FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2004

 


Markus A. Landolt

Psychotraumatologie des Kindesalters

Hogrefe, Göttingen 2004
 (130 Seiten, 25 Euro)


Dr. Markus Landolt ist Kinder- und Jugendpsychologe und als Oberassistent im Kinderspital der Universität Zürich tätig. Erfahrungen mit akut traumatisierten Kindern hat er besonders durch seine Arbeit im Zentrum für brandverletzte Kinder.

In der Einleitung erläutert er den Aufbau seines Buches:
„Im Folgenden wird ein Überblick über den heutigen Stand des Wissens im Bereich der Kinderpsychotraumatologie gegeben. In Kapitel 2 wird zunächst auf die geschichtlichen Hintergründe eingegangen, um anschließend die Klassifikation (Kapite13) und Diagnostik (Kapitel 4) posttraumatischer psychischer Störungen darzustellen. In der Folge werden Informationen zur Epidemiologie (Kapitel 5), zur Ätiopathogenese (Kapitel 6) sowie zu den biologischen Grundlagen und Folgen (Kapitel 7) psychotraumatischer Störungen gegeben. Ausführlich werden sodann sekundär-präventive Maßnahmen vorgestellt, welche der Entwicklung posttraumatischer Störungen entgegenwirken sollen (Kapitel 8). In Kapitel 9 wird anschließend ein Überblick über verschiedene Behandlungsmöglichkeiten gegeben. Bevor abschließend in Kapitel 11 eine Zusammenfassung erfolgt, wird noch auf die Möglichkeit positiver Auswirkungen psychotraumatischer Ereignisse eingegangen und der diesbezügliche Forschungsstand präsentiert (Kapitel l0).“ (S. 13)

Der Autor betont die ausschlaggebende Relevanz des sozialen Umfeldes:
„Eine große Bedeutung in der Traumabewältigung kommt naturgemäß den Eltern zu, welche bis zum Jugendalter in der Regel die nächsten Bezugspersonen des Kindes sind. Kinder, welche von ihren Eltern sozial gut unterstützt werden, entwickeln weniger Störungen (Yule, 1992b). Allgemeine psychopathologische Auffälligkeiten (Green et al., 1991;McFarlane, 1987) und vor allem die Präsenz posttraumatischer psychischer Auffälligkeiten bei den Eltern erhöhen das Krankheitsrisiko bei den Kindern (De Vries et al., 1999). Kinder aus Familien mit konflikthaftem Klima und wenig Offenheit und Zusammenhalt leiden nachgewiesenermaßen häufiger an einer posttraumatischen Belastungsstörung (Pelcovitz et al., 1998). Die Bedeutung elterlicher Bewertungsprozesse für die Entstehung und den Verlauf posttraumatischer psychischer Reaktionen ihrer Kinder wurde von Stuber et al. (1997) nachgewiesen. (S. 61)

Zu den biologischen Aspekten bringt er folgendes Fazit:
„Die Forschung zu den biologischen Veränderungen bei posttraumatischen psychischen Störungen befindet sich  insbesondere bei Kindern  nach wie vor im Anfangsstadium und ist zudem mit verschiedenen methodischen Mängeln behaftet. Die Interpretation der vorhandenen Befunde muss deshalb mit Vorsicht erfolgen. Auf Grund der gegenwärtigen Befundlage stellt sich beispielsweise die Frage, ob die beschriebenen psychobiologischen Dysregulationen wie der relative Hypocortisolismus mit einer erhöhten Feedbacksensitivität der HHNA, die erhöhte noradrenerge Aktivität sowie die Hinweise auf neuroanatomische Veränderungen spezifisch für die posttraumatische Belastungsstörung sind (Ehlert et al., 1999). Die gegenwärtig verfügbaren Studien lassen keinen endgültigen Schluss zu, auch wenn sich doch Hinweise ergeben, dass der Hypocortisolismus wahrscheinlich spezifisch für die posttraumatische Belastungsstörung ist und beispielsweise bei der Depression nicht beobachtet werden kann.
   Unklar ist zum jetzigen Zeitpunkt weiter auch die Frage, ob die beobachteten neuroanatomischen Veränderungen wie beispielsweise ein reduziertes Hippocampusvolumen die Folge eines Traumas und der damit zusammenhängenden neuroendokrinen Antwort sind, oder ob sie bereits prätraumatisch vorhanden sind und damit als konstitutioneller Risikofaktor die Vulnerabilität für posttraumatische Störungen erhöhen (Gilbertson et al., 2002).
   Die Klärung der Rolle der neuroanatomischen Veränderungen bei Patienten mit posttraumatischen Belastungsstörungen setzt methodisch differenzierte und aufwändige Studien voraus, in welchen zwischen Ursache und Wirkung unterschieden werden kann.
   Ein weiterer, bisher nicht erwähnter Aspekt betrifft die Auswirkungen psychischer Traumatisierungen auf die Entwicklung körperlicher Krankheiten. Einige Arbeiten aus dem Bereich der Psychoneuroimmunologie beschreiben negative Auswirkungen chronischer posttraumatischer Belastungsstörungen auf das menschliche Immunsystem, welche ebenfalls mit der Dysregulation der HHNA in Verbindung gebracht werden. So fanden verschiedene Studien, dass die posttraumatische Belastungsstörung bei Erwachsenen mit einem erhöhten Risiko für körperliche Krankheiten, insbesondere Infektionen und Erkrankungen des Nervensystems, einhergeht (Boscarino, 1997; Schnurr & Jankowski, 1999; Wagner, Wolfe, Rotnitsky, Proctor & Erickson, 2000).
   Schließlich betonen zwar viele Autoren die besondere neurobiologische Vulnerabilität des kindlichen Organismus in Bezug auf chronischen Stress (Bremner, 2003; Nelson & Carver,1998; Pine, 2003; van der Kolk, 1998). Fundierte prospektive Studien zu diesem Thema liegen hierzu allerdings zum jetzigen Zeitpunkt keine vor, so dass in diesem Bereich noch sehr viel spekuliert werden muss. Es ist zudem unklar, wieweit sich die bei erwachsenen Traumaopfern gewonnenen Befunde auf Kinder übertragen lassen. Es bleibt zu hoffen, dass zukünftig die Erforschung traumabiologischer Fragen bei Kindern intensiviert wird, damit einige dieser Fragen in absehbarer Zeit beantwortet werden können.“ (S. 69/70)

Folgende Empfehlungen gibt Landolt zur Therapie:
„Auf Grund der gegenwärtig noch ungenügenden Forschungslage zur Wirksamkeit psychotherapeutischer Verfahren in der Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen, kann aus evidenzbasierter Sicht zum jetzigen Zeitpunkt lediglich die Anwendung kognitiv-behavioraler Therapieverfahren empfohlen werden. Andere Therapiefonnen wie beispielsweise hypnotherapeutische, spieltherapeutische oder auch familien- und gruppentherapeutische Verfahren sind bisher im Hinblick auf ihre Wirksamkeit nicht systematisch untersucht worden, auch wenn diverse Berichte und Erfahrungen deren Anwendung durchaus legitimieren.
   Die Planung einer Traumatherapie muss auf die individuelle Situation des Kindes oder Jugendlichen Rücksicht nehmen. Das Alter des Kindes, die Art des Traumas, die Art und Intensität der Symptomatik sowie die Qualität des sozialen Umfeldes (Familie) sind dabei von entscheidender Bedeutung. Je älter ein Kind, je umschriebener die Störung und je funktionaler die Familie, desto eher sollte bei einer Typ-l-Traumatisierung eine kognitiv-behaviorale Therapie oder allenfalls auch eine EMDR-Behandlung durchgeführt werden. Dagegen ist bei jüngeren Kindern, solchen mit undifferenzierter Symptomatik oder mit hohem Angstniveau bei traumaspezifischen Reizen eher die Einleitung einer länger dauernden und nicht allein auf das Trauma zentrierten Behandlung angezeigt (z. B. Spieltherapie). Bei Vorliegen komorbider Störungen und multipler Traumata (Typ-2-Trauma) ist häufig die Kombination verschiedener Therapieverfahren, auch unter Einbezug der Pharmakotherapie, zu empfehlen. Ein Einbezug der Eltern und in besonderen Fällen auch der Geschwister sollte in jedem Fall erfolgen.“ (S. 102/103)

In den Schlußbemerkungen kommt der Autor auf die Pathogenese und Biologie zurück:
„Im Gegensatz zur Psychotraumatologie des Erwachsenenalters ist die Theoriebildung zur Entstehung posttraumatischer psychischer Störungen im Kindesalter noch wenig entwickelt. Die Tatsache, dass die Mehrzahl der Kinder nach einem Trauma psychisch gesund bleibt, zeigt deutlich, dass die Präsenz des Traumas alleine nicht ausschlaggebend dafür ist, ob ein Kind eine posttraumatische psychische Störung entwickelt oder nicht. Es gibt eine Vielzahl weiterer Faktoren, die in diesem Zusammenhang eine bedeutende Rolle spielen und protektiv oder pathogenetisch wirken können. In Bezug auf das Kindesalter fehlen zum heutigen Zeitpunkt jedoch sowohl ein empirischer Überblick über die Determinanten posttraumatischer psychischer Reaktionen als auch die Entwicklung von spezifischen Modellen der Traumaadaptation. ....
   Was beispielsweise in der Kinderpsychotraumatologie bis heute weitgehend unterlassen worden ist, ist die Integration von traumabezogenen Kognitionen und Copingprozessen in ein theoretisches Modell. Das in diesem Buch präsentierte transaktionale Belastungsbewältigungsmodell versucht dies zu korrigieren, indem postuliert wird, dass das psychosoziale Befinden eines traumatisierten Kindes durch Merkmale des Traumas, des Kindes und des sozialen Umfeldes bestimmt wird, deren Wirkungen zum Teil durch Bewertungs- und Copingprozesse vermittelt und modifiziert werden. ....
   Systematische neurobiologische Forschung im Bereich der Kinderpsychotraumatologie ist zum heutigen Zeitpunkt noch kaum vorhanden. Dies ist um so erstaunlicher, als die Befunde bei traumatisierten Erwachsenen teilweise dramatische neurobiologische Dysregulationen zeigen und sich praktisch alle Autoren einig sind, dass der kindliche Organismus besonders vulnerabel in Bezug auf chronischen Stress ist (Brernner, 2003; Nelson & Carver. 1998; Pine, 2003; van der Kolk, 1998).“ (S.108/109)

Der letzte Absatz bilanziert die therapeutischen Möglichkeiten:
Im Gegensatz zum Bereich der sekundären Prävention ist die Entwicklung von Behandlungsmodellen posttraumatischer psychischer Störungen im Kindes- und Jugendalter etwas weiter fortgeschritten. Auch wenn die entsprechende Therapieforschung noch in den Anfängen ist, so gibt es doch eine Reihe von Studien, die die Wirksamkeit psychotherapeutischer Interventionen in der Behandlung posttraumatischer Belastungsstörungen zeigen. Am besten untersucht sind zum jetzigen Zeitpunkt kognitiv-behaviorale Behandlungsansätze, die aus evidenzbasierter Sicht die zur Behandlung posttraumatischer Störungen am besten geeigneten psychotherapeutischen Verfahren darstellen. Andere Therapieformen wie beispielsweise hypnotherapeutische, spieltherapeutische oder auch familien- und gruppentherapeutische Verfahren und EMDR sind bisher noch nicht systematisch evaluiert worden, auch wenn klinische Berichte und Erfahrungen ihren Einsatz durchaus legitimieren. (S. 110)

Landolts sehr lesenswerte Monographie profitiert von ihrer ausgewogenen Balance zwischen Biologie und Psychologie, von der betont vorsichtigen empirischen Grundhaltung des Autors und dessen doppelter Verankerung in Wissenschaft und Praxis.

Kurt Eberhard  (Juli, 2004)

 

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