sie Ruhe – Leben im Feindrechtsstaat, Berlin 2006

21 Hier wäre ein ausführliche Bezugnahme auf die klassische und in der Sozialen Arbeit viel zu wenig rezipierten und beachteten Studie von John Dewey (1916): Democracy and Education angebracht, was aber wegen des beschränkten Raums hier nicht möglich ist. Vgl. aber unseren Beitrag: Krause, Hans-Ullrich / Wolff, Reinhart (2006): Erziehung und Hilfeplanung: Über den untauglichen Versuch, Erziehungsprozesse gedankenlos zu rationalisieren. In: Sozialpädagogisches Institut im SOS-Kinderdorf e.V. (Hg.):  Hilfeplanung – reine Formsache? München: SOS-Kinderdorf. E.V., S. 44 -62.

22 Vgl. die Programme des Kronberger Kreises für Qualitätsentwicklung e. V. im Landkreis Borken (Westf.) und in Berlin Marzahn-Hellersdorf. Informationen über: reinhartwolff@hotmail.com

23 nach: Peter Senge / C. Otto Scharmer / Joseph Jaworski / Betty Sue Flowers (2004): Presence. Human Purpose and Field of the Future. Cambridge, MA: SoL. Vgl. im Weiteren: Vgl. Die neuen Konzepte des Kronberger Kreises für Qualitätsentwicklung: der Elternuniversität und Familiennetzwerkarbeit in Hoyerswerda / bzw. die Dialogischen Elterncoaching + Konfliktmanagement-Programme in Borken (Westfalen) und in Berlin Marzahn-Hellersdorf Vgl. auch: Kinderschutz-Zentrum Berlin (Hrsg.): Kindeswohlgefährdung. In-Beziehung-Kommen bei schwierigen Familienkonflikten. Berlin: Eigenverlag, 2006, darin insbesondere: Kohaupt, Georg: Hurry Slowly! Oder: Was man nicht kann erfliegen, muss man erhinken. S. 22 – 34. / Briar-Lawson, Katharine (19989: Capacity Building for Integrated Family-Centered Practice. In: Social Work. Vol. 43, No. 6 (Nov. 1998), S. 539 - 550 und: Hooper-Briar, K. / Lawson, H. (eds.) (1996): Expanding Partnerships for Vulnerable Children, Youth and Families. Alexandria,VA: Council on Social Work Education,: / Wynn, J. / Costello, J. / Halpern, R. & Richman, H. (1994): Children, Families and Communities: A New Approach to Social Services. Chicago: Chicago Univ. Press. / Nancy Freymond / Gary Cameron (Eds.) (2006): Towards Positive Systems of Child and Family Welfare. Toronto, Buffalo, London: Univ. of Toronto Press.

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Der Autor, Prof. für Sozialarbeit u. Sozialpädagogik an der Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin und Sprecher des Kronberger Kreises für Qualitätsentwicklung e. V., hat erste Überlegungen zu diesem Beitrag auf der Fachtagung des Vereins für Kommunalwissenschaften »Kinderschutz gemeinsam gestalten. § 8a SFB VIII – Schutzauftrag der Kinder- und Jugendhilfe« am 22. und 23. Juni 2006 in Berlin vorgetragen.

s.a. Zukunft des Kinderschutzes - Ein Kommentar zu Reinhart Wolff (von Heinz Kindler)

 

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