FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2009

 




Stiftung zum Wohl des Pflegekindes (Hg.):

Grundbedürfnisse von Kindern - Vernachlässigte und misshandelte Kinder im Blickfeld helfender Instanzen

 Idstein: Schulz-Kirchner, 2009. 297 Seiten
ISBN 978-3-8248-0633-1; 19,95 Euro

Reihe: Jahrbuch des Pflegekinderwesens Band 5


I. Inhaltlicher Überblick
In nunmehr 11-jähriger Tradition hat die Stiftung zum Wohl des Pflegekindes kürzlich ihr 5. Jahrbuch des Pflegekinderwesens mit dem Titel "Grundbedürfnisse von Kindern - Vernachlässigte und misshandelte Kinder im Blickfeld helfender Instanzen" im Schulz-Kirchner Verlag publiziert. Das Jahrbuch ist in vier inhaltliche Teile sowie einen Anhang mit Adressen und Gesetzestexten gegliedert.

Dem Anliegen der Stiftung entsprechend, Fragen des Pflegekinderwesens vor dem Hintergrund unterschiedlicher Disziplinen und Professionen wissenschaftlich und handlungspraktisch zu beleuchten, verbindet auch dieses Jahrbuch wie seine Vorgänger Beiträge von VerteterInnen aus Entwicklungspsychologie und Recht mit solchen von PraktikerInnen aus Pädagogik und Therapie. Ergänzend kommen in 2009 ein kriminalpolizeilicher und zwei journalistische Beiträge hinzu. Die Veröffentlichungen basieren in weiten Teilen auf Referaten, die auf den von der Stiftung veranstalteten Fachtagungen 18. (2007, Hamburg) und 19. Tag des Kindeswohls (2008, Potsdam) vorgetragen wurden.

Im Folgenden werden die insgesamt 14 Beiträge vorgestellt - beginnend mit dem ersten Buchteil "Bedürfnisse von Pflegekindern".

Die international renommierte Bindungsforscherin Karin Grossmann erläutert in ihrem Beitrag "Bindung und empfundene Zugehörigkeit" zunächst die Grundlagen des Bindungsverhaltens beim Säugling, das als angeborene Neigung der Sicherung des Überlebens dient. Die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Bindungsqualitäten ist den Erkenntnissen der Bindungsforschung zufolge nicht an biologische Verwandtschaft, sondern an die versorgende Person gekoppelt und zudem abhängig von der Beschaffenheit der Fürsorge. Demnach ermöglicht feinfühliges und konstantes Fürsorgeverhalten die Ausbildung eines sicheren Bindungsmusters, das als eine wesentliche Grundlage für eine gesunde Kindesentwicklung anerkannt ist, während dysfunktionales Elternverhalten eine desorganisierte Bindung begünstigt. Interessant sind die aufgezeigten Verbindungen zwischen Bindungs- und Gehirnentwicklung, wie sie die Neurowissenschaften in jüngerer Zeit belegt haben. Grossmann beschließt ihren Beitrag mit Forschungsergebnissen über angenommene Kinder und folgert daraus für die Arbeit mit Pflegekindern, dass diese nach traumatischen Erfahrungen mit den Geburtsmüttern die Chance auf korrigierende Bindungserfahrungen in der Pflegefamilie eher nutzen können, wenn die Pflegepersonen ihnen Sicherheit im Bindungsverhalten authentisch vermitteln können.

Dem Beitrag schließt sich die Verschriftlichung eines Fernsehbeitrags der Journalistin Astrid Springer an, in dem "die schwierige Situation von Pflegekindern und ihren Pflegefamilien gegenüber den leiblichen Eltern" anhand von Gesprächsausschnitten mit Experten des Pflegekinderwesens nachgezeichnet wird. Es zeigt sich dabei, wie sehr das Leben von Pflegekindern dem Spannungsverhältnis von "Realität und Recht" ausgesetzt ist. Das Glück, das hingegen früh adoptierte Kinder auch als Erwachsene noch erleben, weil ihnen "eine Odyssee durch Heime und Pflegefamilien erspart" wurde, schildert Annette Mingels in ihrem autobiografischen Bericht. Die Schriftstellerin erzählt, dass die erfahrene primäre Bemutterung und ihre bedingungslose Annahme durch die Adoptiveltern sie zu einem Menschen mit seelischer Stabilität und eigener Identität werden ließen, ohne die sie die Kraft nicht hätte aufbringen können, ihrer Geburtsmutter zu begegnen.

Im zweiten Buchteil berichtet zunächst Gina Graichen, Leiterin des in der Bundesrepublik einzigen „Fachkommissariats für Delikte an Schutzbefohlenen“ im Landeskriminalamt Berlin, über die alltägliche Lebenserfahrung vernachlässigter  und misshandelter Kinder aus Sicht ihrer 25-jährigen Berufserfahrung bei der Kriminalpolizei. Sachlich beschreibt sie die Martyrien von Kindern aller Altersstufen und ermöglicht es dem Leser somit, die Rohheit und Verachtung, der Kinder körperlich und seelisch durch die sie misshandelnden Eltern und Stiefelternteile ausgesetzt werden, ungeschönt zu erkennen. Die Folgen der Kindesvernachlässigung fasst Graichen in der Aussage zusammen, dass "vernachlässigte Kinder (..) emotional für ihr ganzes weiteres Leben geschädigt" und doch "die Erwachsenen und somit die Eltern von morgen sind". An ihre Ausführungen zu den Straftatbeständen "Misshandlung von Schutzbefohlenen" und "Verletzung der Fürsorge- und Erziehungspflicht" sowie zur Dunkelziffer in diesem Feld schließt sie zwei kritische Anmerkungen an: Datenschutz und Schweigepflicht von z.B. ÄrztInnen oder LehrerInnen sollten nicht der Beendigung auswegloser Lebenssituationen im Weg stehen. Mit Blick auf jugendamtliches Handeln sei anzumerken, "dass familienerhaltende Maßnahmen die eine Seite der Medaille sind, das manchmal jahrelange Leiden eines Kindes zu beenden, die andere".

Die von Graichen aus praktischer Erfahrung gewonnenen Einsichten in die Persönlichkeitsstruktur misshandelnder Eltern werden im nachfolgenden Beitrag der Familientherapeutin und Psychoanalytikerin Christiane Ludwig-Körner durch psychologische Theorien bestätigt. Diesen zufolge weisen psychisch hoch belastete Eltern rasch wechselnde Gefühlszustände auf, die es ihnen sowohl enorm erschweren, sich in die Bedürfnisse ihres Kindes einzufühlen, als auch das Misshandlungsrisiko erhöhen. Sie schildert "das Erleben von Säuglingen und Kleinkindern in defizitären Lebensverhältnissen" ab der vorgeburtlichen Phase und leitet daraus Konsequenzen für die Interventionen der Jugendhilfe ab. Ludwig-Körner gibt zu bedenken, "dass Ressourcenorientierung ohne den Gegenpol eine Defizits nicht denkbar" und Kindesschutz ohne eine sachliche Beurteilung, ob Lebensverhältnisse für Kinder defizitär sind, nicht umsetzbar sei. Der Fokus des Beitrags richtet sich auf den Ausbau notwendiger Jugendhilfestrukturen und die schon in der grundständigen Ausbildung unerlässliche Qualifizierung der Fachkräfte im Erkennen von hoch belasteten Säuglingen und Kleinkindern, um die im Einzelfall geeignete Hilfe etablieren zu können.

Inhaltlich direkt im Anschluss steht der Aufsatz von Christine Köckeritz, Professorin an der Fachhochschule Esslingen, die sich dem Erleben von älteren Kindern und Jugendlichen zuwendet und feststellt, dass hierüber noch zu wenig bekannt sei. Sie legt die in der Jugendhilfe häufig angeführte Anhänglichkeit misshandelter Kinder an die Eltern aus entwicklungspsychologischer Sicht als Anzeichen von Parentifizierung dar, d.h. der Übernahme der Erwachsenenrolle innerhalb der Familie zu Lasten der eigenen Autonomieentwicklung. Auch die zum psychischen Überleben erforderlichen Abwehrmechanismen der Kinder könnten zu leicht als Liebe und Loyaliät gegenüber den Misshandlern fehlgedeutet werden. In den abschließenden Thesen zu Anforderungen an die Jugendhilfe formuliert Köckeritz das Anrecht hoch belasteter Heranwachsender auf wirksame Jugendhilfeinterventionen und beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, wie die Jugendlichen nach einer Fremdunterbringung in ihren oft ambivalenten Bewegungen zwischen Distanzierungs- und Nähewunsch gegenüber den Herkunftseltern adäquat begleitet werden können.

Gisela Zenz, Juristin und Psychoanalytikerin, unterstreicht in ihrem Beitrag zur "Unterbringung misshandelter und vernachlässigter Kinder in Pflegefamilien" die Bedeutung des Pflegekinderwesens als eine unerlässliche Ressource der Jugendhilfe für psychisch schwer belastete und traumatisierte Kinder. Sie fordert die Bereitstellung von Finanzmitteln zur Aus- und Fortbildung sowie Beratung für MitarbeiterInnen der Allgemeinen Sozialdienste und Pflegekinderdienste in den diesbezüglich spezifischen sozialpädagogischen und juristischen Fragen. Nur so könne den von ihr auf Umsetzungsebene identifizierten und im Bericht beschriebenen Fehlentscheidungen und Mythen, etwa zur Belassung der Kinder im elterlichen Haushalt trotz Gefährdung oder zur Offenhaltung der Lebensperspektive nach der Herausnahme, nachhaltig abgeholfen werden. Dies aber sei Voraussetzung dafür, dass die bereits vorhandenen rechtlichen und diagnostischen Möglichkeiten im Kinderschutz differenziert genutzt werden könnten. Begleitend sei die Supervision der MitarbeiterInnen in diesem sensiblen Handlungsfeld unerlässlich.

Die Diplompädagogin und Verfahrenspflegerin Hildegard Niestroj setzt sich in ihrem Beitrag mit der "Risikoeinschätzung in der Fallarbeit" auseinander und belegt an zahlreichen akribisch recherchierten Beispielen, dass Indikatoren von Kindeswohlgefährdung häufig dann übersehen werden, wenn die Interessen von Kindern gegenüber einer Schädigung durch deren leibliche Eltern geschützt werden müssen. Familialen Traumatisierungen werde in der Regel mit Abwehrprozessen begegnet, wodurch sich die Helfer vor dem zeitweisen Mitfühlen mit der inneren Katastrophe der misshandelten, missbrauchten und vernachlässigten Kinder zu schützen versuchten. Der Wahrung allgemein anerkannter Wertmaßstäbe, wie der Achtung vor dem Leben, vor Integrität und körperlicher Unversehrtheit, auch in Jugendhilfeinterventionen konsequent Recht zu verschaffen, sei deshalb nicht ohne weiteres gewährleistet. Detailliert fächert Niestroj die latenten psychologischen Abwehrvorgänge auf, die zur Nichtwahrnehmung oder Leugnung der traumatischen Erfahrungen von (Pflege)Kindern führen und konfrontiert dokumentierte Fehleinschätzungen mit einer realistischen Einschätzung von Kindeswohlgefährdungen und den Grundbedürfnissen von Säuglingen und kleinen Kindern.

Gerhard Fieseler, emeritierter Professor für Recht und Anika Hannemann, Mitarbeiterin am Institut für Gesellschaftswissenschaften der TU Berlin, besprechen in ihrem Gemeinschaftsbeitrag die Balance zwischen der aus Art. 6 Grundgesetz folgenden Erziehungsautonomie der Eltern und dem staatlichen Wächteramt zur Gefahrenabwehr von Gefährdungen des Kindeswohls, da in dieser Hinsicht seit Einführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes "eine große Verunsicherung in der jugendhilferechtlichen Praxis" zu beobachten sei. Diese sei unter anderem auch durch einzelne, sachlich nicht nachvollziehbare Gerichtsbeschlüsse begünstigt worden. Hannemann erläutert sodann die rechtlichen Grundlagen des Eltern-Kind-Verhältnisses sowie des Verhältnisses Staat-Kind-Eltern, wie sie sich aus Grundgesetz und BGB herleiten und leitet zu den jugendhilferechtlichen Verpflichtungen zur Wahrnehmung des staatlichen Wächteramtes über. In seiner Kritik "schlechterdings unverständlicher" Entscheidungen der Rechtsprechung zeigt Fieseler die Fallstricke einer juristisch nicht begründbaren Überbetonung des Elternrechts sowie der biologischen Abstammung auf. Er ermutigt die VertreterInnen der Jugendhilfe nachdrücklich dazu, schon aus berufsethischen Gründen und "ohne jedes schlechte Gewissen" gegen richterliche Fehlentscheidungen "auf Augenhöhe" zu intervenieren, denn dies gebiete schon die Garantenpflicht.

Der folgende dritte Buchteil "Aus Fehlern lernen? Drei kritische Fallbeispiele" widmet sich eben solchen Fällen, in denen Justiz und/oder Jugendhilfe ihrem Wächteramt trotz vorliegender Hinweise auf bzw. Feststellung von gravierender Kindeswohlgefährdung aus ideologischen Gründen nicht nachkamen.

Der Psychologe und Therapeut Arnim Westermann zeichnet in seiner Fallschilderung die Folgen nach, die entstehen, wenn HelferInnen sich aufgrund fehlender Fachkenntnisse und diagnostischer Kompetenzen stärker mit den sichtbar problembelasteten Eltern, als mit dem weniger sichtbaren Leiden der Kinder identifizieren: die Leugnung traumatischer Erfahrungen der Kinder, deren medizinische Missdeutung als schwere Entwicklungsverzögerungen bzw. Behinderungen symptomorientierte Behandlungen nach sich zieht. Hierdurch bleibt das traumatische Geschehen im Inneren des Kindes verschlossen. Anhand von Auszügen des Berichtes einer Pflegemutter werden der Prozess der Anerkennung der Lebenserfahrungen eines vernachlässigten, geschlagenen und missbrauchten Pflegekindes sowie der mühevolle Weg beschrieben, diese Erfahrungen durch neue, korrigierende zu ergänzen. Diesen Weg für und gemeinsam mit den Pflegekindern zu beschreiten, vergleicht Westermann "in unserer Gesellschaft mit einer Sisyphusarbeit, die oft vergeblich ist, wenn die Anerkennung der Realität tief verwurzelte Überzeugungen verletzt oder Ideologien in Frage stellt".

"Ideologische Verblendung" von MitarbeiterInnen der involvierten freien und öffentlichen Jugendhilfeträger haben Ludwig Salgo zufolge auch eine Rolle bei den mehrfachen gravierenden Fehleinschätzungen der Lebenslage des Jungen Kevin in Bremen gespielt. Diese führten dazu, dass die Eltern des Kindes eine ganze Reihe "anvisierter" ambulanter Hilfen ablehnen konnten, ohne dass es zu der seit Geburt des Jungen von Gesundheitssystem und Polizei immer wieder angeregten Fremdunterbringung Kevins kam. Der Professor für Recht an der Fachhochschule Frankfurt schildert aus dem Blickwinkel des Schutzauftrags und der Fachlichkeit der Jugendhilfe seine "ersten Eindrücke aus der Lektüre des Untersuchungsberichts der Bremischen Bürgerschaft" und empfiehlt diesen "als Pflichtlektüre der politisch für Jugendhilfestrukturen Verantwortlichen auf allen Ebenen" - mit den entsprechenden Konsequenzen in Aus- und Fortbildung für Fachkräfte aus Jugendamt, Justiz- und Gesundheitssystem. Zentrale Mängel weist Salgo der Jugendhilfe hier in der "verfehlten Einstellung zum Verhältnis von Hilfe und Kontrolle" nach, so dass die besten Gesetzte (§8a SGB VIII) allein "bei einem totalen Systemausfall wenig ausrichten" könnten.

Dass Gesetz und Recht nicht immer Gerechtigkeit versprechen, belegt Gisela Zenz in ihrem Beitrag zum "Fall Görgülü in der Sicht des Bundesgerichtshofs" und fokussiert auf dessen Überschreitung seiner Fachgrenzen durch die Nichtbeachtung vorliegender Sachverständigengutachten, an deren Stelle der BGH Alltagstheorien und eigene Deutungen "unbewusster psychologischer Vorgänge" als entscheidungsleitende Argumente setzte. Auch zeige der in sich sehr komplexe Fall Görgülü auf unglückliche Weise die "psychologisch und rechtlich unhaltbare Konstruktion" des Gerichts, dass Pflegekindschaft "institutionell auf Zeit angelegt sei". Dies stehe im Widerspruch zur jugendhilferechtlichen Differenzierung der Vollzeitpflege, da dort zwischen Kurzzeit- und Dauerpflege unterschieden wird und die Abwägung in Richtung einer auf Dauer angelegten Lebensperspektive sogar die Prüfung einer Adoption einbezieht. Auch verleite es zu der fehlgeleiteten Folgerung, "Pflegeeltern müssten grundsätzlich jederzeit bereit sein, ein Kind wieder herauszugeben - jedenfalls an die leiblichen Eltern". Besondere Brisanz erhielten solche Konstruktionen zudem immer dann, wenn -wie bei dem Jungen Görgülü der Fall- zwischen Kind und herausverlangendem Elternteil ausschließlich eine biologische Verwandtschaft, eine genetische Abstammung besteht, nicht jedoch eine soziale Beziehung oder persönliche Bindung. Rückmeldungen über den weiteren Verlauf derartig durch die Justiz geschädigter Kinderbiografien an die verantwortlichen RichterInnen könnten diesen die Grenzen des Rechts in der Erzwingung von menschlichen Beziehungen und gleichzeitig die Konsequenzen der Macht des Gerichts vor Augen führen, gewachsene Bindungen zu zerstören.

Im vierten Buchteil "Pflegekindschaft in der Rechtsprechung" zeichnet zunächst noch einmal Ludwig Salgo die Entwicklung der seit 1968 zur Pflegekindschaft ergangenen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) nach und zeigt die in der Summe der entschiedenen Einzelfälle feststellbaren Widersprüche auf. Verfassungsrechtlich prekäre Konfliktkonstellationen, wie sie bei der Kollision von Elternrecht, Schutz der Pflegefamilie und Persönlichkeitsrechten des Kindes etwa bei Herausgabeverlangen gegeben seien, habe das BVerfG bereits seit 1984 wiederholt durch die Anerkennung gewachsener Bindungen zwischen Kind und Pflegeeltern beantwortet. Dennoch wiesen gerade die jüngeren Beschlüsse auch andere Tendenzen auf, wobei Salgo vor der verkürzten Rezeption einzelner Entscheidungen durch die fachgerichtliche Rechtsprechung sowie vor der Fehlinterpretation von Einzelfallaussagen als Grundsatzentscheidungen durch die Jugendhilfe warnt. Zu Missverständnissen könne es ebenfalls kommen, wenn die populären Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zur Pflegekindschaft (Fälle Kutzner, Haase und Görgülü) als unter allen Umständen wegweisend und bindend für die deutsche Rechtsprechung interpretiert würden. Einerseits würde damit das Subsidiaritätsprinzip nicht gewahrt werden, wie die Juristin Gülsen Schorn in ihren "Anmerkungen zur Pflegekinder betreffenden Rechtsprechung des EMRK" darlegt. Andererseits widersetzten sich diese Entscheidungen den grundlegenden gesicherten Erkenntnissen der außerjuristischen Fachwissenschaften zum kindlichen Zeitempfinden und zum Bindungsgeschehen, wenn die Zusammenführung biologischer Familien zum absoluten Wert an sich erhoben werde.

Dass es durchaus differenzierte fachgerichtliche Entscheidungen zu Umgangskonflikten, Herausgabeverlangen und anderen zentralen Fragen der Pflegekindschaft gibt, zeigen die im vierten Buchteil abgedruckten Rechtsprechungsauszüge, die insbesondere, aber nicht nur für RechtsanwältInnen und RichterInnen interessant sein dürften.

II. Einordnung in den Fachdiskurs
Die Stiftung zum Wohl des Pflegekindes hat sich zum Ziel gesetzt, die jeweils aktuellen Ergebnisse kinderpsychologischer Forschung auf ihre Bedeutung für die Weiterentwicklung des Pflegekinderwesens zu befragen und diese Erkenntnisse durch Vorträge und Publikationen der Fachöffentlichkeit zugänglich zu machen. Diesem Ziel folgend vereint dieses Jahrbuch einzelne, gut aufeinander aufbauende Beiträge zur Pflegekindschaft aus Wissenschaft und Praxis mit zwei journalistischen Beiträgen, die die referierten Forschungsergebnisse um authentische Einblicke in die sehr unterschiedlichen Verläufe von Kinderbiografien ergänzen, die ihren Ausgangspunkt unabhängig des sozialen Status der Eltern in "defizitären Lebensverhältnissen" nehmen. Mit dieser Formulierung positioniert sich die Stiftung deutlich zu ihrer konsequenten Orientierung auf das Wohl von Pflegekindern, indem kindliche Grundbedürfnisse als fundamentale Werte postuliert werden, die, wo immer nötig, durch helfende Instanzen geschützt werden sollten. Damit setzt das Jahrbuch die etablierte fachliche Ausrichtung der Stiftung konsequent fort, die mit dem Satz "In Kindesschutzfragen rangiert Kindeswohl vor Elternrecht" auf den Begriff gebracht werden kann.

Die Lektüre der Beiträge lädt dazu ein, die im Jahrbuch geführte kritische Diskussion aufzugreifen und in der weiteren Fachöffentlichkeit des Pflegekinderwesens, auf Tagungen und ggf. auch in Gerichtsverhandlungen weiterzuführen.

III. Kritische Würdigung
Das 5. Jahrbuch ist geeignet, einen großen Leserkreis zu erreichen: MitarbeiterInnen der Jugendhilfe sowie Pflegeeltern, TherapeutInnen, JuristInnen und WissenschaftlerInnen, aber auch interessierte Laien wie etwa politische Entscheidungsträger können gleichermaßen von der Lektüre profitieren.

Ob die Zusammenstellung des ersten Buchteils "Bedürfnisse von Pflegekindern" mit einem wissenschaftlichen neben zwei populärwissenschaftlichen Beiträgen passend ist, wird der Leser je nach fachlichem Hintergrund und persönlichem Interesse selbst entscheiden. Die folgenden drei Buchteile sowie der Gesamtaufbau hingegen überzeugen in Themenauswahl und Gliederung durch Kohärenz. Eine sinnvolle inhaltliche Ergänzung ist auch die Weiterführung des im vierten Jahrbuch begonnenen Abdrucks von Rechtsprechungsauszügen verschiedener Instanzen (Amtsgericht bis Bundesgerichtshof), die sich mit zentralen Fragen des Pflegekinderwesens befassen. Zudem bietet der Annex mit dem Auszug einschlägiger Gesetzestexte und den Adressen von RechtsanwältInnen, die sich auf die Vertretung in Pflegekindschaftssachen spezialisiert haben, den LeserInnen wertvolle praktische Hilfen. Die zahlreichen Literaturverweise und Belege am Ende der Beiträge ermöglichen überdies die gezielte vertiefende Lektüre aktueller Literatur zur Pflegekindschaft.

Insgesamt betrachtet leistet das aktuelle Jahrbuch mit seinem Tenor einer kritischen Distanzierung zur einseitigen Orientierung an Elternrechten und der Verharmlosung von Erziehungsdefiziten nicht nur einen wichtigen Beitrag zum Pflegekinderwesen, sondern auch zu der in den vergangenen Jahren bundesweit rege geführten Fachdiskussion über die Weiterentwicklung des Kinderschutzes.

Rezensentin
Dipl.- Päd. Mériem Diouani-Streek
Doktorandin am Fachbereich Erziehungswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt mit einer Dissertation zur Pflegekindschaft. Autorin des Buches
"Umgang bei Pflegekindschaft", Books on Demand 2005.
Kontakt:
M.Diouani@em.uni-frankfurt.de

 

Onlinebestellung über unseren Partner

Liste der rezensierten bzw. präsentierten Bücher

 

 

[AGSP] [Aufgaben / Mitarbeiter] [Aktivitäten] [Veröffentlichungen] [Suchhilfen] [FORUM] [Magazin] [JG 2011 +] [JG 2010] [JG 2009] [JG 2008] [JG 2007] [JG 2006] [JG 2005] [JG 2004] [JG 2003] [JG 2002] [JG 2001] [JG 2000] [Sachgebiete] [Intern] [Buchbestellung] [Kontakte] [Impressum]

[Haftungsausschluss]

[Buchempfehlungen] [zu den Jahrgängen]

Google
  Web www.agsp.de   

 

 

 

 

 

simyo - Einfach mobil telefonieren!

 


 

Google
Web www.agsp.de

 

Anzeigen

 

 

 

 


www.ink-paradies.de  -  Einfach preiswert drucken