FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2004

 

Michaela Huber

»Wege der Traumabehandlung«

(Teil 2 zu »Trauma und Traumabehandlung«)

Junfermann-Verlag 2003 (397 Seiten, 28 Euro)

 

Unsere Rezension des ersten Teils dieses zweibändigen Werkes endete mit einer hohen Erwartung: „Wenn der zweite, der therapeutische Band ebenso brillant ausfällt wie dieser erste, wird das Gesamtwerk wahrscheinlich bedeutende Entwicklungen in der psychotherapeutischen und sozialpädagogischen Praxis bewirken.“ Der erste Teil dieser Erwartung hat sich nun erfüllt, der zweite wird wahrscheinlich bald sichtbar.

Wir brauchen die Autorin nicht noch einmal vorzustellen, sondern präsentieren gleich das Inhaltsverzeichnis:

Einleitung
Kapitel 9: Wann ist es Zeit für Traumatherapie - und wann nicht?
Kapitel 10: Grundhaltungen der Traumaarbeit.
Kapitel 11: Wieso brauchen Frauen und Männer verschiedene Therapien?
Kapitel 12: Ambulante und/oder stationäre Traumabehandlung?
Kapitel 13: Weshalb beginnt Traumatherapie mit Stabilisierung und Ressourcen-Aktivierung?
Kapitel 14: Was heißt hier Täter-Opfer-Spaltung?
Kapitel 15: Was ist bei der Traumatherapie mit rituell misshandelten Menschen zu beachten?
Kapitel 16: Wie lässt sich das Trauma-Schema verändern?
Kapitel 17: Wie lernt man, mit Flashbacks, Täterintrojekten und anderen heftigen Gefühlszuständen umzugehen?
Kapitel 18: Und nun die Traumadurcharbeitung
Kapitel 19: Psychohygiene: Die Mitempfindens-Müdigkeit verhindern
Nachwort
Literatur
Anhang l: Checkliste: Stadien der Traumaarbeit
Anhang 2: Selbstverletzung: Dem Teufelskreis entkommen
Anhang 3: Lauter kreative Ideen - Tipps und Tricks, wenn "nichts mehr geht"
Anhang 4: Behandlungsrichtlinien der ISSD für Erwachsene und für Kinder
Anhang 5: Empfehlenswerte stationäre Therapie-Einrichtungen
Stichwortregister

In der Einleitung gibt Huber ein Ablaufschema der Traumabehandlung vor:

A. Basics:
- Keine weitere Traumatisierung;
- Aufbau einer tragfähigen, vertrauensvollen therapeutischen Arbeitsbeziehung.

B. Stabilisierung:
- Aufbau von Affektmodulation und Affektkontrolle (Selbstverletzung, Suizidalität etc steuern);
- Selbst-Rückgriff auf Ressourcen erlernen;
- Ich-Struktur und soziales Netz aufbauen;
- Erlernen von Selbstfürsorglichkeit und Fürsorglichkeit für Schutzbefohlene;
- Aufbau von Beziehungs- und Konfliktfähigkeit;
- Berufstätigkeit oder andere sinnvolle Tätigkeit.

C. Distanzierung von Traumamaterial:
(u.a. durch Erlernen imaginativer Hilfstechniken wie Sicherer Ort, Tresor, Bildschirmtechnik)

D. Durcharbeitung des Traumas durch Exposition:
- Mithilfe der Bildschirmtechnik als Traumasynthese
- und/oder durch EMDR

E. Während des gesamten Prozesses von A bis D:
Integration, Trauerarbeit und Wiederanknüpfen an vor-traumatische Stärken. (S. 14)

Allerdings folgt dann ihre Darstellung nicht diesem Schema, sondern die weiteren Kapitel beantworten Fragen, die von Laien und Experten an die Traumatherapie herangetragen werden:
“Meine Bucheinteilung folgt der Logik, Ihnen die Grundlagen zum Thema ’Trauma und die Folgen’, einschließlich einiger Hinweise zur Diagnostik, in Band 1 zu liefern und in diesem Band die wichtigsten Fragen zu beantworten, die Menschen Betroffene, Angehörige und KollegInnen zum Thema Traumatherapie stellen. Sie werden alle Punkte aus der oben genannten Liste ausführlich in diesem Buch beschrieben finden, wenn auch in sehr unterschiedlichen Kapiteln sowie in den Anhängen dieses Bandes. Daher empfehle ich Ihnen, bei Bedarf das Stichwortverzeichnis heranzuziehen, um sich gezielt die Buchstellen heraussuchen zu können, die das entsprechende Stichwort behandeln.“ (S. 15)

Dieser Empfehlung folgend, soll der Abschnitt »Die Rolle der Dissoziation« aus dem 14. Kapitel herausgegriffen und einige Textproben daraus geboten werden, die die inhaltliche Kompetenz und den stilistischen Schwung der Autorin demonstrieren:
„Welche Rolle spielt dann Dissoziation? Zunächst einmal ist Dissoziation ja der Hauptabwehrmechanismus während und unmittelbar nach traumatischem Stress, wobei es viele Traumatisierte gibt, die diese Reaktionsform im Zuge ihrer posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) beibehalten. So können wir Dissoziation durchaus, wie Harvey Schwartz es tut, als einen ’verzweifelten Versuch’ beschreiben, ’sich Leben und Gesundheit dadurch zu erhalten, dass eine zersplitterte Identität geschaffen wird, die mit dem Schmerz,’ mit der Wucht der Gewalt, mit Angst, Entsetzen und Scham ’fertig wird, indem sie diese Qualitäten aufspaltet, entfremdet oder als nicht mir zugehörig verändert’.
Bei Kindern, die dissoziieren, nachdem sie in der Familie misshandelt wurden, und bei schweren dissoziativen Spaltungen handelt es sich in der Regel um Störungen, die durch Kindesmisshandlung entstanden sind, bedeutet Dissoziation noch mehr, nämlich: ’Selbst- und Objektrepräsentanzen zu erschaffen, die ihre Wurzeln haben in der Identifikation mit den einzigen vorhandenen Bindungsobjekten in der Regel den misshandelnden Eltern’ (Schwartz, 2000). Das Selbstbild des Kindes entwickelt sich also in zweierlei Hinsicht aus Spaltung: Das eigene Ich spaltet sich auf, und die wichtigen anderen ’Objekte’ in diesem Fall die elterlichen Täter werden ’nach innen genommen’, einfach weil sich das Kind zwangsweise mit ihnen identifizieren und sich an sie binden muss.
Die Eltern stellen die ’mächtigen Anderen’ dar, die scheinbar Fluchtmöglichkeiten oder manche Erleichterungen vor Schmerz und Bestrafung bieten können, während sie gleichzeitig die Quelle des Schmerzes darstellen. In destruktiven Reinszenierungen, auch solchen in der Psychotherapie, werden alle, die sich dann später einlassen auf das früh gequälte Kind, unbewusst zu Partnern bei der Wiedererschaffung solcher Strukturen und Dynamiken des ursprünglichen Missbrauchssystems, ob sie das nun wollen oder nicht. Denn es gilt der Satz von Pierre Janet: ’Wenn man ein Trauma nicht realisiert, dann ist man gezwungen, es zu wiederholen oder zu reinszenieren.’
Wir merken das daran, dass Personen, die früh misshandelt wurden, sich später meist mit Menschen zusammentun, von denen sie annehmen, dass sie ’besonders viel Macht’ haben. Dass sie also diejenigen sind, die, wie ich zu sagen pflege, ’den Daumen nach oben oder unten recken’ können. Hopp oder topp: ’Heute mach' ich dich fertig’ oder: ’Hier hast du Geld, kauf dir was Schönes’ - wer über das Kind bestimmen konnte, hatte die meiste Macht. Die heranwachsende Person lernt daraus, und auf Dauer führt es dazu, dass sie solche Menschen aufsucht und sich ihnen (zunächst) unterwirft, die ebenfalls ’den Daumen nach oben oder unten recken’ können. Dies gilt auch für den Bereich der Psychotherapie. Kein Wunder, dass die junge Psychotherapie-Anfängerin von der Traumapatientin abgelehnt wird: ’Wo ist denn der Oberarzt? Ich hör nur auf das, was der Oberarzt sagt!’ Und kein Wunder, dass sie sich einen Kerl zum Freund aussucht, der furchterregend aussieht, im besten Fall dem ’Typ süßer großer Bär’ entspricht. Dass derselbe ’süße Junge’, weil er vielleicht selbst ein ehemals misshandeltes Kind ist, im Frust gern mal die Impulskontrolle verliert und zuschlägt oder ihr gemeinsames Kind misshandelt, lässt dann die nächste Generation von Traumatisierten erwarten. .......
Dissoziation wird benutzt, um einerseits solchen überwältigend qualvollen Situationen zu entgehen und um andererseits trotz allem die überlebenswichtige Bindung herstellen und aufrechterhalten zu können. Eine andere Kollegin, Elizabeth Waites, schreibt in ihrem Buch ’Trauma and Survival’ sinngemäß: Das Dilemma des traumatisierten Kindes besteht darin, dass Bindung lebensnotwendig und gleichzeitig lebensgefährlich ist. Das Kind muss also Aspekte des Selbst, die das Bösartige des Elternteils entdecken könnten, unterdrücken. Jennifer Freyd nennt dies ’Betrayal Blindness’ Blindheit für den Verrat. .......
In dysfunktionalen Familienstrukturen, in denen Kinder gequält und ausgebeutet werden, herrscht in der Regel ein despotischer, chaotischer Erziehungsstil, der das Kind gleichzeitig parentifiziert hat, also eine Umkehr der Rollen von Eltern und Kind suggerierte. In ihrer Herkunftsfamilie waren die meisten unserer komplex traumatisierten KlientInnen dazu da, die Bedürfnisse der Eltern zu erfüllen und zwar um es so drastisch auszudrücken, wie es ist: sämtliche Bedürfnisse, von ’Hol mir ein Bier’ bis ’Hol mir einen runter’.“ (S. 131 - 135)

Im Nachwort heißt es:
„Was ich am Ende von Kapitel 18 mit dem „Wunder“ angedeutet habe, läßt sich hingegen nicht aufschreiben oder per Lektüre erfahren, sondern nur erleben: Lernen in achtsamer und liebevoller Begegnung. Die Feinfühligkeit der TherapeutIn wird ihr erleichtern, ein sicheres Bindungsangebot zu machen, das die Klientin auch annehmen kann.“ (S.297)
Diese Passage könnte aus den Erfahrungen einer Pflegemutter stammen, denn auch sie ist, meist ohne es zu wissen, als Therapeutin tätig, und auch ihre Therapie lebt viel mehr von Feinfühligkeit und achtsamer Liebe als von ’konsequenter Pädagogik’.

Die Liste der Leser, die von den beiden Bänden »Trauma und die Folgen« und »Wege der Traumabehandlung« erheblich profitieren können, ist lang: Eltern, Erzieher, Lehrer, Ärzte, Psychologen, Psychotherapeuten etc. Wir werden zur Verbreitung kräftig beitragen. Und wieder wollen wir mit einer Hoffnung schließen: es wäre sehr verdienstvoll, wenn Michaela Huber neben ihrer therapeutischen Praxis die Zeit fände, aus beiden Bänden ein Gesamtwerk mit Lehrbuch-Systematik zu synthetisieren.

Kurt Eberhard (Feb. 2004)

 

 

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