Was früher Rastlosigkeit, motorische Unruhe, Aufmerksamkeitsstörung, Konzentrationsschwäche usw. genannt wurde, faßt man heute unter den Begriff 'Aufmerksamkeits-Defizit/Hyperaktivitäts-Störung (ADS bzw. ADHS)'.
Die Liste der dazugehörigen Auffälligkeiten "ist im Verlauf der letzten Jahre immer länger geworden. Sie umfaßt inzwischen nahezu alles, was am Verhalten eines Kindes auffallen kann:
- Hyperaktivität und Ruhelosigkeit
- verbale Überaktivität (Ideen- und Redefluß)
- Bauchbeschwerten und Schlafschwierigkeiten als Frühmanifestation
- mangelhafte Koordinationsfähigkeit (Balanceschwierigkeit)
- visuell-motorische Koordinationsschwierigkeiten
- minimale Aufmerksamkeitsspanne
- geringe Konzentrationsfähigkeit
- große Ablenkbarkeit
- Neigung zu ständigen Wiederholungen
- Lernschwierigkeiten (vorwiegend Lese- und Rechtschreibstörungen)
- niedrige Frustrationstoleranz
- antisoziale Verhaltensweisen (Destruktion, Lügen, Stehlen, Brandstiften, sexuelle Entgleisungen)
- auffallende Resistenz gegenüber sozialen Einflüssen
- Bindungsunsicherheit
- Extraversion
- Distanzlosigkeit
- erhöhte psychische Labilität
- mangelnde Impulskontrolle (erhöhte Aggressivität)
- gestörte Reaktivität." (S. 21)
Als Ursache wird vielfach Dopaminmangel vermutet, weil dopaminstimulierende Präparate in den meisten Fällen helfen. Das bekannteste Medikament ist das Ritalin. "Kein anderes Medikament, das unter das Betäubungsmittelgesetz fällt, verzeichnet derartige Zuwachsraten. .... Die Produktion stieg im Zeitraum vom 1990 bis 1997 von 2,8 auf 13,5 Tonnen. .... Weltweit nehmen gegenwärtig ca. 10 Millionen Kinder täglich Ritalin ein.... In Deutschland stieg der Absatz von Ritalin-Tabletten innerhalb der letzten fünf Jahre um mehr als das 40fache." (S. 12/13)
Abgesehen davon, daß es sich bei der beruhigenden Wirkung von Ritalin um einen paradoxen Effekt eines eigentlich aufputschenden Amphetamins handelt, halten die Autoren, Neurobiologe der eine und Kinderpsychiater der andere, die Dopamindefizitthese für einen typischen Kurzschluß, der immer dann entstehe, wenn nicht gründlich genug an den Anfang zurückgefragt werde mit den damit einhergehenden Verwechslungen von Folgen mit Ursachen. Ursachenforschung bedürfe der intervenierenden Experimente und sei deshalb u.a. auf Tierversuche angewiesen. Die Autoren berichten aus der Fachliteratur "daß besonders 'gute' Rattenmütter (die sich gegenüber 'schlechten' Rattenmüttern vor allem dadurch auszeichnen, daß sie ihr Nest mit viel Sorgfalt bauen, es sauber halten und sich intensiv um ihre Jungen kümmern) weibliche Jungtiere so aufziehen, daß diese später selbst wieder 'gute' Mütter werden, und das selbst dann, wenn diese von einer schlechten Mutter abstammen und erst nach der Geburt zu einer guten Mutter umgesetzt wurden; und zweitens, daß diese bei einer 'guten' Mutter großgewordenen Ratten auch ein in bestimmten Bereichen anders entwickeltes und organisiertes Gehirn besitzen. Offenbar bedurfte es erst der faszinierenden Arbeiten von Michael Meaney und anderen Gruppen (Francis und Meaney 1999) über 'maternal care and the development of stress responses' und über die biologischen Folgen von Traumaerfahrungen, damit nun als gesichert gelten kann, was bereits Freud, Winnicott und Bowlby über die langfristige Bedeutung frühkindlicher Beziehungserfahrungen erkannt hatten. In verschiedenen Übersichtsarbeiten ist zusammengefaßt, was wir heute über die Folgen frühkindlicher Deprivation und Traumatisierung mit Blick auf eine lebenslange Hypersensitivität des Streßsystems der HPA-Achse [Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse] und auf das sich daraus ergebende Risiko für depressive und anderer Erkrankungen wissen. .... Inzwischen ist durch zahlreiche Studien auch beim Menschen nachgewiesen worden, daß Vernachlässigung, Mißbrauch und emotionale Verunsicherung während der Kindheit nachhaltige Folgen für die weitere Hirnentwicklung haben und an der späteren Ausbildung unterschiedlicher psychischer Störungen ganz entscheidend beteiligt sind. .... Die gesundheitspolitischen Konsequenzen dieser Erkenntnisse lassen sich gegenwärtig bestenfalls erahnen." (S. 78/79)
Anschließend folgen die therapeutischen Implikationen: "Was heißt das nun konkret für die psychotherapeutische Behandlung von ADHS? Es heißt erstens, daß eine solche Behandlung nur dann dazu beitragen kann, die im Gehirn dieser Patienten durch die bisherige Art ihrer Benutzung entstandenen und verfestigten Verschaltungen zu verändern, wenn es dem Therapeuten gelingt, seinen Patienten zu motivieren, anders als bisher auf all das zu reagieren, was auf ihn einstürmt (äußere Reize) oder aus ihm herauskommt (innerer Antriebe). Und es heißt zweitens, daß eine derartige Behandlung um so besser gelingen kann, je früher damit begonnen wird. Und es heißt drittens, daß der Therapeut bei seiner Behandlung nie allein das in seinem Verhalten gestörte (und in seinem Hirn veränderte) Kind im Auge haben darf, sondern daß er das gesamte Umfeld des Kindes, also seine Eltern, andere Bezugspersonen, Freunde, Erzieher und sonstige wichtige Personen in ihrer stabilisierenden und auch destabilisierenden Bedeutung für das Fühlen, Denken und Handeln des betreffenden Kindes abschätzen und gegebenenfalls korrigierend in ein einmal entstandenes ungünstiges Beziehungs- und Interaktionsmuster eingreifen muß." (S. 80)
Zum Einsatz von Ritalin und anderen stimulierenden Medikamenten wird die Verordnungspraxis der skandinavischen Länder empfohlen: "Die Verordnung vom Stimulantien kann notwendig sein. Die Indikationsfrage und Verordnungspraxis scheint uns in den skandinavischen Ländern vorbildhaft gelöst zu sein. ..... Jeder, der dort eine Behandlung durchführen und begleiten will, muß eine kinderneurologische, kinderpsychiatrische und -psychotherapeutische Fachkompetenz erworben haben und nachweisen können. Der Einsatz vom Stimulantien darf erst dann erfolgen, wenn alle psychotherapeutischen Interventionen unter Einschluß der Arbeit mit der Familie erfolglos geblieben sind. Voraussetzung für eine Behandlung mit Medikamenten ist die Bereitschaft zur Kooperation von Eltern und Schule. Die medikamentöse Behandlung hat zeitlich begrenzt zu erfolgen. Voraussetzung für eine Verordnung vom Stimulantien ist ein Antrag, den der Facharzt für jeden Einzelfall schriftlich zu begründen hat. In Schweden hat dieser Antrag die Symptomatik und den neurologische Befund zu dokumentieren und muß die Ergebnisse der psychologischen, pädagogischen und sozialen Eckdaten mitteilen. Darüber hinaus ist zu erklären, welche therapeutischen Maßnahmen zusätzlich zur Arzneibehandlung unternommen werden. Zu beschreiben sind neben den Hilfestellungen für das Kind in Kindergarten und Schule und für die Familie alle Umstände, die der Heilung entgegenstehen. Während der Durchführung der Behandlung ist fortlaufend zu dokumentieren, wie die körperliche Entwicklung des Kindes vorangeht, wie sich sein Verhalten in Schule und Elternhaus entwickelt und welche Nebenwirkungen der Arznei auftreten. Alle Behandlungseffekte werden gewöhnlich nach ein bis zwei Monaten geprüft und dokumentiert. Sämtliche Daten müssen der Lizenz erteilenden Behörde zur Verfügung gestellt werden, wenn nach einjähriger Behandlung mit feinabgestimmten Arzneidosen der Antrag auf Weiterbehandlung notwendig ist." (S.136/137)
Im Schlußkapitel resümieren Hüther und Bonney noch einmal ihre Botschaften: "All das, was wir bei der Arbeit an diesem Buch zusammengetragen haben, bestärkt uns in der Vorstellung, daß die frühe Kindheit eine außerordentlich komplizierte und deshalb auch stark störanfällige Entwicklungsphase darstellt. Das empfindlichste Organ, in dem während dieser Phase die wichtigsten und schwierigsten Reifungsprozesse ablaufen, ist das Gehirn. Es ist daher häufiger als irgend ein anderes Organ von all dem betroffen, was den normalen Entwicklungsprozeß eines Kindes stören kann. Innerhalb des Gehirns wiederum entwickeln sich die komplexesten Verschaltungen im frontalen Cortex, also im Stirnlappen. Sie sind am wenigsten durch irgendwelche genetischen Programme festgelegt und daher am stärksten durch die jeweiligen Gegebenheiten und konkreten Nutzungsbedingungen beeinflußbar. Wenn es also aus irgendeinem Grund zu einer Störung der Hirnentwicklung kommt, so ist damit zu rechnen, daß die im Frontallappen ausreifenden Verschaltungen am stärksten davon betroffen sind. All das, was dort eigentlich angelegt werden könnte, so lautet die zweite wichtige Neuigkeit vom Zappelphilipp, kann nur dürftiger, unzulänglicher, primitiver ausgebildet werden, wenn die Bedingungen für die Herausformung und Festigung komplexer Verschaltungsmuster in diesem Kernbereich aus irgendeinem Grund ungünstig sind. Was im einzelnen für die überstarke Unruhe, die erhöhte Reizbarkeit oder die generelle Überempfindlichkeit eines Kleinkindes verantwortlich sein mag, sei dahingestellt. Ein ungünstiger Schwangerschaftsverlauf, eine schwierige Geburt, eine Nahrungsmittelunverträglichkeit, ein zu stark (oder auch zu schwach) entwickeltes dopaminerges System, mangelnde elterliche Fürsorge, ein schwieriges Familienklima, all das und noch vieles mehr kann - vor allem dann, wenn verschiedene Faktoren zusammenwirken - dazu führen, daß der komplizierteste und störanfälligste Prozeß der frühen Kindheit, nämlich die Ausreifung komplexer Verschaltungen im Frontalhirn, nur mangelhaft gelingt. ..... Jeder, der sich ernsthaft auf die Suche nach den Ursachen einer Fehlentwicklung macht, muß diesen Weg auch konsequent bis zu seinen Anfängen hin verfolgen. Ansonsten läuft man allzu leicht Gefahr, die Folgen einer Fehlentwicklung mit deren Ursachen zu verwechseln. Dann muß man zwangsläufig ein unzureichend ausgebildetes Gleichgewichtssystem oder ein falsch entwickeltes dopaminerges System oder einen schlecht funktionierenden Frontallappen oder einen fehlgeschlagenen Erziehung- und Sozialisationsprozeß oder eine frühe Bindungsstörung für die Entstehung des betreffenden Störungsbildes verantwortlich machen. Und dann verabreicht man eben dem dopaminergen System ein Medikament, der Frontallappen bekommt eine Verhaltenstherapie, den Lehrern und Erziehern zeigt man die rote Karte, und die Eltern steckt man in ein Büßerhemd und läßt sie mit einem möglichst schlechten Gewissen ziehen. Was man damit nicht erreicht und wohl auch nicht erreichen will, ist die eigentlich zwingend notwendige Veränderung der Verhältnisse, unter denen unsere Kinder heute aufwachsen müssen. Überall dort, wo Erwachsene die Anhäufung materieller Güter, das eigene Wohlergehen und die individuelle Bedürfnisbefriedigung zur wichtigsten Richtschnur ihrer Lebensgestaltung machen, kann sich irgendwann nur noch das entfalten, was durch Konkurrenz, Erfolgsdruck, Neid und Habgier hervorgebracht wird. Alles andere verkümmert. Auch Kinder verkümmern." (S. 141/143)
Wenn man eine Liste obligatorischer Fachlektüre für KinderärztInnen, KindertherapeutInnen, LehrerInnen und ErzieherInnen zusammenstellen dürfte, dieses unorthodoxe, hochinformative und gut lesbare Buch sollte darauf nicht fehlen. Zappelphilippgeplagte Eltern werden es freiwillig lesen – wenn sie nur davon erfahren.
(Kurt Eberhard, April 2002)
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