Fachbücher informieren über die Folgen sexuellen Mißbrauchs und ermöglichen klinische Diagnosen. Aber das unauslöschliche seelische Leid können sie nicht vermitteln. Wer solche Verletzungen mitfühlen und verstehen will, muß sich Darstellungen antun wie diesen kaum erträglichen, aber sehr überzeugenden Roman von Malgorzata Saramonowicz.
Eine junge, erfolgreiche Frau fällt anläßlich ihrer ersten Schwangerschaft in ein Koma, für das es keine medizinische Erklärung gibt. Ärzte und Psychologen raten zur Abtreibung, um das Leben der Mutter zu erhalten. Der verzweifelte Ehemann, der seine Frau und sein Kind retten will, begibt sich auf die Suche nach den Ursachen und erkennt, daß er die Frau nicht kennt, mit der er schon viele Jahre zusammenlebt.
Aus drei Perspektiven entfaltet sich das Drama. Die erste Perspektive ist der innere Dialog der im Koma liegenden Maria: „Ich wollte mich töten, doch es fehlte mir der Mut. Ich wollte auch dich töten, doch es fehlte mir an Kraft. Immer bin ich zu schwach. Vielleicht verdiene ich das Schicksal, das mir widerfährt. ... Ich habe das selbst so gewollt. Ich habe mich selbst da rein gefügt. Ich bin genauso schmutzig. ... Ich habe das Überdauern gewählt. Worauf habe ich denn gehofft? Auf Gotterbarmen? Auf die Vergebung meiner Wunden? ... Die Furcht wurde mir zur Haut. Aber die Furcht tötet nicht. Sie läßt nur erstarren.“(S. 153)
Der Täter ist für Maria unerreichbar und überläßt sie ihrem Haß: „Ich bin so böse. Und ich hasse. Ich will Rache. Blutige Rache, die den Tod bringt. Aber das weißt du nicht ...Immer weiter entfernst du dich... Mein Zorn kann dich nicht mehr ereilen. ... Bürde mir nicht deine Schuld auf. Deine Bosheit, nicht meine Hand fügt den Tod zu, nicht mein Wille teilt das Leiden zu. Das Wissen gibt mir kein Verstehen. Es weckt Entsetzen.“ (S. 127)
Opfer gebären Opfer, dieses Karma will sie ihrem ungeborenen Kind ersparen: „Kleines! Nur zu dir kann ich sprechen. Hör zu. Hör auf mich. Du mußt sterben. Hab keine Angst. Es tut nicht weh. Das Leben tut weh. ... ich liege hier, aber Gott will meinen Tod nicht. Deshalb mußt du es versuchen.“ (S. 125)
Parallel dazu erlebt die Leserin den hilflosen Ehemann, dessen Stimmungen zwischen Liebe, Zorn und Hoffnung schwanken: „Jakub lag neben Maria auf dem Bett. Einsam und böse. Er wollte keine Entscheidung treffen. Er wollte, daß es von selbst ein Ende nahm. Es hatte auch von selbst angefangen. Ohne sein Zutun. Schließlich war er an nichts schuld. Überdrüssig und müde.“ (S. 12)
„Jakub bemühte sich, nicht zu verzweifeln. Eine Methode zu finden. Zu handeln. Die Angst zu besiegen. Er wußte, daß die Verantwortung auf ihm lag. Gottgleich. Über Tod und Leben.“ (S. 18)
„Seine Unfähigkeit zu verstehen, ließ ihn leiden. Das Geheimnis. Wie konnte man so etwas erleben und sich nicht daran erinnern? Nicht davon wissen? Vielleicht hatte sie sich geschämt? Gefürchtet? Heimlichkeiten waren ihm zuwider. Er suchte nach Gründen für sie und wurde doch das Gefühl nicht los, daß er betrogen worden war. Zurückgestoßen. Des Geheimnisses unwürdig. Er fragte sich, ob er ihr vergeben sollte.“ (S. 21)
Er beginnt, die zerstreuten Mosaiksteine ihrer Leidensgeschichte zu sammeln. Nach einem Selbstmordversuch im sechszehnten Lebensjahr wurde sie nach „erfolgreicher“ psychotherapeutischer Behandlung aus der Klinik entlassen und erlebte sich wie „neugeboren“. Die folgenden Jahre - Studium, Karriere als Literaturwissenschaftlerin, harmonische Ehe - schienen diese Gefühle zu bestätigen. Bei seinen Recherchen stößt er aber auf bislang unbeachtete Merkwürdigkeiten. Dazu gehört ihr obsessives Interesse für Insekten im Rahmen ihrer Dissertation, besonders für Kakerlaken und deren symbolische Bedeutung. Franz Kafka und Bruno Schulz erlebt sie als „Eingeweihte“ in das Kindheitstrauma des sexuellen Mißbrauchs. Zur Strafe für inzestuöses Begehren werden Gregor (in „Die Verwandlung“) und der Vater (in „Zimtläden“) in Kakerlaken verwandelt.
Dementsprechend sind die Einflüsterungen einer Kakerlake die dritte Erzählstimme des Buches, die verinnerlichte, persistent mächtige Stimme des Täters, schmeichelnd und schlüpfrig, verächtlich und triumphierend: „Erinnerst du dich, daß du eingewilligt hast? In den Gehorsam! ... Du weißt. Ich kann dich bestrafen. Weißt du, was unter dem Bett auf dich wartet? Du weißt es genau. Erinnere dich an all die Ritter in schwarzer Rüstung. ... Es genügt ein einziges Wort von mir, und sie nehmen deinen Körper in knirschenden Besitz.“ (S. 18)
„Spürst du mich, Schwester? Unartige Schwester? Wie ich liebkosend die Haut deines Halses streife? Deines warmen, weißen Halses. Ich kann auch sanft sein. ...Ich kann auch weiter nach unten vordringen. Weiter. Immer weiter ... Wo deine Haut so ist, wie ich sie mag – warm und feucht.“ (S. 53)
„Aber du, Schwester, du bist ein Nichts, Du bist Dreck, Abfall, ein unflätiges Aas, das man nur beiseitetreten kann. Du bist eine entartete Mutter, die ihr eigenes Kind von sich stößt. Schlimmer noch: die ihr eigenes Kind, Blut von ihrem Blut, Fleisch von ihrem Fleisch, Seele von ihrer Seele, ermorden will. Du bist der Vergebung unwert. Gott ist von deiner Grausamkeit entsetzt. ... Du bist schuldig, Schwester. Wir verurteilen dich zur ewigen Wiederholung, zur ewigen Berührung, zur ewigen Penetration.“ (S. 80)
„Du solltest einsehen, daß man, wenn man solche Dinge tut, Strafe verdient. Du bist schuld. Du allein bist schuld.“ (S. 86)
Die Leidensgeschichte von Malgorzata Saramonowicz ist kein „Lesevergnügen“, aber sie zieht uns in ihre Erfahrung, sie hilft uns auf unvergeßliche Weise, das Unbegreifliche zu verstehen.
Gudrun Eberhard, Nov. 2001
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