FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2008

 



Marianne Leuzinger-Bohleber, Gerhard Roth,
Anna Buchheim (Hrsg.)

Psychoanalyse – Neurobiologie
 – Trauma

Schattauer, 2008
(200 Seiten, 39.95 Euro)

 

Die Herausgeber:
Marianne Leuzinger-Bohleber,
Prof. Dr. phil. habil., Direktorin am Sigmund-Freud-Institut; Professorin für Psychoanalytische Psychologie und Direktorin des Instituts für Psychoanalyse an der Universität Kassel.
Gerhard Roth: Prof. Dr. Dr., Professor für Verhaltensbiologie und Direktor am Institut für Hirnforschung an der Univ. Bremen; Rektor des Hanse-Wissenschaftskollegs Delmenhorst.
Anna Buchheim:
Dipl.-Psych. Dr. biol. hum., Psychoanalytikerin und Leiterin der Arbeitsgruppe Klinische Bindungsforschung an der Klinik für Psychosom. Medizin und Psychotherapie, Univ. Ulm.

Das Anliegen der Herausgeber:
»Noch vor wenigen Jahren standen sich die beiden Disziplinen Psychologie und Neurobiologie skeptisch bis feindselig gegenüber. Zunehmend weicht diese Haltung einer gegenseitigen Annäherung und Wissensintegration. Diese konvergierende Forschung aus unterschiedlichen Perspektiven ermöglicht ein vertieftes Verständnis der Funktionsweisen des menschlichen Geistes.
     Zu dem hochrelevanten und aktuellen Themenkomplex Trauma ist der Kenntnisstand auf beiden Seiten weit fortgeschritten: Die neurobiologischen Forschungsergebnisse sind aus psychoanalytischer und psychiatrischer Sicht außerordentlich faszinierend und vielversprechend. Aufschlussreich für Neurowissenschaftler wiederum sind die reichen klinischen Erfahrungen der Psychoanalyse mit Traumapatienten. Aus dieser Synopse entstehen u.a. neue Erkenntnisse über Extremtraumatisierungen und deren Therapie.
     In diesem Buch stellen renommierte Experten beider Gebiete neue Forschungsergebnisse vor. Sie behandeln Fragen wie u.a. die nach den psychischen und neurobiologischen Mechanismen bei der Posttraumatischen Belastungsstörung. Eindrucksvoll wird gezeigt, welche hirnorganischen Veränderungen dabei auftreten, aber auch wie Patienten mit neurologischen Schädigungen psychoanalytisch behandelt werden können.
     Das Werk liefert wegweisende programmatische Aussagen über das künftige Verhältnis zwischen Hirnforschung und Psychologie und vermittelt transdisziplinäres Wissen zum Thema Trauma anhand
- konkreter klinischer Fallbeispiele,
- experimenteller und neurobiologischer Studien.
- wissenschaftshistorischer und -theoretischer Überlegungen und Konzepte.«
(aus dem Klappentext)

Die anderen Autoren:
Dr. phil. Dipl.-Psych. Werner Bohleber,
Kettenhofweg 62, Frankfurt/M.
Prof. Dr. Peter Fonagy, Freud Memorial Professor of Psychoanalysis, Univ. College London
Prof. Dr. phil. Siri Erika Gullestad, Dep. of Psychology, University of Oslo
Prof. Dr. Michael Hagner, Eidgenössische Technische Hochschule, Zürich
Prof. Dr. med. Peter Henningsen, Klinik für Psychosom. Medizin und Psychotherapie, TU München
Prof. Dr. med. Horst Kächele, Klinik für Psychosom. Medizin und Psychotherapie, Universitätsklinikum Ulm
Prof. Dr. Johannes Lehtonen, Dep. of Psychiatry Kuopio University Hospital
Prof. Mauro Mancia, M.D. †, eh. Emeritus für Neurophysiologie an der Univ. Mailand, Lehranalytiker in der Italienischen Psychoanal. Vereinigung
Prof. Dr. Hans Joachim Markowitsch, Universität Bielefeld, Physiologische Psychologie
Prof. Dr. sc. techn. Rolf Pfeifer, Universität Zürich, Institut für Informatik
Maija Purhonen, MD, PhD, Dep. of Psychiatry Kuopio University Hospital
Dipl.-Psych. Nadine Reinhold, Universität Bielefeld, Physiologische Psychologie
Prof. Dr. med. Ulrich Sachsse, Fachklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Göttingen
Prof. Dr. Mark Solms, University of Cape Town, Psychology Department
Minna Valkonen-Korhonen, MD, PhD, Dep. of Psychiatry, Kuopio Univ. Hospital

Die Hauptüberschriften des Inhaltsverzeichnisses:

Einführung

1.   M. Leuzinger-Bohleber, G. Roth, A. Buchheim:
Trauma im Fokus von Psychoanalyse und Neurowissenschaften

2.   M. Mancia:
Die Psychoanalyse im Dialog mit den Neurowissenschaften

3.   M. Solms:
Die neuro-psychoanalytische Forschung am Beispiel des Korsakow-Syndroms

Psychoanalytische Traumaforschung

4.   W. Bohleber:
Einige Probleme psychoanalytischer Traumatheorie

5.   S. Gullestad:
Die Dynmaik der Dissoziation am Beispiel der Multiplen Persönlichkeitsstörung

Neurobiologische Traumaforschung

6.   U. Sachsse, G. Roth:
Die Integration neurobiologischer und psychoanalytischer Ergebnisse in der Behandlung Traumatisierter

7.   A. Buchheim, H. Kächele:
Neurobiologie und Bindung bei bindungstraumatisierten Patientinnen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung

8.   N. Reinhold, H.-J. Markowitsch:
Stress und Trauma als Auslöser für Gedächtnisstörungen: das mnestische Blockadesyndrom

9.   P. Fonagy:
Psychoanalyse und Bindungstrauma unter neurobiologischen Aspekten

10. J. Lehtonen, M. Purhonen, M. Valkonen-Korhonen:
Des Traumas frühe Wurzeln

Klinische , konzeptuelle und wissenschafts-theoretische Überlegungen

11. M. Leuzinger-Bohleber, P. Henningsen, R. Pfeifer:
Die psychoanalytische Konzeptforschung zum Trauma und die Gedächtnisforschung der Embodied Cognitive Science

12. Michael Hagner:
Der Geist bei der Arbeit - Die visuelle Repräsentation zerebraler Prozesse

Personen- und Sachwortverzeichnis

In ihrer gründlichen Einführung weisen die Herausgeber auf die naturwissenschaftlichen Wurzeln der Psychoanalyse und auf ihre gegenwärtige Wiederbelebung durch interdisziplinäre Kooperationen, z. B. auf die Tagung im Hanse-Wissenschaftskolleg hin, aus der dieser Sammelband hervorgegangen ist:
     »Bekanntlich hatte Freud sein Leben lang gehofft, neuere Entwicklungen in den Neurowissenschaften könnten dazu beitragen, psychoanalytische Prozesse auch naturwissenschaftlich zu erforschen. In Kapitel 3, S. 32, belegt der englische Neurologe und Psychoanalytiker Mark Solms (wie bereits in vielen seiner früheren historischen und theoretischen Beiträgen), dass sich Freud - angesichts des Standes der neurowissenschaftlichen Methoden seiner Zeit – von dieser Vision abwandte und die Psychoanalyse als ausschließlich psychologische Wissenschaft des Unbewussten definierte. Neuere Entwicklungen in den Neurowissenschaften, z.B. die Untersuchung des Gehirns am lebenden Menschen mithilfe von bildgebenden Verfahren, aber auch die von Solms und anderen psychoanalytischen Forschern beschriebene neuroanatomische Methode, haben den interdisziplinären Dialog zwischen der Psychoanalyse und den Neurowissenschaften in den letzten Jahren befruchtet und intensiviert. ….
     Um die vielschichtigen und komplexen Beobachtungen in der psychoanalytischen Situation zu konzeptualisieren, hat die Psychoanalyse differenzierte Erklärungsansätze entwickelt, die auch für Neurowissenschaftler von Interesse sein könnten. Daher stand die Kooperation und ein vertiefter Verständigungsversuch zwischen Neurowissenschaften und Psychoanalyse im Zentrum der Tagung, die im Februar 2006 im Hanse Wissenschaftskolleg Bremen stattfand, und über deren Ergebnisse wir hier berichten (s.a. Leuzinger-Bohleber 2007).
     Bei der Konzeptualisierung der Tagung schien es uns sinnvoll, eine thematische Eingrenzung vorzunehmen, und zwar auf ein Feld, auf dem der Kenntnisstand beider beteiligten Disziplinen weit fortgeschritten ist und sich Konvergenzpunkte bereits abzeichnen. Wir entschieden uns für die interdisziplinäre Beleuchtung von 'Psychotrauma' bzw. der 'Posttraumatischen Belastungsstörung'.« (S. 4/5)

Bei der Auswahl der folgenden Textproben – aus jedem Referat eine – wird genutzt, dass die meisten Beiträge mit Zusammenfassungen bzw. Schlussfolgerungen abschließen.

Mauro Mancia referiert sehr bedeutsame Untersuchungen zur Neurophysiologie des Autismus:
»In diesem Zusammenhang verdienen neuere von Dapretto ( 2005) mit dem funktionellen Kernspin durchgeführte Untersuchungen höchstes Interesse. Er und seine Mitarbeiter konnten nachweisen, dass bei autistischen Kindern die Spiegelneuronen in der anterioren frontalen Hirnwindung (Pars opercularis) gar nicht oder nur wenig aktiv sind. Genauer: Die Aktivität in diesem Bereich stand in umgekehrter Beziehung zur Schwere der autistischen Symptome. Dies lässt vermuten, dass die Fehlfunktion der Spiegelneuronen verantwortlich ist für die Defizite in den sozialen Beziehungen von Autisten. Das führt jedoch zu einem Problem, das sich nicht leicht wird lösen lassen: Liegt der Ursprung der autistischen Symptome in einem fehlerhaften System der Spiegelneuronen, das aus genetischen Gründen schon bei der Geburt angelegt ist? Oder ist Autismus eine umweltbedingte traumatische Störung, deren Ursprung vor allem im Scheitern einer primären sozialen Beziehung zu suchen ist, was die Expression bestimmter Gene verhindert, die essenziell sind für das Funktionieren des Systems der Spiegelneuronen in einer frühen Lebensphase und für die geistige Entwicklung des Kindes insgesamt?
     In jedem Fall liefern aber diese Forschungsergebnisse bedeutsame neurophysiologische Korrelate von geistigen Prozessen, was für die psychoanalytische Theorie und Praxis großes Gewicht hat.« (S. 28)

Mark Solms belegt die Fruchtbarkeit der Verbindung psychoanalytischer mit neurowissenschaftlichen Methoden am Beispiel des Korsakow-Syndroms:
»Dieses einfache Beispiel zeigt, dass es mit der klinisch-anatomischen Korrelationsmethode möglich wird, in der funktionalen Anatomie Fuß zu fassen, damit wir unsere psychoanalytischen Konzepte mit der funktionalen Anatomie des Gehirns verknüpfen können. Wenn man, statt wie ich nur ein Syndrom zu beschreiben und mit nur einer Theorie zu erklären, eine Untersuchung aller von verschiedenen Gehirnschäden ausgelösten Syndrome durchführte, würde das natürlich ein weitaus ergiebigeres Bild vermitteln und damit zu einem besseren theoretischen Verständnis der Prozesse jedes einzelnen Syndroms führen. Zum Beispiel tritt primärprozesshaftes Denken auch mit Schädigungen anderer Areale auf und auch bei anderen Syndromen. Außerdem würde eine Untersuchung aller Syndrome einen Überblick geben über die verschiedenen Aspekte dieses anderen komplexen Phänomens genannt Sekundärvorgang. Also könnten wir nicht nur Verknüpfungen zwischen unseren psychoanalytischen Theorien und den physischen Strukturen herstellen, sondern hätten bei den damit verbundenen wissenschaftlichen Vorteilen auch die Gelegenheit, ein umfassendes und detailliertes Verständnis des Sekundärvorgangs zu gewinnen. Statt unserer groben Rohskizze hätten wir dann eine Reinzeichnung des Konzeptes. Wie bei allen bisherigen- psychologischen Theorien unserer Untersuchungen, mit denen wir unsere theoretischen Konzepte mit der funktionellen Anatomie verlinken wollen, finden sich auch hier Fehler und Mängel, die im Laufe von weiteren Untersuchungen zu verbessem wären. Eine verbesserte Theorie der Funktionsweise von Gehirn und Psyche aufzustellen ist schlussendlich das Ziel von Neurowissenschaftlern wie Psychoanalytikern.« (S. 42)

Werner Bohleber vertritt eine Zwischenposition, die wert ist, an anderer Stelle ausführlicher dargelegt zu werden:
»Ich beziehe damit eine Position zwischen den Polen: der empirischen Traumaforscher, welche eine exakte Replik des traumatischen Geschehens im Gedächtnis annehmen, und den psychoanalytischen, welche das Trauma nur im Rahmen der allgemeinen Funktionsweise psychischer Realität verstehen wollen.
     Eine solche Mittelposition macht nun aber die Frage dringlich, ob eine therapeutische Rekonstruktion traumatischer Ereignisse überhaupt möglich ist. Die Aufdeckung der Realität des Traumas, d.h. seine Historisierung, wie fragmentarisch oder annähernd sie auch sein mag, ist die Voraussetzung, um seine sekundäre Bearbeitung und Überformung mit unbewussten Phantasien und Bedeutungen, die Schuldgefühle und Bestrafungstendenzen beinhalten, aufzuklären und verstehbar zu machen. Damit wird Phantasie und traumatische Realität entflochten und das Ich erhält einen entlastenden Verstehensrahmen. Wenn in der Therapie durch die Analyse und Deutung der Übertragung und Gegenübertragung dafür sinnhafte Narrative entstehen ohne eine Rekonstruktion der verursachenden traumatischen Realität, so laufen diese Narrative Gefahr, Phantasie und Realität nicht abzugrenzen und im schlimmsten Fall den Patienten zu retraumatisieren.« (S. 53)

Siri Gullestad setzt sich mit der Kontroverse zwischen der freudianischen konfliktorientierten Dissoziationskonzeption und der defizitorientierten Auffassung Janets auseinander:
»In Zeiten der Traumaforschung für die Psychodynamik des Traumas zu plädieren, klingt, als widersetze man sich der dominanten "Ideologie" der für Janet (1889) und gegen Freud (1893-1895) argumentierenden Traumapsychologen. Auf die Bedeutung des Konflikts und der persönlichen Verarbeitung des Traumas hinzuweisen, kann schnell zu dem Vorwurf führen, man sehe das Kind nicht als Opfer oder sei unsensibel gegenüber dem Leid des Opfers. In solch einem ideologisch verbrämten Klima wäre der Analytiker womöglich weniger bereit, unbewusste Phantasien, die einen Konflikt hervorrufen, durchzuarbeiten.
     Eine spezielle Technik, um beispielsweise verschiedene "Alter-Persönlichkeiten" zum Reden zu bringen, wie man sie recht häufig bei der Behandlung von DID anwendet, braucht man in der Behandlung von multiplen Persönlichkeiten nicht. Wenn der Analytiker die 'unterschiedlichen "Alter-Persönlichkeiten" bzw. "Identitäten" in den Dialog mit einbezieht, besteht die Gefahr, die Fragmentierung zu verstärken. Stattdessen sollte ein potenziell strategisches "Ich" angesprochen werden, etwa durch affirmative Interventionen, die, wie dargelegt, das Selbsterleben des Patienten bestätigen und entscheidend sind, um sich als Agens (d.h. als handlungsfähig) zu erleben.
     Der Schwerpunkt meiner Arbeit lag also darauf zu zeigen, wie traumatische Ereignisse verarbeitet und in komplexe Haltungen und Charaktermustern integriert werden. Diese charakteristischen Persönlichkeitsmuster kommen im Stil der Beziehung des Patienten und in der Art des Umgangs mit dem Analytiker - also eher durch die Form als den Inhalt - und in der Gegenübertragung zum Ausdruck. Daher entspricht die Behandlung der DID durchaus der "üblichen psychoanalytischen Therapie". (S. 64/65)

Ulrich Sachsse und Gerhard Roth plädieren bei traumatisierten Patienten mit herabgesetzter Selbstkontrolle entschieden für Therapieformen die die Realitäts-, Selbst- und Affektkontrolle steigern:
»Fast alle Ergebnisse der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie und der Säuglingsforschung haben sich inzwischen hirnphysiologisch bestätigt. Die meisten psychoanalytischen Konzepte stehen zu zentralen Befunden der Hirnforschung nicht im Widerspruch. Einzig die traditionelle Form der psychoanalytischen Beziehungsgestaltung mit ihrer Arbeit in und an der Übertragung innerhalb der psychoanalytischen Beziehung scheint inzwischen einen progredient-regredienten Indikationsbereich zu haben. Für die Arbeit mit komplex Traumatisierten und/oder Borderline-Patienten sind die Gefahren, Nebenwirkungen und möglichen Schädigungen durch diese Beziehungsgestaltung klinisch so evident, dass ihre Anwendung der konkreten Begründung im Einzelfall bedarf. …. Für alle Patientengruppen, deren Selbstkontrolle herabgesetzt ist, sind ausschließlich Therapiestrategien indiziert und vertretbar, die die Realitätskontrolle, Selbstkontrolle und Affektkontrolle aktiv fördern. Auch dafür gibt es in der Psychoanalyse eine lange Tradition der angewandten Psychoanalyse, die die analytische Theorie klar und entschieden von der psychoanalytischen Praxis im engen Sinne zu trennen weiß (Sachsse 2004a).« (S. 94/95)

Anna Buchheim und Horst Kächele schließen ihren Beitrag mit folgendem Ausblick:
»In Bezug auf die Veränderbarkeit von Bindungsrepräsentationen gibt es bisher nur wenige Untersuchungen (Fonagy et al. 1996, Levy et al. 2006a) aber keine Studie, die Bindungsforschungsmethoden einsetzte, um den Therapieerfolg und die Veränderung von unbewussten Prozessen in einem neurobiologischen Kontext systematisch zu evaluieren.
Kürzlich initiierten wir in Zusammenarbeit mit dem Hanse- Wissenschaftskolleg, Delmenhorst und der Universität Bremen eine multizentrische Studie, an der Wissenschaftler verschiedener Disziplinenbeteiligt sind. Es soll untersucht werden, inwieweit sich durch eine längerfristige und intensive psychoanalytische Behandlung Bindungsrepräsentationen bei chronisch depressiven Patienten verändern und welche Hirnaktivierungen sich im Verlauf dieser Behandlungen zu mehreren Messzeitpunkten innerhalb von 15 Monaten zeigen. Damit starteten wir die erste Studie, die Verlaufsmessungen im neurobiologischen Kontext über einen längeren Zeitraum vornimmt – im Vergleich zu bisherigen Studien, die Kurztherapien im Prä-post-Design untersuchten. In unserem dafür entwickelten Paradigma werden Patienten mit ihren eigenen Bindungs- und Konfliktmustern im fMRT-Scanner und während einer EEG-Untersuchung konfrontiert (Buchheim et al. 2007b ). Mit der Hanse-Neuro-Psychoanalyse-Studie führen wir in einer innovativen Therapie-Prozess-Studie unsere grundlagenwissenschaftlichen Untersuchungen der neurobiologischen Fundierung bei psychischen Störungen mit dem Fokus auf die Bindungsrepräsentationen fort.« (S. 114/115)

Nadine Reinhold und Hans Joachim Markowitsch fassen ihre Untersuchungsergebnisse zum Einfluß von Stress auf das Gehirn, insbes. auf das Gedächtnis wie folgt zusammen:
»Nach einer Vorstellung zeitlicher, prozessbezogener sowie inhaltlicher Aspekte des Gedächtnisses wurden deren hirnphysiologische Korrelate aufgezeigt. Im Anschluss wurde der mögliche Einfluss von Stress auf das Gehirn, insbesondere auf Gedächtnis verarbeitende Bereiche, erläutert. Dieses diente als Grundlage für die Einführung eines Erklärungsmodells für die mnestische Blockade. Eine mnestische Blockade liegt dann vor, wenn der Abruf aus dem Altgedächtnis, zumeist dem autobiografischen Gedächtnis, nicht gelingt, obwohl sich kein korrespondierendes hirnorganisches Korrelat finden lässt. In dem vorgestellten Modell wurde vor allem der Einfluss von stressreichen und traumatischen Situationen auf sensible Hirnregionen wie limbische und frontale Strukturen unterstrichen. Es wurden frontolimbische Kontroll- und Regulierungsmechanismen beschrieben, die sowohl in der stresshaften Situation ein Überleben sichern, als auch durch die Abtrennung der eigenen Biografie eine Handlungsfähigkeit der Patienten über das traumatische Ereignis hinaus erlauben. (S. 129)

Peter Fonagy beschreibt und analysiert die Folgen von Traumata, die sich gerade dort ereignen, wo eigentlich Geborgenheit erwartet wird, nämlich in den Bindungsverhältnissen der frühen Kindheit:
»Meine These ist, dass die psychologischen Konsequenzen von Traumata im Kontext von Bindung und vermutlich darüber hinaus, eine Abkoppelung der Mentalisierung und eine Rückkehr von nicht-mentalisierenden Modi der repräsentierten inneren Realität nach sich ziehen. Dies ist schädlich, weil die Unmittelbarkeit einer Erinnerung, die in nicht-mentalisierender Weise als psychische Äquivalenz erlebt wird, immer wieder retraumatisieren kann, was die Abkoppelung der Mentalisierung weiter vorantreibt und das Traumaerlebnis noch realer macht. Ein Bindungstrauma ist am schädlichsten, weil die Biologie der Bindung auf Vertrauen basiert. Dazu gehört die Sicherheit, nicht mentalisieren zu müssen, das Wissen, dass der Andere für uns denkt, so dass wir nicht unsere eigenen Gedanken und die der Anderen überwachen müssen. Trauma aktiviert unweigerlich das Bindungssystem, wodurch mit Erinnerung und Mentalisierung assoziierte Hirnareale (vermutlich aus Gründen der Evolution) vorübergehend gehemmt werden. Deshalb ist Mentalisierung im Angesicht des Traumas, besonders beim Bindungstrauma, so vollständig stillgelegt. Nicht-mentalisiertes Trauma dauert fort, gefährdet mentale Funktionen und beeinträchtigt natürlich auch neue Beziehungen. Das von innen durch Identifikation mit dem Aggressor zerstörte Selbst braucht die projektive Identifikation dringend, um den Anderen näher zu holen und Beziehungen auszuwählen, die re-traumatisiernd sind. Weil so die traumatische Vergangenheit immer wieder durchlebt wird, verpasst das Individuum die Chance, sich von ihren Ketten zu lösen. Um dem Griff des Traumas zu entfliehen, benötigt der Mensch Hilfe zur Wiederherstellung der Mentalisierungsfähigkeit. Zum Glück gibt es viele Wege dahin: Einer davon ist das Erinnern im Kontext einer dauerhaften psychoanalytischen Beziehung.« (S. 146/147)

J. Lehtonen, M. Purhonen und M. Valkonen-Korhonen widmen sich den Folgen der Säuglingspflege bes. auf die Entwicklung des Hippocampus, des Wach-Schlaf-Kreislaufs und des neurophysiologischen Reizschutzes:
»Die beginnende Mutter-Säuglings-Interaktion nach der Geburt verläuft parallel zur physiologischen Reifung des Gehirns und der Körperfunktionen. Unter gesunden Bedingungen fördert die Interaktion zwischen der Mutterperson und dem Säugling insbesondere im Hippocampus die angeborenen regulierenden und abschirmenden Mechanismen, die den Säugling vor exzessiver Stimulation schützen und dessen Schutz und Sicherheit garantieren. Dies wird über weitere Mechanismen durch den Anstieg der Kortisolrezeptorenanzahl erreicht. Verschiedene Formen von Traumata tendieren dazu, diese Entwicklung zu unterbrechen, indem sie übermäßige Erregung verursachen, den Stresshormonspiegel erhöhen und andere Symptome physiologischer Dysregulation verursachen. Die Bildung von Verbindungen zwischen subkortikalen und kortikalen Gehirnstrukturen höherer Ebenen ist entscheidend für die gut funktionierende und adaptive Kapazität des sich entwickelnden Gehirns des Säuglings. Traumata stören die assoziative Verbundenheit neuronaler Netzwerke in unterschiedlichem Ausmaß, jedoch können Sicherheit und adäquate Pflege sowie eine Wiederherstellung der homöostatisch-affektiven und kognitiven Netzwerke im Dienste internaler und externaler Adaptipn die Auswirkungen der Traumatisierung rückgängig machen.« (S. 152/153)

M. Leuzinger-Bohleber, P. Henningsen und R. Pfeifer demonstrieren an einem Fallbeispiel die ergänzende Fruchtbarkeit der 'Embodied Cognitive Science' im Rahmen der psychoanalytischen Therapie:
»Wie wir anhand des klinischen Beispiels diskutiert haben, bedeutet dies, dass sowohl konzeptuell als auch klinisch therapeutisch sowohl die subjektive ("narrative") als auch die objektive ("historisch-biografische") "Wahrheit" von Gedächtnis berücksichtigt werden muss.
Dies betrifft vor allem die klinisch-psychoanalytische Arbeit mit schwer traumatisierten Patienten. Zwar wird es nie möglich sein, im Sinne eines "Eins-zu-eins-Verhältnisses" die historische Realität des Traumas eindeutig als "wahr" zu rekonstruieren. Dennoch erweist es sich für einen dauerhaften therapeutischen Erfolg einer Behandlung von traumatisierten Patienten, wie wir dies mit dem Fallbeispiel zu illustrieren versuchten, als unverzichtbar, sich gemeinsam mit dem Patienten an die "real stattgefundenen" Traumatisierungen anzunähern. Nur wenn die Spuren im aktuellen, inadäquaten Interaktionsverhalten als "plausibel" bezogen auf einer frühere, traumatisierende Situation erkannt werden, erhalten sie für den Analysanden / die Analysandin ihren spezifischen Sinn und verlieren dadurch ihren unbewussten Zwang zur ständigen (inadaptiven, krankhaften) Wiederholung.
     Diese Annäherung an die "historisch-biografische" Wahrheit des Traumas bedeutet selbstverständlich keine Relativierung der Relevanz der Arbeit an Übertragung und Gegenübertragung für die therapeutische Veränderung. Wie Gullestadt und Bohleber in diesem Band ausführen, gehört es zum genuin psychoanalytischen Beitrag zur Traumaforschung, auf die spezifische Verarbeitung des "äußeren, traumatischen Geschehens" in der unverwechselbaren, subjektiven Innenwelt des Betroffenen hinzuweisen. Das gleiche extreme ("traumatisierende") Ereignis in der Außenwelt kann von unterschiedlichen Personen aufgrund ihrer psychischen Situation eine unterschiedlich traumatisierende Auswirkung haben. Wie wir aufzuzeigen versuchten, kann sich ein im Prinzip des Embodiment verankertes Verständnis von Gedächtnis und seinen Manifestationen in den sensomotorischen Koordinationen in der Übertragungsbeziehung zum Analytiker als faszinierender Schlüssel beim Öffnen von Türen zum Unbewussten unserer Patienten erweisen. Die psychoanalytische Aussage: "Das Trauma sitzt im Körper" (Freud) erweist sich auf neue Weise als external kohärent (Strenger) mit den Konzeptualisierungen zum Gedächtnis der Embodied Cognitive Science und neurobiologischen Forschungen (z.B. im Bereich der Spiegelneuronen).« (S. 169/170)

Michael Hagner macht eindringlich darauf aufmerksam, dass ein Denken aus Bildern und hin zu Bildern ganz anderen erkenntnistheoretischen Gesetzen folgt als die psychoanalytische Hermeneutik:
»Ein Lernender könnte durch ein zunehmendes Aufleuchten im Hirnbild ähnlich motiviert werden wie ein Patient mit einem gebrochenen Bein, dem im Röntgenbild gezeigt wird, dass sein Knochen sauber zusammenwächst. Der Referenzpunkt für die Beurteilung solcher Bilder sind die vorangegangenen Bilder.
     Diese Verschiebung könnte dazu führen, dass die Vielfalt und Relevanz des geistigen Lebens zu sehr an seiner Visualisierung gemessen wird. Nach Vilém Flusser (1992) sind wir dank der Bilder "eigentlich überhaupt erst wieder fähig, aus der sich verflüchtigt habenden Welt der Abstraktionen ins konkrete Erleben, Erkennen, Werten und Handeln zurückzukehren." Der Preis für eine solche Entwicklung besteht darin, dass "das Erforschen der tieferen Zusammenhänge, das Erklären, Aufzählen, Erzählen, Berechnen, kurz das historische, wissenschaftliche, textuell lineare Denken von einer neuen, einbildenden, ,oberflächlichen' Denkart verdrängt wird"(Flusser 1992, S. 44). In Bezug auf die Wissenschaften vom Menschen bedeutet das, dass die Tiefenbohrungen des alten Denkens, für welches die Psychoanalyse - unabhängig von der Frage, ob ihre Thesen richtig sind oder nicht - stellvertretend angesehen werden kann, durch den oberflächlichen Einblick der Hirnbilder abgelöst werden. Damit geriete das Verständnis des Menschen zur Ausstülpung materieller Repräsentationsformen. Es geht nicht darum, dass das Subjekt abgeschafft wird, sondern dass eine andere Anthropologie in Ansclag gebracht wird, die tatsächlich nur noch - im doppelten Wortsinn - Oberflächenstrukturen hervorbringt.« (S. 189)

Bilanzierende Bewertung:
Der Anspruch der Herausgeber, die Erfahrungen der Psychoanalyse mit den Forschungsergebnissen der Neurobiologie so zusammenzuführen, dass beide Seiten und mithin die diagnostische und therapeutische Praxis davon profitieren, wird voll erfüllt. Darüber hinaus ist der Sammelband für alle Leser interessant, die aus den Einseitigkeiten entweder einer naturwissenschaftlichen oder einer geisteswissenschaftlichen Psychologie  heraus wollen. Wir wünschen uns weitere Produkte aus der fruchtbaren Zusammenarbeit des Sigmund-Freud-Instituts mit dem Hanse-Wissenschaftskolleg und der Universitätsklinik Ulm.

Kurt Eberhard  (April 2008)

 

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