Zu den Autoren: Robert Goodman, Child & Adolescent Psychiatrist, ist Professor am Institute of Psychiatry des King's College in London. Stephen Scott , Child & Adolescent Psychiatrist, ist Dozent ebenfalls am Institute of Psychiatry des King's College in London. Aribert Rothenberger, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie ist Professor und Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Göttingen
Kurzvorstellung der 2. Auflage im Klappentext: »Der Schwerpunkt der neuen Auflage liegt weiterhin beim Vorschul- und Grundschulalter. Aber auch das Jugendalter wird berücksichtigt, zum einen im Rahmen der entwicklungspsychopathologischen Betrachtung der spezifischen Störungen, zum anderen mit einer ausführlichen Beschreibung von jugendlicher Delinquenz, von Selbstmord und Selbstmordversuch sowie in einer verdichteten Darstellung von Schizophrenie, Substanzmißbrauch und Eßstörungen. Die Entwicklung des Faches Kinder- und Jugendpsychiatrie schreitet dynamisch voran. neues detailliertes Wissen und neue klinische Erfahrung spiegeln sich in den Leitlinien wider. Es hat sich eine rege Forschung zur Wechselwirkung von Genetik und Umwelt entwickelt, vor allem bei der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Zudem werden die psychotherapeutischen Interventionen strenger auf ihre Evidenzbasiertheit hinterfragt, und Verfahren wie das Neurofeedback scheinen dank der Informationstechnologie neue Möglichkeiten für kinder- und jugendpsychiatrische Störungen zu eröffnen.«
Inhaltsverzeichnis:
Teil I: Basis 1. Untersuchung/ Abklärung 2. Klassifikation 3. Epidemiologie 4. Bio-psychosoziales Entwicklungsmodell
Teil II: Spezifische Störungen 5. Autistische Störungen 6. Hyperaktivität 7. Störung des Sozialverhaltens 8. Jugendliche Delinquenz 9. Schulverweigerung 10. Angststörungen 11. Depression und Manie 12. Selbstmord und Selbstmordversuch 13. Belastungsstörungen 14. Zwangsstörungen 15. Tourette-Syndrom und andere Tic-Störungen 16. Selektiver Mutismus 17. Bindungsstörungen 18. Enuresis 19. Einkoten 20. Schlafstörungen 21. Psychosomatik 22. Vorschulprobleme 23. Störungen während der Adoleszenz 24. Kindesmisshandlung
Teil III: Risikofaktoren 25. Generalisierte Lernbehinderung 26. Primäre Gehirnstörungen 27. Sprech- und Sprachstörungen 28. Lesestörungen 29. Unsichere Bindungen 30. Veranlagung und Erziehung 31. Bewältigung von belastenden Lebensereignissen 32. Schule und Kontakte zu Gleichaltrigen
Teil IV: Behandlung und Gesundheitsdienste 33. Interventionen: Wichtigste Prinzipien 34. Prävention 35. Medikation und Diät 36. Verhaltensbasierte Behandlungen 37. Kognitive und interpersonale Therapien 38. Familientherapie 39. Pflegschaft und Adoption 40. Organisation der Krankenversorgung
Teil V: Wissensüberprüfung Ein Thema - fünf Aussagen Zuordnung der Aussagen
Sachverzeichnis
Zur Demonstration der inhaltlichen und didaktischen Gestaltung soll aus den vier Hauptkapiteln je eine Textprobe entnommen werden. Im Kapitel über das Biopsychosoziale Entwicklungsmodell wird die Einwirkung psychosozialer Faktoren auf die Entwicklung des Gehirns beschrieben: »Bezüglich günstiger bzw. ungünstiger psychosozialer Umstände kann auf neurobiologischer Ebene immer deutlicher die Bedeutung psychosozialen Stresses für die strukturelle und funktionelle Gehirnentwicklung herausgearbeitet werden. In Abhängigkeit vom jeweils erreichten Entwicklungsstand, bisherigen Erfahrungen und dem aktuellen Kontext können dabei psychosoziale Stressoren als kontrollierbar im Sinne einer Herausforderung oder als unkontrollierbar im Sinne einer schweren Belastung empfunden werden. Im ersten Fall kommt es über eine Aktivierung streßsensitiver kortikaler und subkortikaler neuronaler Verschaltungen zu einer präferentiellen Stimulation des zentralen und peripheren noradrenergen Neuromediatorsystems und infolge dieser Stimulation zur Bahnung und Festigung bereits angelegter zentralnervöser Verschaltungsmuster mit nachfolgend adäquaten Verhaltensweisen zur Streßbewältigung. Sind keine solchen geeigneten Verhaltensweisen aktivierbar, kommt es in einem zweiten Schritt zu einer wesentlich tiefer reichenden, unkontrollierbaren Streßreaktion. Dabei haben die in diesem Zusammenhang ausgelösten neuronalen und neuroendokrinen Aktivierungsvorgänge (präferentielle Stimulation des hypothalamo-hypophyseoadrenokortikalen (HPA)-Systems und vermehrte Kortisolausschüttung) eine destabilisierende Wirkung auf die bereits angelegten Verschaltungsmuster. Dies bildet einerseits die Voraussetzung für die nachfolgende Reorganisation dieser Muster und den Erwerb neuartiger konstruktiver Fähigkeiten, kann aber andererseits, im Falle massiver und anhaltender chronischer Belastungen, aufgrund der daraus resultierenden Destabilisierungseffekte zur Gefährdung der Integrität eines Kindes und seiner weiteren psychischen Entwicklung führen.« (S. 66)
Aus den Spezifischen Störungen (Teil II) greifen wir die Bindungsstörungen und dort den Abschnitt Verlauf und Prognose heraus: »Der natürliche Verlauf einer Bindungsstörung muss noch empirisch sorgfältig untersucht werden. Allerdings kann man einige vorläufige Schlussfolgerungen aus Untersuchungen ziehen, bei denen im Sinne einer 'Follow-up'-Studie Kinder untersucht wurden, die ihre ersten Jahre in Erziehungsinstitutionen verbrachten oder die ein unsicheres Bindungsverhalten aufwiesen. Im Großen und Ganzen ergab sich, dass sich frühe Bindungsprobleme zwar auf spätere Freundschaften und intime Beziehungen ungünstig auswirkten, aber weniger zu Verhaltensproblemen führten und am allerwenigsten die kognitive Entwicklung beeinträchtigten. Die Auswirkung früher Bindungsstörungen wird deutlich dadurch vermindert, aber nicht vollkommen ausgeschaltet, wenn die sozialen Umstände der entsprechenden Kinder zum besseren hin verändert werden, d. h. wenn sie durch stabile und umsorgende Familien adoptiert werden. Wenn sie schließlich ihre eigenen Kinder und ihre eigene Familie haben, werden sie dann ihre eigenen Kinder vernachlässigen oder missbrauchen? Dies könnte teilweise von den Umständen abhängen, in denen sie sich hernach als Erwachsene befinden, und zum anderen Teil davon, wie gut sie es geschafft haben, ihre Vergangenheit zu bewältigen, nachdem sie erkannt haben, wie ihre Betreuungsperson mit ihnen umgegangen ist und wie sie sich selbst als Betroffene im weiteren Verlauf ihres Lebens davon entfernt haben.« (S. 184/185)
Unsichere Bindungen werden dann noch einmal in Teil III als Risikofaktoren thematisiert: »Viele Studien haben die soziale und psychosoziale Entwicklung von Kindern mit sicherer und unsicherer Bindung in Zusammenhang gebracht. .Die Ergebnisse zeigen, dass Kinder mit sicherer Bindung sich durchschnittlich wesentlich besser entwickeln. Aber nicht alle Kinder mit sicherer Bindung entwickeln sich gut, und nicht alle Kinder mit unsicherer Bindung entwickeln sich schlecht. Bis heute ist nicht geklärt, ob diese Gruppenunterschiede entstehen, weil unsichere Bindung selbst der Risikofaktor ist, oder ob unsichere Bindung als Marker für weiter gefasste familiäre Anormalitäten fungiert, die zu den schädlichen Langzeitwirkungen führen. Ob die Verbindung nun kausal ist oder nicht, erhöht eine sichere Bindung auf jeden Fall die Wahrscheinlichkeit dafür, dass das Kind später harmonische Beziehungen mit Erwachsenen und Kindern führen kann. ..... Frühe Studien, in denen die ABC-Klassifikation für Bindung angewandt wurde, betonten besonders die Verbindung des Bindungstyps A (vermeidend) mit externalisierenden Störungen wie Aggression. Heute scheint es wahrscheinlicher, dass der kürzlich entdeckte Bindungstyp D (desorganisiert) die stärkste Vorhersagekraft für externalisierendes Verhalten hat. Zum Beispiel zeigte eine Studie, dass desorganisierte Bindung im Alter von 18 Monaten eine sechsfache Steigerung schwerer Aggression gegenüber Gleichaltrigen im Kindergarten vorhersagte. Auch wenn die desorganisierte Bindung häufig vermeidende Elemente enthielt, ist bemerkenswert, dass diejenigen Kinder, die reine vermeidende (und nicht desorganisierte) Bindungen aufwiesen, später nicht zu verstärkter Aggression gegenüber Gleichaltrigen neigten. Vielleicht bahnen sehr schädliche Familienumstände einen Entwicklungsweg für Kinder, der durch desorganisierte Bindung und Dysphorie in der Säuglingszeit gekennzeichnet ist, durch oppositionell-trotziges Verhalten in der mittleren Kindheit und schwerwiegenderen Störungen des Sozialverhaltens und jugendlicher Delinquenz in der Adoleszenz.« (S. 312/313)
Im Teil IV heißt es unter Auswahl der Behandlungsansätze: »'Klinische Erfahrung' und 'allgemeine Übereinstimmung' sind überraschend fehleranfällig. Scheinbar 'offensichtliche' und 'selbsterklärende' nützliche Interventionen können mitunter mehr Schaden als Nutzen bringen - man hätte besser gar nichts getan. Beispiel: Es wurde eine sorgfältig randomisierte Studie durchgeführt, bei der ein so genanntes intuitiv ansprechendes Paket sozialer und psychologischer Interventionen für Kinder angewendet wurde, die ein hohes Risiko für delinquentes Verhalten aufwiesen. Es zeigte sich, dass die oben genannte Intervention langfristig die Problematik verschlimmerte. Andere so genannte plausible Interventionen stellten sich unter kontrollierten Bedingungen auch als kaum oder gar nicht effektiv heraus. So sind die konventionellen trizyklischen Medikamente bei depressiven Kindern und Jugendlichen erfolglos, und die Wirksamkeit von neueren selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRIs) ist strittig. Auch viele der psychologischen Behandlungsmaßnahmen für Kinder, die in heutzutage üblichen klinischen Rahmenbedingungen eingesetzt werden, sind ebenfalls wenig oder gar nicht effektiv. Auf der andern Seite konnten Behandlungsuntersuchungen und Metaanalysen, die sich auf diese Untersuchungen bezogen, zeigen, dass einige spezielle Behandlungsmaßnahmen für kinderpsychiatrische Störungen durchaus als effektiv gelten können. Aber wie effektiv sind sie? Es reicht nicht zu wissen, dass eine bestimmte Behandlungsmaßnahme in einer bestimmten Untersuchung einen statistisch günstigen Effekt erzielt hat. Es ist darüber hinaus noch wichtiger herauszufinden, ob das Ausmaß der erzielten Besserung auch groß genug ist, um im klinischen Alltag sichtbar zu werden. Ein kleiner Effekt, der keinerlei klinische Relevanz hat, kann immer noch zu einem statistisch signifikanten Ergebnis führen, wenn man nur die zu untersuchenden Gruppen und die Metaanalysen ausreichend mit Probanden bestückt. ..... Es gibt so gut wie keine Evidenz zum besten Vorgehen bei komorbiden Störungen. Es kann zudem noch sein, dass die sozialen Umstände und Wünsche von Eltern und Familien überhaupt nicht mit den Standardprotokollen verträglich sind. Kann deshalb überhaupt ein 'im Behandlungslabor' entwickeltes Standardprotokoll von großem Vorteil sein? Es kann! Denn es ist eine klar gekennzeichnete Ausgangsbasis, die in Verbindung mit einem sehr erfahrenen klinischen Urteil und mit geschulter, aber auch gezielter Improvisation - extrapoliert von empirisch begründeten Datenlagen - zu einem individuell an den Patienten angepassten, arbeitsfähigen Behandlungsplan führt.« (S. 351/353)
Bilanzierende Bewertung: Das Buch zeichnet sich durch übersichtliche Gliederung und Textgestaltung aus sowie durch überzeugende Balance zwischen seriöser Wissenschaftlichkeit und durchgehender Praxisnähe. Der international renommierte Entwicklungsforscher Michael Rutter empfiehlt es in seinem Geleitwort mit folgenden Worten: »Dieses Buch ist einzig in seiner Art und liefert die beste Einführung in die Kinderpsychiatrie, die jemals geschrieben wurde. Es bringt die Dinge auf den Punkt, ist sehr gut lesbar und von großem praktischen Nutzen durch die hier gebotenen Begriffserklärungen und die Anleitung für Diagnose und Behandlung.« Angesichts der stürmischen Entwicklung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie wünschen wir dem Werk weitere Auflagen, dann aber bitte mit Literatur- und Autorenverzeichnis und mit Vorstellung der Verfasser (die oben nachgelieferte stammt aus dem Internet).
Kurt Eberhard (Januar, 2007)
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