Die Broschüre ist die Dokumentation eines Workshops des Vereins für Kommunalwissenschaften in Kooperation mit der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter am 3. und 4. April 2003 in Berlin. Die Aufgabenstellung des Workshops wird im Vorwort wie folgt umschrieben: „Bei der Vorbereitung dieses Workshops wurde davon ausgegangen, dass es schwierig(st)e Jugendliche gibt, denen (zeitweise) nur mit freiheitsentziehenden Maßnahmen geholfen werden kann. Es sollte genauer hinterfragt werden, wer diese schwierig(st)en Jugendlichen sind, was sie so schwierig macht und mit welcher Biographie sie welche ’Jugendhilfekarriere’ durchlaufen haben. Vor diesem Hintergrund hielt der Verein für Kommunalwissenschaften e. V. einen offensiven Erfahrungsaustausch zwischen Experten der öffentlichen und freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe unter Beteiligung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, der Landesjugendämter als überörtliche Behörden sowie der begleitenden Wissenschaft für angebracht und notwendig. Im Rahmen eines Konsultationsverfahrens wurden von allen Teilnehmenden im Vorfeld des Workshops Thesenpapiere eingefordert und zu einem gemeinsamen Positionspapier verarbeitet, das zu Beginn der Veranstaltung von Landesrat Markus Schnapka vorgestellt wurde. Dieses Konsultationsverfahren vor dem Workshop hatte viele konsensuale Elemente, das heißt, von den Rückmeldungen der hier vertretenen Expertinnen und Experten waren sehr viele Dinge übereinstimmend und konnten sozusagen als Grundlage gesetzt werden. Allerdings gab es auch einige ganz wichtige Aspekte, zu denen gegensätzliche Auffassungen existieren. Der Workshop hatte die Aufgabe, während der zwei Beratungstage zu gemeinsamen Positionen mit empfehlenden Charakter zu kommen. Deshalb wurde das Positionspapier im Verlauf des Workshops um wesentliche Aspekte ergänzt und ist zusammen mit den wichtigsten Statements aus der Abschlussdiskussion am Ende der Dokumentation nachzulesen.“ (S. 5)
Die mitwirkenden Autoren und ihre Beiträge sind aus dem Inhaltsverzeichnis ersichtlich.
Vorwort Landesrat Markus Schnapka Leiter des Landesjugendamtes Rheinland, Köln, und Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter (BAGLJÄ) und Kerstin Landua Leiterin der Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe, Verein für Kommunalwissenschaften e.V., Berlin
Pädagogik im Zwangskontext oder was ist Erziehung? Positionen aus psychologischer Sicht Prof. Dr. Jürgen Körner Psychoanalytiker; Professor für Sozialpädagogik an der Freien Universität Berlin, Vorsitzender der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft
Pädagogik im Zwangskontext oder was ist Erziehung? Zehn Thesen aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive Prof. Dr. Christian Schrapper Professor für Pädagogik und Sozialpädagogik an der Universität Koblenz-Landau
Freiheitsentziehende Maßnahmen: Eingriff in die Rechte des Kindes oder Schutzauftrag der Jugendhilfe? Ministerialrat Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhard Wiesner Leiter des Referates Kinder- und Jugendhilferecht im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Bonn
Organisierte Hilflosigkeit der Jugendhilfe? Analyse der Schwachstellen im System der Jugendhilfe unter Zuhilfenahme von Erfahrungsberichten "seltener Fälle" schwierig(st)er Jugendlicher anhand eines "Erzählrasters"
Für die öffentliche Jugendhilfe: Klüs Völlmecke Leiter der Abteilung Pädagogische und Soziale Dienste des Jugendamtes der Stadt Köln
Für die freie Jugendhilfe: Dr. Ute Projahn Leiterin des Rheinischen Jugendheimes Steinberg, Remscheid
Für die Kinder- und Jugendpsychiatrie: Dr. med. Ursula Kirsch Oberärztin der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Kinder- und Jugendalters der Rheinischen Kliniken Viersen, Nordrhein-Westfalen
Diskussionsergebnisse des Workshops zusammengestellt von Kerstin Landua Leiterin der Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe, Verein für Kommunalwissenschaften eV., Berlin und Landesrat Markus Schnapka Leiter des Landesjugendamtes Rheinland, Köln, Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter
Bei aller Verschiedenheit der drei Hauptreferenten, sind sich der Psychologe und Psychoanalytiker Jürgen Körner, der Pädagoge Christian Schrapper und der Jurist Reinhard Wiesner doch darin einig, daß Erziehung ohne Zwänge illusionär sei und daß es besonders schwierige Kinder oder genauer besonders schwierige situative Konstellationen gäbe, die einen vorübergehenden Freiheitsentzug notwendig und geeignet erscheinen lassen. „Es erscheint an der Zeit, dass die Jugendhilfe sich ihrer Verantwortung für alle Kinder bewusst wird und sich nicht länger hinter rechtlichen Gutachten zu einer Frage versteckt, die gar nicht ihren Verantwortungsbereich betrifft und deren Implikationen zudem anfechtbar sind. Das Recht auf Freizügigkeit ist ein hohes Gut; es rechtfertigt aber nicht, apriori Kindern und Jugendlichen die Einlösung ihres Erziehungsanspruchs zu verweigern. Mit einer generellen Absage an geschlossene Unterbringung nimmt die Jugendhilfe in Kauf, dass eine nicht unwesentliche Zahl von Kindern und Jugendlichen auf der Strecke bleibt und vom gesellschaftlichen Integrationsprozess ausgeschlossen wird. Dass sie mit ihrer Tabuisierung des Themas die Politik nicht davon abhalten kann, geschlossene Unterbringung zu fordern und auch entsprechende Mittel dafür bereit zu stellen, zeigen die aktuellen Ereignisse in Hamburg.“ (S. 44)
In den dann folgenden Beiträgen schützt praxisnahe Kasuistik vor den bei diesem Thema sonst so beliebten ideologischen Entgleisungen. Aus dem Referat der Psychiaterin Ursula Kirsch sollen einige Erkenntnisse zitiert werden, nicht weil die anderen Beiträge weniger interessant sind, sondern weil sich im medizinisch-klinischen Bereich einschlägige Erfahrungen angesammelt haben (s. a. Dörte Stolle), die für die allmählich zur Sachlichkeit zurückkehrende Diskussion in der Pädagogik und Sozialpädagogik besonders wertvoll sind: „Noch bis zum Jahr 1999 wurden in dem doch recht großen Patientenpool zirka drei bis fünf Jugendliche pro Jahr als schwierigste Jugendliche diagnostisch eingeordnet. Die überwiegende Mehrzahl dieser Jugendlichen (rund 75 Prozent) waren männlich. Seitdem hat sich die Anzahl dieser Klienten auf rund acht bis zehn Fälle pro Jahr bei steigendem Anteil von weiblichen Jugendlichen (rund 50 Prozent) stetig erhöht. .... Aus kinder- und jugendpsychiatrischer Sicht handelt es sich bei diesen schwierigsten Jugendlichen um grenzenlos ausagierende Jugendliche mit mangelnder pädagogischer Lenkbarkeit oder Erreichbarkeit, fehlender therapeutischer Veränderungsmotivation und mangelnder Fähigkeit, Verantwortung für Fehlverhalten zu übernehmen. Von diesen Jugendlichen geht eine erhebliche Gefährdung der eigenen Person oder anderer aus. Als gefährdend werden einerseits aggressive Durchbrüche und Kontrollverluste angesehen; andererseits wird eine langfristige Selbstgefährdung der Jugendlichen aus Symptomen wie Verwahrlosung, Schulverweigerung, Drogenmissbrauch oder gravierender sexueller Auffälligkeiten abgeleitet. Aus systemischer und entwicklungspsychologischer Sicht ist schwieriges, grenzüberschreitendes Verhalten eine gelernte und notwendige Überlebensstrategie unter bestimmten Entwicklungs- und Lebensbedingungen. Die Biographien solcher Kinder und Jugendlichen sind durch frühe Vernachlässigung, körperliche und/oder sexuelle Gewalt, Unzuverlässigkeit und Unsicherheit seitens der Bezugspersonen gekennzeichnet, so dass Kinder sehr früh lernen mussten, alles selbst zu organisieren, was sie zum materiellen und emotionalen Überleben brauchen. Häufig ist diese unzureichende Versorgung mit problematischem elterlichen Erziehungsverhalten wie fehlender elterlicher Grenzsetzungen oder dem Wechsel zwischen einem autoritär-rigiden und einem nachgiebig-verwöhnenden Erziehungsstil (Pendelerziehung) verbunden. Die Folgen sind unter anderem ein gering ausgeprägtes Selbstwertgefühl, erhebliche Störungen in der Kontakt- und Beziehungsfähigkeit, geringe Konfliktfähigkeit bei niedriger Frustrationstoleranz. Diese schwierigen Kinder und Jugendlichen können große Nähe zu einem oder mehreren Bezugsbetreuern nicht aushalten oder nicht ertragen; sie benötigen primär Struktur, um im weiteren Verlauf eine Beziehungsfähigkeit entwickeln zu können.“ (S. 59/60)
Nach diesem Ausflug in die System- und Entwicklungspsychologie hätte man sich von einer Medizinerin allerdings eine Auswertung der für die schwersterziehbaren Kinder und Jugendlichen besonders bedeutsamen neuropsychologischen Traumaforschung gewünscht.
Ihre differenzierten Schlußfolgerungen leitet sie folgendermaßen ein: „Jahrzehntelange therapeutische Erfahrungen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie haben gezeigt, dass freiheitsbeschränkende Maßnahmen dann einen Rahmen für notwendige Therapie geben können, wenn sie über die Auseinandersetzung mit eigenen Impulsen und Gedanken Teil des therapeutischen Prozesses sind. Freiheitsentziehende Maßnahmen in der Klinik dienen zur Sicherstellung der psychotherapeutisch, heilpädagogisch begleiteten Behandlung, ohne die der Patient keinen Zugang zu seiner gestörten seelischen Entwicklung finden kann. Die geschlossene Unterbringung in der Klinik gründet sich in aller Regel auf der Überzeugung, dass die psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung zumindest zeitweilig nur innerhalb eines klinischen Schutzraumes gelingen kann.“ (S. 64)
Unbefriedigend ist leider die Zusammenfassung der Diskussionsergebnisse, weil sie statt einer systematischen Synopse nur eine protokollarische Aneinanderreihung von Stichworten und Anmerkungen liefert. Offenbar hat man nicht die Zeit für die Erarbeitung gemeinsamer Schlußfolgerungen gefunden.
Insgesamt aber ist der vorliegende Bericht das höchst erfreuliche Dokument eines undogmatischen, interdisziplinären und praxisorientierten Gedankenaustauschs über eine Problematik, die dringend der Befreiung aus ideologischen Grabenkämpfen und der praktischen Bewältigung bedarf.
In diesem Sinne lautet der letzte Absatz: „Tore werden für die geschlossene Unterbringung nicht geöffnet, und eine Flut von Anbietern ist in diesem Segment auch nicht zu erwarten. Wir müssen und werden freiheitsentziehende Maßnahmen als Mittel der Kinder- und Jugendhilfe entmystifizieren und berechenbar machen. Als Mittel für eine Law-and-Order-Kampgagne sind sie dann ebenso wenig geeignet wie erzieherische Hilfen insgesamt.“ (S. 82)
Kurt Eberhard (April, 2004)
weitere Beiträge zum Thema Geschlossene Unterbringung - pro/contra
weitere Infos: http://www.vfk.de/agfj/
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