FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2007

 



Monika Nienstedt und Arnim Westermann

Pflegekinder
und ihre Entwicklungschancen nach
frühen traumatischen Erfahrungen

völlig überarbeitete Neuausgabe

Klett-Cotta 2007
(414 Seiten, 32 Euro)
 


Autoren: Dipl.-Psych. Dr. Monika Nienstedt und Dipl.-Psych. Dr. Arnim Westermann beschäftigen sich seit 1973 praktisch und theoretisch mit der Sozialisation von Kindern in Ersatzfamilien. Seit 1982 arbeiten beide in ihrer psychologischen Praxis mit den Arbeitsschwerpunkten: diagnostische Untersuchung von Heim-, Pflege- und Adoptivkindern, Beratung und Fortbildung von Pflege- und Adoptiveltern, Sozialarbeitern, Heimerziehern und Psychotherapeuten, Gutachten in Sorgerechtsverfahren, psychoanalytisch orientierte Therapie von Kindern mit schweren traumatischen Erfahrungen und Persönlichkeitsstörungen.

Das wesentliche Anliegen der Autoren ist ihre sowohl erklärende wie auch praxisanleitende Theorie der Integration von Kindern in Ersatzfamilien:
»Das Hauptergebnis unserer Arbeit ist die von uns auf der Basis einer Vielfalt von Beobachtungen und Befunden entwickelte Theorie der Integration von Kindern in Ersatzfamilien, die wir erstmals 1980 - in Umrissen formuliert - auf einer Fortbildungsveranstaltung des Landesjugendamtes Westfalen-Lippe vorgetragen … haben. Sie beschreibt zugleich einen Weg, auf dem ein Kind auch schwerwiegende frühe traumatische Erfahrungen in neuen Beziehungen verarbeiten kann, so daß sie sein weiteres Leben nicht mehr nachhaltig bestimmen und ihm die Chance einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung eröffnet wird.
     Die Brauchbarkeit und Nützlichkeit dieser Theorie hat sich inzwischen nicht nur in unserer Arbeit erwiesen. Durch die frühzeitige Verbreitung durch Fortbildungsveranstaltungen und Veröffentlichungen in den Mitteilungen des Landesjugendamtes (1978-1989), die wir dem damaligen Leiter der zentralen Adoptionsvermittlungsstelle des Landesjugendamtes Westfalen-Lippe Reinhard Schnabel verdanken, durch vielfältige weitere Vorträge zur Vermittlung von Kindern in Ersatzfamilien und zur Diagnose und Therapie traumatischer Erfahrungen, zu denen wir bundesweit eingeladen wurden, und nicht zuletzt durch die Veröffentlichung unseres Buches orientiert sich die Arbeit einer Reihe von Vermittlungsstellen, von Sozialarbeitern, Pflege- und Adoptiveltern nun schon seit vielen Jahren erfolgreich an unseren Erkenntnissen. Inzwischen vorliegende Untersuchungen bestätigen die Wirksamkeit dieser Vermittlungs- und Beratungsansätze.« (aus dem Vorwort der Autoren)

Das Inhaltsverzeichnis gibt einen differenzierten Überblick über die behandelten Themen:

Vorwort von Arno Gruen
Vorwort der Autoren
Einleitung: Kinder in Ersatzfamilien

Traumatische Erfahrungen
Die Chancen von Kindern in Ersatzfamilien
Die Trennung von den Eltern
Verleugnung elterlichen Versagens
Respekt

Teil l
Mißhandlungserfahrungen und ihre Verarbeitung in neuen Eltern-Kind-Beziehungen

1. Äußere und innere Realität traumatischer Erfahrungen
Phantasie oder Realität
Angstabwehr
Wiederholung traumatischer Erfahrungen

2. Ursachen und Wirkungen von Kindesmisshandlung
Verleugnung von Kindesmisshandlung
Mißhandelnde Eltern
   Das Elend der Wiederholung
   Defizitäre Sozialisation
   Einstellung zum Kind
Misshandelte Kinder
   Störung der Entwicklung des Selbst und der Beziehungsflähigkeit
   Gestörte Autonomie- und Ich-Entwicklung
   Gestörte Gewissensentwicklung
Distanzierung von den Eltern

3. Zur Entwicklung von Beziehungen in Ersatzfamilien - Theorie der Integration
Familiale Beziehungen und kindliche Bedürfnisse
Anpassung und Annahme
   Überanpassung
   Einfluß haben
   Dialogische Beziehungsformen
Wiederholung früherer Beziehungsformen in der Übertragungsbeziehung
   Das Phänomen der Übertragungsbeziehung
   Rekonstruktion der Vorerfahrungen
   Korrigierende Erfahrungen
   Kritische Distanz zur eigenen Geschichte gewinnen
Entwicklung persönlicher Beziehungen durch regressive Beziehungsformen
   Angstabwehrende Regression
   Regression im Dienst des Aufbaus von Beziehungen
   Regressive Entwicklung
   Annahme der Regression

4. Aufarbeiten früher Vernachlässigungserfahrungen und Deprivationsstörungen
Vergebliche Bemühungen bei der Bewältigung früher Vernachlässigung, ein Fallbeispiel.
Der Dialog und die Entwicklung von Ich-Fähigkeiten
   Wahrnehmungsdifferenzierung
   Spannungsreduktion, Sicherheitsgefühl und Zuwendung zur Welt
   Differenzierung von Selbst und Objekt und die Entwicklung von Autonomie
Entgleisung des Dialogs unter deprivierenden Bedingungen
Korrektur von Deprivationsstörungen
   Training von Fähigkeiten
   Der therapeutische Ansatz der 'Bemutterung'

5. Das agierende Kind
Unverständliche Handlungen
Inszenieren psychischer Konflikte
Das in der Identifikation mit dem Aggressor agierende Kind, ein Fallbeispiel
Genese und Funktion des Agierens
   Orale Fixierung
   Objektabhängigkeit und Autonomie
   Abwehr narzißtischer Kränkungen und Ohnmachtserfahrungen

6. Negativismus und Autonomie
Negativismus
   Ein 'unmögliches' Kind
   Toleranz angesichts der Ohnmacht
Entwicklung der Autonomie
   Das semantische Nein
   Abhängigkeit und Unabhängigkeit
Wiederholung des Negativismus

Teil II
Das pflege- und Adoptivkind und seine Beziehung zu den leiblichen Eltern

7. Das Kind zwischen zwei Familien
Die Zwei-Mütter-Theorie
Besuchskontakte bei Säuglingen und K1einkindern
Besuchskontakte bei älteren Kindern
Gestaltung der Beziehung des Kindes zu den leiblichen Eltern
Anerkennen schmerzlicher Rea1ität: Chance für Eltern und Kind

8.Trauer und Ablösung
Bindung und Trennung
Der Ablösungsprozeß
   Ablösung und Trauer
   Ablösung in der Geschichte familialer Beziehungen
Verhinderung der Ablösung
Ablösung des Kindes von seiner Ursprungsfamilie

9. Aufrechterhaltene Kontakte angesichts traumatischer Erfahrungen
Wiederbelebung traumatischer Familienerfahrungen
Die Angstbindung des Kindes an die Eltern
Folgen verhinderter Ablösung
Die Notwendigkeit, das Kind überzeugend zu schützen

10. Zur Identität des Pflege- und Adoptivkindes
Identität: Ein Zauberwort
Aspekte persön1icher und sozia1er Identität
Identitätsstörungen bei Pflegekindern aufgrund ihrer Erfahrungen in der Ursprungsfami1ie
Identitätsentwicklung bei früh fremdplazierten Kindern
Identifikationskrise im Jugendalter
Das Bedürfnis, die eigenen Wurzeln zu kennen.

Teil III
Vermittlung und Beratung

11.Heim-oderFamilienerziehung
Aufgabe und Funktion der Familienerziehung
Aufgabe und Funktion der Heimerziehung
Erziehungsfähigkeit
   Beziehungsfähigkeit
   Einfühlungsfähigkeit
   Lernfähigkeit

12. Die Rolle des Heims bei der Vermittlung
Klärung der Perspektive
Trennung und kritische Distanzierung
Kontaktanbahnung zur Ersatzfamilie
Zum Rollenverständnis der Heimerzieher

13.Trennung in früher Kindheit
Reaktionen auf den Verlust der Bezugspersonen
Bedingungen, die die Trennungsbewältigung erleichtern
Trauerarbeit eines zweieinhalbjährigen Kindes, ein Fallbeispiel
   Vorbereitung der Trennung
   Entwicklung nach der Trennung
Rückgliederung.
Verwirrende Übergänge
   Trennungsumstände mit traumatisierender Wirkung, ein Fallbeispiel
   Vorbeugende Maßnahmen

14. Der Anspruch der Großeltern auf die Elternrolle
Das Großelternmärchen
Defizitäre Großeltern-Erziehung
   Das Enkelkind als Substitut des idealen Selbst der Großeltern
   Das Enkelkind als Substitut des elterlichen Selbst

15. Geschwister in der Pflegefamilie
Geschwisterbeziehungen und die Vorrangigkeit von Eltern-Kind-Beziehungen
Geschwisterkonstellationen
   Aufnahme von Geschwisterkindern
   Integration eines Kindes in eine Familie mit Kindern
Überlegungen zur Milderung geschwisterlicher Konkurrenz
   Das Herstellen individualisierter Beziehungen
   Annahme von Rivalitätskonflikten
   Fragwürdiges Gleichbehandlungsprinzip
   Symptomtolerante Geschwisterkinder

16. Beratung und Krisenintervention in Pflegefamilien
Beratung bei der Vorbereitung von Pflegeverhältnissen
Beratung bei der Integration
Krisenintervention

17.Scheitern der Pflegeverhältnisse
Pflegeabbrüche
Was heißt Scheitern?
   Scheiternde Pflegeverhältnisse in den Integrationsphasen
   Scheitern in der Anpassungsphase
   Scheitern in der Phase der Übertragungsbeziehung
   Scheitern in der Phase regressiver Bedürfnisse

Literaturverzeichnis
Namenverzeichnis
Stichwortverzeichnis

Einige Textproben sollen den klaren und überzeugenden Argumentationsstil der Autoren demonstrieren. (Sie ersetzen natürlich keinesfalls die zusammenhängende Lektüre.) Die ersten stammen aus dem 3. Kapitel des ersten Teils, weil dort die Theorie der Integration am ausführlichsten dargestellt wird:
   »In der ersten Phase der Integration - die Überanpassung des Kindes an die neue Situation - werden die tatsächlichen Wünsche und Bedürfnisse des Kindes, insbesondere aber seine aus frühen traumatischen, verletzten Erfahrungen resultierenden Überzeugungen, Ängste und Aggressionen wenig sichtbar. Sie werden erst zugänglich, wenn das Kind eine größere Sicherheit in der neuen Situation gewonnen, seine Angst reduziert und die neuen Eltern als nicht bedrohlich und potentiell befriedigend wahrgenommen hat.
     Dieser Fortschritt in der Pflegebeziehung wird deshalb so leicht verkannt und als Rückschritt erlebt, weil die früheren Erfahrungen und die daran gebundenen Affekte nicht als Erinnerung an die früheren Situationen thematisch werden, sondern vielmehr in den jetzigen Beziehungen neu inszeniert werden, was leicht zu erheblichen Konflikten und Mißverständnissen führt. Das Kind erlebt die neue Situation durch die Brille seiner frühen Erfahrungen, die es auf die jetzige Situation überträgt, und die neuen Eltern werden mit den früheren verwechselt. Indem das Kind dies tut, nutzt und gestaltet es die Beziehung zu den Pflege- und Adoptiveltern ähnlich wie eine therapeutische Situation. Und gerade hierin liegt die Chance für eine Korrektur gestörter Sozialisation durch die Integration eines Kindes in eine Ersatzfamilie, wenn Pflegeeltern bereit und in der Lage sind, sich zunächst auf eine solche quasi therapeutische Beziehung einzulassen. …
     Ob und in welchem Ausmaß gegenwärtige Beziehungen durch prägende Erlebnisse der Vergangenheit zu Übertragungsbeziehungen führen, ist einerseits davon abhängig, wie beängstigend und bedrängend die früheren Erfahrungen waren, so daß sie die Kontrollfunktion des Ichs, durch das der Kontakt zur gegenwärtigen Realität aufrechterhalten wird, außer Kraft setzen. Andererseits ist die Entwicklung von Übertragungsbeziehungen davon abhängig, wieweit die gegenwärtige Situation für das Kind eine wirklich beschützende ist, so daß sich die gegenwärtige Beziehung als therapeutische entfalten kann. …
     Dieser Schutz und diese Sicherheit, die auch "mit dem Fehlen jeglicher Forderungen nach altersgemäßem oder sozial angepaßtem Verhalten" (Bettelheim 1975,209) zusammenhängen, sind auch in der realen Lebenssituation - in einer Heimgruppe oder einer Ersatzfamilie -notwendig, wenn diese therapeutisch wirksam werden, d.h. Qualitäten eines therapeutischen Milieus gewinnen sollen. Das therapeutische Milieu muß das Kind vor beängstigenden Erfahrungen schützen und ihm Sicherheit bieten, daß hier alles getan wird, um seine Grundbedürfnisse zu befriedigen. Unter diesen Umständen gewinnen die früheren traumatischen Erfahrungen so große Bedeutung, daß sie das gegenwärtige Verhalten und Erleben des Kindes weitgehend bestimmen und der Verarbeitung zugänglich werden. …
     Auch ein älteres Pflegekind ist in der Lage, noch einmal neue Eltern-Kind-Beziehungen zu entwickeln, wenn es ihm möglich ist und ihm erlaubt wird, noch einmal von vorn - wie in einem zweiten Anlauf - mit der Entwicklung von Beziehungen anzufangen. Das ist dann möglich, wenn das Kind regrediert, wenn es zu Etappen seiner Entwicklung zurückkehrt, die in seiner Entwicklung bereits überschritten sind. Eine Regression - eine Rückkehr auf frühere Stufen der Entwicklung - geschieht aus verschiedenen Gründen bzw. dient zum einen der Angstabwehr und Vermeidung von Unlust und zum andern der Sicherung von Bedürfnissen und dem Aufbau von Beziehungen. …
     Da das regressive Verhalten frühe Interaktionsformen hervorbringt, ist auch die Regression ein geeigneter Weg, um noch einmal neue Eltern-Kind-Beziehungen zu entwickeln. Beim regressiven Verhalten werden frühe Bedürfnisse und befriedigende Erlebnisformen wiederholt. Die Regression tritt in den Dienst des Aufbaus neuer Beziehungen. in denen befriedigte Wünsche noch einmal wiederholt und unbefriedigte Wünsche endlich erfüllt werden sollen. …
     Die Regression im Dienst des Aufbaus von Beziehungen unterscheidet sich von der angstabwehrenden Regression dadurch, daß letztere sich unmittelbar im Verhalten niederschlägt, als eine Antwort auf eine bedrohliche Situation erscheint, wie es für einen Abwehrmechanismus typisch ist. Die Steuerung und die Motivation des Verhaltens erfolgen unbewußt. Dagegen wird die Regression im Dienst des Aufbaus von Beziehungen eher als ein bewußter Wunsch wahrgenommen: Die regressiven Beziehungsformen werden gewünscht, weil sie befriedigend sind. …
     Pflegeeltern erscheint das regressive Verhalten oft nicht annehmbar zu sein, weil sie beim Kind sehen, daß es manche Fähigkeiten, über die es schon verfügte - z. B. manierlich mit Löffel und Gabel zu essen, in der Nacht aufs Klo zu gehen, mit ordentlichen Sätzen zu sprechen usw. - scheinbar wieder verliert. Das betrachten Pflegeeltern leicht als Rückschritt, wenn nicht gar als Verhaltensstörung, die rasch beseitigt werden müsste, und appellieren an das Alter des Kindes oder seine Größe: "Du bist doch schon groß. Du bist doch kein Baby mehr." Damit weisen sie die regressiven Wünsche und Bedürfnisse als nicht berechtigt und nützlich zurück. Denn es ist ja nicht einfach, ein Kind anzunehmen, das - wie es einmal ein Pflegevater ausdrückte – "zwei Alter" hat: Das Kind ist zu gleicher Zeit ein Baby und ein großes Schulkind.« (S. 103 – 131)

Die folgenden Zitate stammen aus dem zweiten Teil, der sich mit den heiklen Beziehungen zur Ursprungsfamilie beschäftigt: 
     »In den Fällen, in denen Kinder nur vorübergehend und mit dem Ziel der Rückgliederung in einer Pflegefamilie untergebracht werden - wie bei der Unterbringung in einer Bereitschaftspflegefamilie in aktuellen Krisen oder wie bei den im Krieg evakuierten Kindern - ist der Grundsatz der Aufrechterhaltung regelmäßiger Kontakte zweifellos richtig. Auch wenn Eltern aus Verantwortung für ihr Kind und seine Sozialisation eine Fremdunterbringung wünschen und unterstützen, kann die Aufrechterhaltung regelmäßiger Kontakte in manchen Fällen richtig und mit dem Kindeswohl vereinbar sein. Angesichts der Lebensgeschichten und der sich daraus ergebenden Probleme bei Pflegekindern, die auf Dauer in einer Pflegefamilie leben, sind aber Zweifel an der Verallgemeinerbarkeit eines solchen Grundsatzes erlaubt. In der Mehrzahl älterer und neuerer Untersuchungen werden aufrechterhaltene Kontakte des auf Dauer fremdplazierten Kindes zur Herkunftsfamilie als erheblich belastend für die Kinder und die Pflegeeltern beschrieben (vgl. Kötter 1994; Schleiffer 1997; Zenz 2001). Eine Untersuchung '15 Jahre Vennittlung von Pflegekindern durch den Pflegekinderdienst der Stadt Herten' (2002) zeigt: "Dauerpflegeverhältnisse, in denen Besuchskontakte zu den leiblichen Eltern ausgeschlossen waren, haben eine hochsignifikant niedrigere Abbruchquote" (Nowacki u. Ertmer 2002, 27). Und nicht zuletzt die deutlich besseren Sozialisationschancen von Kindern in Adoptivfamilien im Vergleich zu Pflegekindern zeigen, wie hilfreich es für Kinder sein kann, sich wirklich vollständig von ihren Herkunftsfamilien trennen und sichere und eindeutige Eltern-Kind-Beziehungen in der Ersatzfamilie entwickeln zu können. …
     Wenn ein kleines Kind auf Dauer in einer Pflegefamilie lebt, bleiben die früheren Eltern-Kind-Beziehungen nicht bestehen, ähnlich wie bei Scheidungskindern immer wieder verleugnet wird, daß ein Kind Vater und Mutter als Eltern verloren hat (vgl. Lempp 1976,8), wird der Verlust der Eltern bei Pflegekindern verleugnet und so getan, als hätten die leiblichen Eltern nicht ihre Elternrolle verloren. Und folglich begegnet man dem Umstand, daß ein Kind einen Mann zu seinem Vater und eine Frau zu seiner Mutter macht, auch wenn es nicht die leiblichen Eltern sind, mit einer gänzlich unbewiesenen Theorie, daß ein Kind zwei Mütter haben könnte. Diese Zwei-Mütter-Theorie berücksichtigt aber nicht das kindliche Erleben. ... [Es folgt eines der zahlreichen und sehr erhellenden Fallbeispiele.]
     Die Zwei-Mütter-Theorie übersieht nicht nur die Wünsche und Bedürfnisse eines Kindes, sondern verspricht den Eltern eine Illusion, daß sie ihre Elternrolle gar nicht verlieren könnten. Schließlich wird diese Theorie auch noch mit vermeintlichen Entwicklungsnotwendigkeiten des Kindes gerechtfertigt, das die Tatsache akzeptieren müßte, zwei Mütter zu haben, um eine realistische Selbstvorstellung zu entwickeln. Aber das Kind gewinnt so keine realistische Vorstellung von sich selbst: Es muß sich geradezu selbst verdoppeln.« (S. 185-190)

Nun noch ein zusammenhängender Auszug aus dem dritten Teil über die Notwendigkeiten der Beratung:
     »Während der ganzen Kindheit entstehen bei Pflege- und Adoptiveltern – wie bei allen Eltern - immer wieder Ohnmachtsgefühle, werden sie durch das Verhalten des Kindes in Angst und Schrecken versetzt. Aber sie kommen selten so sehr an ihre Grenzen der Belastbarkeit und werden durch das Verhalten des Kindes so stark Ohnmachtsgefühlen ausgeliefert wie in der Phase der Übertragungsbeziehungen oder später im Jugendalter des Kindes. Dann haben Eltern meist nur einen Wunsch, daß sie einen Ausweg aus einer ohnmächtigen Lage finden. Sie fragen dann nicht, wie das nur zu verstehen sei, wie es zu erklären sei, was das Kind tut, sondern sie fragen, was sie tun sollen, erwarten Vorschläge und Handlungsanweisungen, obwohl sie selbst sehen, wie wenig unmittelbaren Einfluß sie auf das Verhalten des Kindes haben.
     Ob ein kleiner Säugling schreit und schreit und nicht zu beruhigen ist, ob ein größeres Kind bei dieser oder jener Gelegenheit immer wieder einen Wutanfall kriegt und nicht zu stoppen ist, oder die hundertmal wiederholte Ermahnung ohne Wirkung bleibt, und erst recht, wenn das unabhängigere Kind im Jugendalter seine Wünsche und Interessen verfolgt, die nicht in Übereinstimmung mit denen der Eltern zu bringen sind, werden bei Eltern Ohnmachtsgefühle mobilisiert, die oft kaum auszuhalten sind. Das Kind soll sich ändern, soll sich anders verhalten. Aber was immer die Eltern auch anstellen, nichts bewegt das Kind, weder Flehen noch Drohungen oder Versprechungen. Dann fühlen sich Eltern vom Kind wie von einem kleinen oder auch großen Tyrann beherrscht und geraten unversehens in eine geradezu kindliche Position, als wäre das Kind oder der Jugendliche ein sie beherrschender Erwachsener. Und dann werden Eltern wütend und aggressiv, wie sie selbst als Kind wütend wurden. Oder sie werden hoffnungslos und handlungsunfähig, wie sie es angesichts elterlicher Macht als Kind auch so oft waren.
     Da scheint es nur einen psychologisch begründeten Ausweg zu geben, wenn Eltern unversehens durch Abwehr der eigenen Ohnmachtsgefühle in eine kindliche Lage geraten, in der jede Art von Machtkampf nur zur Niederlage führt: Nur wenn sich Eltern davor bewahren, ihren Erwachsenenstatus zu verlieren, können sie sich vor den schrecklichen Ohnmachtsgefühlen bewahren. Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Wie und wodurch bleibt der Erwachsene ein Erwachsener, bleibt eine Mutter oder ein Vater eine erwachsene Person, die sich vom Kind mit seinen Gefühlen und Affekten, seinen Wünschen und Interessen unterscheidet? Manche Eltern meinen, sie müßten ihrem Kind ihre Gefühle erklären. Sie betonen zum Beispiel Gemeinsamkeiten und sagen dann: "Ich hab doch als Kind auch nicht gerne Schularbeiten gemacht", oder sie betonen die Unterschiede und sagen: "Wir mußten früher alle zu Hause mithelfen, und ein Auto hatten wir auch nicht." Aber dann stellen sie nur fest, daß sich das Kind ja nur für sich selbst, aber nicht für die Gefühle, Absichten und Meinungen der Eltern interessiert. Das Kind kann sich nicht in die Ängste, Sorgen und gutgemeinten pädagogischen Absichten der Eltern einfühlen, dazu fehlt ihm die Erfahrung.
     Nur wenn Eltern den Wunsch aufgeben, das Kind überzeugen zu wollen, dass es mit ihnen übereinstimmen soll, wenn sie den Dissens zwischen sich und dem Kind als einen begründeten Dissens, als fehlende Übereinstimmung akzeptieren und aushalten, können sie das Kind mit seinen Wünschen und Interessen überhaupt realistisch wahrnehmen und verstehen. Indem sie versuchen, das Kind zu verstehen, und sich in seine Lage einfühlen, benehmen sie sich wie erwachsene Menschen, die in der Lage sind, einen Augenblick von ihren eigenen Interessen, Wünschen oder Absichten abzusehen. Wenn sie sich das Verhalten des Kindes erklären oder zumindest begründete Hypothesen entwickeln können, behalten sie ihren Erwachsenenstatus. Nicht das Handeln, sondern das Denken, die Berücksichtigung von Erfahrung und Wissen kann Eltern aus ihrer ohnmächtigen Lage befreien oder vor einer solchen bewahren. Der Weg zum Kind eröffnet sich nicht durch Antworten auf dieses oder jenes Verhalten. sondern durch Fragen.
     Nur durch eine fragende Haltung, durch das Interesse, verstehen zu wollen, bewahren sich Eltern vor Ohnmachtsgefühlen, die sie selbst in eine Regression treiben. Schon die einfache Frage, was macht das Kind mit mir, in welche Rolle bringt mich das Kind, was für eine Mutter, was für einen Vater macht das Kind aus mir, bewahrt Eltern davor, jede Distanz zum Kind zu verlieren. Das Kind macht z. B. aus einer fürsorglichen Mutter eine immer versagende, nur an ihren eigenen Wünschen, Begierden oder Interessen interessierte Frau, aus einem besorgten Vater einen rücksichtslos überwältigenden Vater. Und wenn ein Kind das tut, indem es der Mutter Vorwürfe macht oder dem Vater ängstlich und schweigsam aus dem Weg geht, muß es doch gute Gründe dafür haben. Denn warum sollte ein Mensch einen anderen so verdreht behandeln, obwohl er, wie jeder andere, sich doch nichts anderes als gute Beziehungen wünscht. Es ist doch kein Vergnügen einem anderen, mit dem man sich gute Beziehungen wünscht, Vorwürfe zu machen, ihn für alle Enttäuschungen verantwortlich zu machen oder mit ihm wie mit einem gefährlichen Monster umzugehen. Und wenn es dann trotzdem so ist, dann muß das Kind schon sehr gute Gründe für seine Meinungen über die Eltern und seine Erwartungen an sie haben. Aber diese Gründe für das kindliche oder jugendliche Verhalten sind dem Kind oft gar nicht so klar. Es sieht nur die augenblickliche enttäuschende Situation oder den augenblicklichen Ärger. In den großen und kleinen Konflikten des Alltags ist das Kind gefangen, es sieht dann nur einen einzigen Ausweg. Das Kind behält keinen Überblick, nur die Eltern könnten oder sollten ihn haben, um das Kind oder den Jugendlichen zu verstehen.
     Der Weg zur Einfühlung und zum Verständnis wird oft erst durch eine Frage möglich, die sich der Erwachsene selbst stellt: Was ist das Richtige, das Verstehbare an dem, was das Kind sagt oder tut. Diese Frage geht von der Vermutung aus, daß das, was ein Kind tut, immer gute Gründe hat, Gründe, die ihm selbst gar nicht besonders klar sind. Und diese Frage wiederum läßt sich oft leichter beantworten, wenn man sich eine weitere Hilfsfrage stellt: Woher kenne ich das, was das Kind macht, woher kenne ich das, wie das Kind diese oder jene Situation erlebt? Kenn ich das denn nicht auch, wie Angst und Gefahren verleugnet werden? Kenne ich das nicht auch, wie bestimmte Wünsche oder bestimmte Ängste mein ganzes Denken und Handeln bestimmen?
     Im alltäglichen Umgang mit einem Kind wie auch in der Kindertherapie - im Unterschied zur Erwachsenentherapie, wo der Therapeut sich zurücklehnen, zuhören und sich Notizen und Gedanken machen kann - ist man ständig zum Mitagieren und Handeln gezwungen und selbst auch affektiv so involviert, dass eine solche fragende Haltung leicht verloren geht und in Gesprächen mit dem Berater immer wieder neu entwickelt werden muß.« (S. 368-370)

Bilanzierende Bewertung:
Es gibt kein anderes deutschsprachiges Buch, das so von langjährigen und vielfältigen Erfahrungen getragen ist und das den wissenschaftlichen Diskurs sowie die Praxis im Pflegekinderwesen so nachhaltig beeinflußt hat wie dieses. Ohne das Wirken von Nienstedt und Westermann wäre das empirisch unbegründete und praxisfremde Ergänzungsfamilien-Konzept zur herrschenden Ideologie in den meisten Jugendämtern geworden. Aus unserer ebenfalls langjährigen Arbeit mit Pflegefamilien können wir die Befunde und Schlussfolgerungen der Autoren voll bestätigen. Darüber hinaus leistet das Werk, wie Arno Gruen in seinem Vorwort hervorhebt »mehr als der Titel verspricht. … Es ist zugleich ein provozierender, origineller, die Familienmythen widerlegender, aufschlussreicher Beitrag für eine erneuernde Sicht des Identitätsprozesses.«

Kurt Eberhard  (Sept. 2007)

 

 

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