Vorwort:
Gewalt hat viele Gesichter, sie wird physisch, psychisch, sexuell ausgeübt. Auch an Kindern. Kinder, die Gewalt erfahren mussten, entwickeln häufig Verhaltens- und Beziehungsstörungen oder werden depressiv. Die Zahl der derart misshandelten Kinder wächst: Eine Studie des Robert-Koch-Instituts ermittelte, dass in Deutschland jährlich etwa 5 % der Kinder und Jugendlichen Opfer von Gewalt werden. Und dies erfasst nur die bekannten Fälle; die Dunkelziffer dürfte viel höher sein.
Um Gewalt wirksamer zu verhindern, vermittelt u.a. das Jugendamt vielfältige Hilfen zur Erziehung. Ein weiterer Weg sind regelmäßige Hausbesuche durch ehrenamtliche Paten oder Familienhebammen, wie sie jungen Familien mit den lokalen „Netzwerken Gesunde Kinder“ bereits in Lauchhammer, Eberswalde, Nauen und Rathenow angeboten werden. Das sind Hilfen, die sehr direkt in die Familien hineinwirken und über die eventuelle Gewalt frühzeitig zu ermitteln ist.
Wenn jedoch solche Präventionsmaßnahmen nicht mehr ausreichen und ein begründeter Verdacht auf Gefährdung des Kindeswohls besteht, müssen Behörden und professionelle Dienste eingreifen und ihr „Wächteramt“ intensiv wahrnehmen. Entscheidend ist, dass erste Symptome und frühe Hinweise richtig gedeutet werden und die Mitarbeiter von Behörden und Einrichtungen auf Basis der vorliegenden Erkenntnisse kompetent, angemessen, koordiniert und auch rasch handeln.
Dafür gibt es verschiedene Materialien: Mit den „Empfehlungen zum Umgang und zur Zusammenarbeit bei Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung“ haben Landesregierung und kommunale Spitzenverbände 2006 die richtigen Instrumente für frühes Erkennen und professionelles Fallmanagement vereinbart. Institutionen, Träger und Einrichtungen sind aufgerufen, in allen Regionen verbindliche Kooperationsstrukturen zur Früherkennung und frühe Hilfen für gefährdete Kinder aufzubauen.
Und auch diese Broschüre „Gewalt gegen Kinder und Jugendliche - Ein Leitfaden für Früherkennung, Handlungsmöglichkeiten und Kooperation in Brandenburg“ ist ein weiteres Instrument, das dazu beitragen soll, bei akuter Gefährdung des Kindeswohls die Möglichkeiten und Chancen der frühen Intervention intensiver zu nutzen. Dafür wurde der Leitfaden überarbeitet und aktuellen Entwicklungen angepasst. Während sein Vorgänger die interdisziplinäre Prävention und Intervention bei Kindesmisshandlung und -vernachlässigung hinsichtlich der ambulanten Kinderarztpraxis im Blick hatte, bezieht die vorliegende zweite Auflage auch die Praxis der Hebammen, Kinderkliniken und der Kinder- und Jugendgesundheitsdienste der Gesundheitsämter mit ein.
Erstmals wird detailliert beschrieben, wie Fachkräfte verschiedener Berufsgruppen vorgehen können, um die Anzeichen von Misshandlung und Vernachlässigung frühzeitiger zu erkennen und im Interesse der betroffenen Kinder wirksame Hilfen einzuleiten. Ergänzend werden die Aufgaben und Vorgehensweisen des Jugendamtes beim Kinderschutz erläutert. Der Leitfaden informiert, wer in Brandenburg welche Leistungen im Hilfesystem zum Schutz von Kindern vor Gewalt erbringt und welche Anforderungen sich daraus an die interdisziplinäre Kooperation ergeben.
Auch Rechtsänderungen auf Bundes- und Landesebene erforderten eine Überarbeitung des Leitfadens; so etwa mit dem Inkrafttreten des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (SGB VIII), mit dem die freien Träger der Jugendhilfe stärker in die Belange des Kinderschutzes einbezogen werden. In Brandenburg werden künftig – mit Inkrafttreten des neuen Gesundheitsdienstgesetzes - alle Kinder im Alter vom 30. bis 42. Lebensmonat durch den Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD) untersucht. Bundesweit einmalig ist die verpflichtende nachsorgende Betreuung der Kinder mit auffälligen Befunden. Ergänzend wird ein Einladungs- und Rückmeldewesen zu den Früherkennungsuntersuchungen der niedergelassenen Ärzte eingeführt. Sowohl mit diesen Maßnahmen, als auch mit der koordinierten Abstimmung zwischen dem Öffentlichen Gesundheitsdienst und den niedergelassenen Ärzten können Vernachlässigung und Misshandlung von Kindern frühzeitiger erkannt und Hilfen rechtzeitiger eingeleitet werden.
Alle diese Hilfesysteme funktionieren jedoch nur, wenn nicht nur die Professionellen und Ehrenamtlichen daran mitwirken, sondern wir alle hinschauen und uns für das Kindeswohl verantwortlich fühlen. Wer sehen will, wo es in den Häusern, in den Familien Probleme gibt, der sieht sie auch. Und wer helfen will, der kann das auch. Kinder- und Jugendschutz ist nicht nur eine Aufgabe für Jugend- und Gesundheitsämter, sondern auch für alle Kommunen und ihre Bürger.
Ich freue mich sehr, dass der Brandenburger Leitfaden „Gewalt gegen Kinder“ inzwischen bundesweit ein beispielhaftes Vorbild ist und danke allen, die an seiner zweiten Auflage mitgewirkt haben.
Dagmar Ziegler Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Familie des Landes Brandenburg
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