Frau Prof. Dr. Edina Normann ist Sozialpädagogin und Hochschullehrerin in der Evangelischen Fachhochschule Nürnberg. Ihre neu aufgelegte, allerdings als Erstauflage deklarierte Untersuchung ist inhaltlich und methodologisch sehr interessant: inhaltlich wegen der zentralen Fragestellung („Wie erfahren Jugendliche den Prozeß der Heimsozialisation, und wie bewerten sie ihre Erfahrungen vom Standpunkt ihrer heutigen Lebenssituation?“), methodologisch wegen der Verbindung von Biografieforschung, erweiterter Kasuistik und Heranziehung einschlägiger Fachliteratur.
Leider wirkt die Darstellung der Methodologie (S. 13-24) etwas verworren und wissenschaftstheoretisch fragwürdig , kann aber hier übergangen werden, weil der tatsächliche Untersuchungsverlauf ziemlich schlicht und durchsichtig ist.
Der Hauptteil des Buches (s. 25-120) referiert die Auswertungen der Interviews von acht ehemaligen Heimjugendlichen, die nach einem nach Lebensstationen überzeugend strukturierten Leitfaden befragt worden waren. Danach (S. 121-154) folgen generalisierte Schlußfolgerungen und eine Zusammenfassung der Ergebnisse (S. 155-161).
Die Autorin hat ausdrücklich auf eine repräsentative Stichprobe verzichtet. Stattdessen handelt es sich um eine besonders günstige Auswahl von nur vier weiblichen und vier männlichen Adoleszenten, die nach ihrer Entlassung Kontakt zu ihren Erziehungsinstitutionen gehalten, eine überdurchschnittlichen Grad an Verselbständigung erreicht und sich zu der Befragung bereit gefunden hatten. Bei einer derart positiven Stichprobenauslese ist besonders beachtlich, was gleichwohl an kritischen und selbstkritischen Äußerungen ermittelt werden konnte.
Einige Beispiele: „Ich sag mal, was vielleicht im Heim nicht so schön ist, ist, dass man so keine richtige Bezugsperson hat. Äh, man gewöhnt sich an Erzieher, und man hat sie lieb und die haben dich vielleicht auch lieb und sind dann vielleicht ein, zwei Jahre dort und dann gehen sie wieder. ...Es war ja auch nie so 'ne feste Person ...ja gut, die Eltern von meiner besten Freundin, die sind halt für mich so die Bezugsperson, also sozusagen die Ersatzeltern. Die kennen mich seitdem ich sechzehn bin und haben halt immer mitbekommen, in welchen Stationen ich war und was ich gerade erlebt hab'“ (S. 60)
„Also im Heim brauchten wir nie was machen. ...Auch so, wenn im Heim irgendwas war, wenn wir Probleme hatten oder so, dann haben wir das untereinander besprochen. Und in der Familie muss das ja viel offener besprochen werden irgendwie, wenn mal irgendwas ist, wenn mich irgendwas stört oder so. Das war schwer.“ (S. 68)
„Für mich war L. [drogenabhängige Mitbewohnerin], macht ja nichts, wenn ich das jetzt sage, L. ist irgendwo 'ne Schwester gewesen ... ja ich hatte irgendwie keine richtige Schwester. Und ich merke heute noch, dass ich mich ganz viel an Freundinnen klammere und so Geschwisterbeziehungen aufbauen will, wo es vielleicht manchmal auch nicht angebracht ist, aber da hab' ich es eben halt auch versucht.“ (S. 90)
„Ich meine, ich bin ja ziemlich viel über die Stränge geschlagen hinterher mit den Freiheiten. Ich durfte ja z.B., sollte ich nicht so viele Nächte bei meinem Freund verbringen. Es war nun toll, ich durfte ja nun endlich 'nen Freund haben in der Jugendwohnung, und da hab' ich übertrieben. Da bin ich dann nächtelang bei meinem Freund geblieben und hab' auch mal ein Treffen mit M. platzen lassen und solche Sachen. Und da, finde ich, sollten vielleicht Betreuer ein bisschen strenger sein. Ich meine, M. hat sich sehr viel gefallen lassen müssen teilweise. Auch jetzt, mit meiner Mitbewohnerin, die drogenabhängig war. ...Das finde ich ein bisschen viel, was die sich gefallen lassen müssen. Aber ansonsten finde ich die Zeit irgendwo toll.“ (S. 92)
In der Zusammenfassung bilanziert die Autorin: „Die zentrale Fragestellung der Untersuchung lässt sich nach der Auswertung der Interviewdaten und ihrer zusammenfassenden Generalisierung in zweifacher Hinsicht beantworten: Die ehemaligen Adressaten von Heimerziehung erfahren ihre Zeit im Heim überwiegend als eine kritische, von biografischen Brüchen und Diskontinuitäten geprägte Lebensphase. Gleichzeitig bewerten sie dieses kritische Lebensereignis (mit einer Ausnahme) vom heutigen Standpunkt jedoch überwiegend als hilfreichen Unterstützungsprozess, der ihre weiteren Lebenswege günstig beeinflusst hat. ....
Die Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen in der Konfrontation mit dem fachlichen Agieren der Jugendhilfe erweisen sich in mehrfacher Hinsicht als belastend. Zum einen erleben die Betroffenen ihre Beteiligung am Hilfeverfahren als eine Situation, in der sie zum Spielball und zum Objekt fremder Entscheidungen werden, obwohl sie in den Hilfeprozess einbezogen sind. Besonders krass wird dies an den Beteiligungsprozessen im Rahmen von so genannten Erziehungskonferenzen deutlich, die an den tatsächlichen Bedürfnissen und Fragestellungen der Jugendlichen zur Ausgestaltung ihres künftigen Lebensweges vorbeigehen. ....
Für die betroffenen Jugendlichen bedeutet diese Praxis die Erfahrung des Verlegt- und Abgeschobenwerdens von einem Betreuungsarrangement in das nächste. ....
An den Beziehungserfahrungen der ehemaligen Heimkinder zeigt sich, dass es auch der reformierten Heimlandschaft nur sehr bedingt gelingt, die Kontinuität und Intensität von Beziehungen zwischen den professionellen Fachkräften und den Kindern und Jugendlichen zu sichern. Die Betreuten erleben, insbesondere in den familienähnlichen Angebotsformen, Diskontinuitäten und biografische Brüche in den emotionalen Bindungen zu ihren Bezugspersonen. Erzieherfluktuation und Wechsel der Betreuungsorte werden dadurch begünstigt, dass gerade die Ausdifferenzierung der Angebotslandschaft erzieherischer Hilfen in vielfältige, individuelle Hilfesettings das Weiterreichen in »geeignetere« Maßnahmen erleichtert. ....
Generell lässt sich sagen, dass die jungen Menschen den Prozeß ihrer Heim- sozialisation dann als hilfreiche Unterstützung erleben, wenn sie diese Zeit als eine konstruktive Phase für ihren weiteren Biografieverlauf einordnen können. Dies entscheidet sich für die Befragten daran, inwieweit es ihnen gelungen ist, tragfähige, emotionale Beziehungen zu den Betreuern aufzubauen.“ (S. 155-159)
Wie in der Psychotherapieforschung und wie in Pflegefamilien (s. IPP-Erfahrungsbericht) zeigte sich also auch bei den untersuchten Heimkindern, daß die Qualität und Kontinuität der zwischenmenschlichen Beziehungen entscheidend ist für die spätere psychosoziale Entwicklung.
Kurt Eberhard (Feb. 2003)
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