FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2002

 

Karl Gebauer, Gerald Hüther

Kinder brauchen Wurzeln
Neue Perspektiven für eine gelingende Entwicklung

Walter-Verlag, 2001, ISBN 3-530-40124-2
(14,90 Euro)

Karl Gebauer, Rektor an der Leinebergschule in Göttingen, und der Neurobiologieprofessor Gerald Hüther entschlüsseln in diesem Sammelband Gründe der Erziehungskrise. Die Autorenbeiträge, alle von ausgewiesenen und anerkannten Experten, weisen in die gleiche Richtung: Sicherheit bietende Beziehungen sind Voraussetzung für die Entwicklung sicherer Bindungen; ohne sichere Bindungen gerät die kindliche Entwicklung in schwerwiegende Krisen, verbunden mit der Gefahr dauerhafter Schädigungen.

Aus dem Inhalt:

  • Karl Gebauer, Gerald Hüther: Vorbemerkung: Ohne Wurzeln fällt man um
  • Gerald Hüther: Die Bedeutung emotionaler Sicherheit für die Entwicklung des kindlichen Gehirns
  • Klaus E. Grossmann und Karin Grossmann: Das eingeschränkte Leben - Folgen mangelnder und traumatischer Bindungserfahrungen
  • Karl Heinz Brisch: Bindungsstörungen, ihre Folgen und die Möglichkeiten der Therapie
  • Annette Streeck-Fischer: Gezeichnet fürs Leben - Auswirkungen von Mißhandlung und Mißbrauch in der Entwicklung
  • Franz Resch: Der Einfluß gesellschaftlicher Rahmenbedingungen auf die kindliche Entwicklung
  • Christian Eggers: Beziehungsfähigkeit als Voraussetzung für Friedensfähigkeit von Kindern und Jugendlichen
  • Manfred Cierpka: Zur Entstehung und Verhinderung von Gewalt in Familien
  • Ursula Neumann: Die unsichtbare Wirksamkeit emotionaler Beziehungen zwischen Kindern und ihren Erziehern
  • Karl Gebauer: Kinder auf der Suche nach Geborgenheit in einer Welt brüchiger Beziehungen
  • Karl Gebauer, Gerald Hüther: Schlußbemerkung: Unsere Kinder sind unsere Zukunft

Hüther betont die negativen Folgen emotionaler Verunsicherung auf die Gehirnentwicklung sowie die langfristigen Auswirkungen für die Persönlichkeit. Ratten z.B., die unter psychophysiologisch günstigen Bedingungen aufwachsen, entwickeln besonders komplex verschaltete Gehirne und sind als ’Erwachsene’ geschickter bei der Bewältigung komplexer Aufgaben. Da das menschliche Gehirn zum Zeitpunkt der Geburt noch viel unreifer und formbarer ist als ein Rattengehirn, sind Kinder umso mehr auf emotionale Zuwendung und Anregungen angewiesen. Die wichtigste Ursache für Bindungsstörungen ist demzufolge der Mangel an emotionaler Zuwendung.

Gebauer referiert Befunde aus einer eigenen Untersuchung. Im Schulalltag wird eine Zunahme von veränderten Verhaltensweisen und Verhaltensauffälligkeiten verzeichnet, verbunden mit einer Vielzahl von Symptomen wie z.B. Kreislaufbeschwerden, Schlafstörungen oder Kopf- und Magenschmerzen. Registriert werden jedes Jahr 30.000 Suizidversuche von Schülern, davon 1.000 mit tödlichem Ausgang. Auch die Zahl der Inobhutnahmen durch Jugendämter in Folge von Misshandlung, Missbrauch, Alkoholismus oder Drogensucht ist deutlich gestiegen. Wen wundert es bei dieser Analyse, dass eine zunehmende Anzahl von Schülern Probleme im Lernbereich, dem Sozialverhalten, der Motorik oder Sprache hat.

Eingerahmt von den Herausgeberbeiträgen, findet der Leser Interessantes aus der Bindungsforschung, zum Thema Lernschwierigkeiten und Gewalt, zum gesellschaftlichen Umfeld, zur Gehirnentwicklung und zu den psychischen Störungen der Kindheit und Jugend.

Hervorzuheben für die typische Klientel der Jugendhilfe sind die Ausführungen des Kinder- und Jugendpsychiaters Brisch zu den Folgen und Therapiemöglichkeiten von Bindungsstörungen:

„In Deutschland wohnen mittlerweile ganze Gruppen von Kindern vagabundierend auf der Straße. Einige haben sich auch von ihren Gruppen so weit entfernt, dass sie wie ’einsame Wölfe’ leben. Sie tun so, als bräuchten sie keinen Menschen und auch keine Bindungsbeziehungen.(S. 70)
Eine andere Form der Bindungsstörung ist durch undifferenziertes Bindungsverhalten gekennzeichnet.... Sie [die Kinder] konnten keine stabile spezifische Bindung zu einer Pflegeperson entwickeln. Häufig wurden sie schon in der frühen Kindheit zwischen Heimen und Pflegefamilien hin- und hergeschoben, aber es ist ihnen gelungen, doch eine basale Strategie aus dem Bindungsverhalten zu entwickeln, indem sie sich zumindest in bedrohlichen Situationen an andere Menschen wenden.... Andere Kinder neigen zu einem deutlichen Unfallrisikoverhalten. In Gefahrensituationen suchen sie keine sichernde Bindungsperson auf, sondern begeben sich vielmehr durch zusätzliches Risikoverhalten in unfallträchtige Situationen. (S. 71)
Andere Kinder wiederum verhalten sich in Bedrohungssituationen übermäßig angepasst.... Vor allem Kinder, die massive körperliche Misshandlung und Erziehungsstile mit körperlicher Gewaltanwendung oder -androhung erlebt haben, reagieren auf diese Art und Weise. Die Eltern sind in der Regel sehr stolz, dass sich ihre Kinder auch in Bedrohungssituationen so angepasst und ’brav’ verhalten. Da sie das Verhalten ihrer Kinder nicht als auffällig oder als Ausdruck einer emotionalen Störung begreifen, ist eine Therapiemotivation in der Regel nur sehr schwer zu erreichen. (S. 74)
Bindungsstörungen bei traumatisierten Risikogruppen erfordern eine bindungsorientierte therapeutische Herangehensweise und stellen für die Therapeuten eine besondere Herausforderung dar. Betroffen sind häufig Kinder nach Misshandlungen, Missbrauch und Vernachlässigung....“ (S. 77)

Die Aufmerksamkeit für traumatisierte Kinder ist in den letzten Jahren gestiegen. Dazu die Psychoanalytikerin Streeck-Fischer:

„Diese jungen Menschen sind nicht nur psychisch auffällig, sondern zeigen auch Beeinträchtigungen ihrer körperlichen und geistigen Entwicklung (Cicchetti, 1995). Darüber hinaus tendieren sie selbst durch ihre traumatischen Erfahrungen zur Fortführung von  Misshandlung und Vernachlässigung in zwischenmenschlichen Beziehungen (Streeck-Fischer und van der Kolk, 2000).
An Kindern, die misshandelt wurden, kann man Langzeitfolgen im Verhalten, in den Gefühlen, im Verstand und in den sozialen Interaktionen beobachten. Sie zeigen Beeinträchtigungen in der Gehirnphysiologie (Hüther, 1998), dem neuroendokrinen System und im Immunsystem. (S. 80)
Diese Kinder können nicht aus Erfahrungen lernen, sie geraten unwillkürlich durch ihr Verhalten immer wieder in ähnliche Situationen.“ (S. 83)

Die Entwicklung von Hilfen für traumatisierte Kinder befinden sich noch am Anfang. Aber das Ziel ist bereits umschrieben: 

„Heutzutage bekommen Kinder mit Lernstörungen, Aufmerksamkeitsstörungen, Kinder, die unruhig und aggressiv sind, häufig Medikamente, die sie in die Lage versetzen sollen, besser in Schulen und beim Lernen zurechtzukommen. Ihre Not, ihre belastenden Erfahrungen, die sich in diesem Verhalten ausdrücken, werden häufig nicht gesehen und verstanden. Sie bleiben den Mechanismen verhaftet, die sie früh erworben haben, um zu überleben. Aber ihre Chancen, ein besseres Leben zu erfahren, sind gering, solange sie nicht in ihrem kindlichen Sein und ihren Bedürfnissen gesehen und verstanden werden.“ (S.89) 

Die Suche nach den Voraussetzungen für eine gesunde Entwicklung unserer Kinder ist das zentrale Anliegen dieses Buches. Diesem Anspruch werden die Autoren in überzeugender Weise gerecht.

(Christoph Malter, April 2002)

 

 

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