Von Charly Kowalczyk wurde bereits das Buch ‚Immerhin hatte ich Eltern’ in diesem Forum besprochen. Im jüngsten Werk des Journalisten und Pflegevaters erzählt er Geschichten aus der Perspektive von aufnehmenden Eltern. Die gemeinsame Botschaft ist, „...dass eine qualifizierte Vorbereitung und Begleitung der Bewerber durch die Jugendämter dringend erforderlich ist, um für Kinder und Eltern bestmögliche Bedingungen zu schaffen.“ (aus dem Vorwort) Anliegen des Autors ist es, „...dass kein Gegensatz zwischen Pflege- und Adoptiveltern und den Jugendämtern aufgebaut wird. Kritischer Austausch kann dazu beitragen, dass alle Seiten zum Wohle der Kinder gut zusammenarbeiten.“ (aus der Einleitung)
Mit Auszügen aus der Geschichte von Georg soll das Anliegen dargestellt werden: Nach dem Tod seiner Frau kümmerte sich Georg um die Kinder Sven, vier Jahre und Nora, neun Jahre. Georg ist der Vater von Sven, aber nicht von Nora. Als Georg mit seiner Frau zusammenkam, war Nora bereits zwei Jahre alt. Kurz vor ihrem Tod verfügte die Mutter, dass die Kinder bei Georg leben sollen. Am Tag nach dem Tod seiner Frau stand das Jugendamt vor der Tür, um beide Kinder mitzunehmen. Georg hatte kein Sorgerecht, weigerte sich aber, die Kinder herauszugeben. Vom Gericht wurde ihm das Sorgerecht gegen den Willen des Jugendamtes zugesprochen, und er wurde Pflegevater von Nora. Nun weigerte sich das Jugendamt, Pflegegeld zu zahlen, und ein Anwalt musste das für Georg durchsetzen. Auch sonst wurde Georg wenig geholfen. Einige Textauszüge: „Also, Unterstützung durch Institutionen bekam ich nicht. Im Hort wurden Nora irgendwelche Astrid Lindgren-Geschichten von den Erzieherinnen vorgelesen. Dabei bedrängten sie Nora, über den Tod ihrer Mutter mit ihnen zu reden. Sie wollte aber nicht reden, und ich habe die Erzieherinnen dann aufgefordert, Nora in Ruhe zu lassen. Ich erinnere mich auch noch daran, wie die Klassenlehrerin von Nora reagiert hat, als ich sie angerufen habe, um ihr zu sagen, dass Noras Mutter schwer krebskrank ist. Ich wollte, dass sie Nora versteht, wenn sie mal nicht ganz bei der Sache ist. Später habe ich irgendwann mitgekriegt, dass Nora in der Pause in der Klasse eingeschlossen wurde, um Strafarbeiten zu machen. Ich bat die Lehrerin, mir Bescheid zu sagen, wenn irgendwas mit ihr wäre. Ist doch klar, dass das Kind durch den nahen Tod ihrer Mutter nicht reibungslos funktioniert. Meine Tochter ist doch keine Maschine! Ich fuhr mit einem Abschleppwagen auf den Schulhof. Die Klassenlehrerin und die Direktorin meinten, dass die Bestrafungsaktion richtig sei, weil sie täglich drei Minuten zu spät zur Schule käme. Das Kind könne selber und rechtzeitig aufstehen, weil sie schon acht Jahre alt sei. Mein Einwand, dass es Nora im Augenblick schwer hat, weil ihr der bevorstehende Tod ihrer Mutter zu schaffen macht, hatte keine Wirkung. Daraufhin sagte ich zur Direktorin: „Wenn Sie Nora noch einmal in der Klasse einschließen, fahre ich gleich mit dem Abschleppwagen in das Schulgebäude hinein!“ Für unsere Situation gab es kein Verständnis. Bei Sven haben sie gar nicht reagiert, ihn einfach nur beobachtet und geschaut, wie ich reagiere. Und die Eltern in Noras Klasse haben nach dem Tod meiner Frau so getan, als sei nichts vorgefallen. Aber ich wüsste auch nicht, wie ich mich verhalten hätte.“ (S. 51)
Als Nora 11 Jahre alt war, nahm Georg ein weiteres Pflegekind auf: „Die Linie beim Jugendamt ist, entweder die Kinder so lange wie möglich in den Ursprungsfamilien zu halten und wenn das nicht möglich ist, sie in Pflegefamilien zu vermitteln. Der Hintergrund ist, möglichst wenig Geld auszugeben. Das sind so meine Erfahrungen. Lisa ist bei mir vor rund sechs Jahren aufgetaucht. Nora hat sie nach irgendeiner Party zu uns mitgebracht, da waren die beiden elf. Ich kannte Lisa nicht. Ihre Mutter war ständig unterwegs, das Kind lebte in instabilen Verhältnissen. Ich brachte sie nach Hause, doch Lisa rief nach zwei Stunden wieder bei uns an. Sie wollte, dass Nora bei ihr übernachtet, weil sie alleine zu Hause ist. Da am anderen Tag Schule war, habe ich es nicht erlaubt. Ich fragte sie, was los ist. Ihre Mutter ist für zwei Wochen weggefahren und hat ihr eine Packung Toast überlassen, ein bisschen Käse, 30 Dosen Katzenfutter. Die ganze Wohnung hat sie bis auf die Küche, das Bad und den Flur abgeschlossen. Ich war erschüttert und bin am nächsten Tag zum Jugendamt gegangen. Die Familie war der Behörde bekannt. „Warum unternehmen Sie denn nichts?“, fragte ich. „Es liegt keine Anzeige gegen sie vor.“ Als ich damals die Verantwortungslosigkeit von Lisas Mutter angezeigt habe, erfuhr ich von anderen Eltern in ihrer Klasse, dass sie schon lange wussten, dass die Mutter sich nicht um ihre Tochter kümmert. Ich bin ausgerastet. „Warum hat niemand von euch Verantwortung übernommen?“ Ich wollte diesem Mädchen helfen, andere Interessen hatte ich nicht. Der Obermacker vom Jugendamt fragte mich: „Was möchten Sie von dem Kind? Es ist ein hübsches Mädchen.“ „Wenn Sie so eine Äußerung auf der Straße machen würden, würde ich Ihnen einfach nur die Zähne weghauen.“ Und außerdem sagte ich: „Deine schmutzige Fantasie ist nicht meine.“ Lisa hat dann bei uns gewohnt. Vom Jugendamt hörte ich nichts mehr und bekam keinerlei Unterstützung. Es gab keinen Rechtsstatus, kein Geld, nichts. „Zeigt Zivilcourage“, „Missstände anprangern“, heißt es immer auf Plakaten, aber ich hatte fast den Eindruck, den Behörden wäre es lieber gewesen, wenn sie keinen „Fall Lisa“ gehabt hätten..... Danach haben sie entschieden, dass Lisa nicht bei mir bleiben kann, weil ich als Alleinerziehender ohnehin schon gefordert bin, und haben sie deshalb in ein Heim überwiesen. In diesem Heim waren zwei Sozialpädagogen, die ein Liebespaar waren. Tagsüber hat eine Polin auf die Kinder aufgepasst, weil sie irgendwas gearbeitet haben. Jedes Wochenende war Lisa bei uns. Das Heim war ungefähr 80 km von Osnabrück entfernt. Ich habe sie abgeholt und wieder hingebracht, fühlte mich für sie verantwortlich. Alles wiederholt sich in Leben, auch dort wurde vom Pflegegeld nichts abgegeben. Nur einmal haben sie mir den Flug für Lisa nach Portugal bezahlt, weil wir immer sechs Wochen im Sommer in Portugal verbringen. Der Heimaufenthalt hat sich wohl für dieses sozialpädagogische Liebespärchen gerechnet.“ (S.55)
Trotz oder vielleicht sogar wegen seiner individuellen Eigensinnigkeit ist Georg mit den Kindern doch recht erfolgreich: „Wenn ich mich ungerecht behandelt fühle, werde ich zum Kämpfer. Beim Jugendamt habe ich die Zusammenarbeit mit einem Sachbearbeiter abgelehnt. Die Begründung dafür habe ich an alle zuständigen Stellen sowie das Ministerium geschickt. Am Tag danach stand das Telefon nicht mehr still. Ich glaube, dass ich nicht einfach bin. In meiner Akte steht, glaube ich, „Querulant“. Nach einer Woche habe ich es gemeinsam mit dem Jugendamt geregelt. Wenn du mit einem Anwalt drohst, klappt es. Auf der Pflegeelternschulung sagte ich zu den anderen potenziellen Pflegeeltern, dass sie sich einen Anwalt nehmen sollten, wenn sie Pflegekinder aufnehmen wollen. Hinterher haben die Schulungsleiter zu mir gesagt, dass ich nicht mehr zum Kurs kommen brauche, weil ich schon alles wüsste. „Ich finde es hier so geil“, sagte ich zu ihnen „und ich würde gern jeden Kurs mitmachen.“ Da guckten sie schon erschrocken! Jetzt kann Lisa, bis sie 18 ist, bei mir wohnen, dann müsste sie aber ausziehen und eine eigene Wohnung bekommen. Was soll das? Das kostet erstens mehr, aber entscheidend ist doch, ob sie ausziehen will. Genauso wird das bei Nora auch sein. Ich bin der Ansicht, es ist sogar gut, wenn Lisa noch mindestens drei Jahre hier wohnt, um später im Leben besser klarzukommen. Sie lernt hier Regeln und das ist wichtig im Leben. Also, ich bin zwar nicht der perfekte Vater, aber ich musste mich im Leben durchboxen. Das kann für die Kinder von Nutzen sein. Schon als Dreizehnjähriger war ich alleine. Ich kann ihnen ein paar Sachen vermitteln. Jedenfalls werde ich für die Kinder kämpfen. In einer Aktennotiz des Jugendamtes hieß es, dass es nicht sein kann, dass Lisa mit der Schule klarkommt, obwohl sie erst drei Monate bei uns leben würde. „Wir haben davor alle möglichen pädagogischen Maßnahmen durchgeführt“, und nichts hat geklappt. Also, schlussfolgern sie: Es kann nicht sein, was Realität geworden ist! Und das macht mich froh.” (S. 60)
Dieses Buch zu lesen, ist ein Genuss. Alle Geschichten sind auf ihre eigene Art tiefgründig und humorvoll zugleich. Manchmal mag man gar nicht recht glauben, womit Jugendämter, Adoptiv- und Pflegeeltern zu tun haben. Es wäre verdienstvoll, wenn der Autor sich in einem weiteren Buch dem Thema der Pflegeelternvorbereitung zuwenden würde, um die Aufmerksamkeit auch auf die dortigen Mängel zu lenken.
Christoph Malter, Dez. 2007
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