FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2006

 




Christine Ettrich und Klaus Udo Ettrich

Verhaltensauffällige Kinder
und Jugendliche

Springer Medizin Verlag, 2006

(249 Seiten, 29.95 Euro)


Zu den Autoren:
Prof. Dr. med. habil. Christine Ettrich, Fachärztin für Pädiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, ist Hochschullehrerin an der Universität Leipzig und leitet eine Längsschnittstudie zur Persönlichkeitsentwicklung verhaltensgestörter Kinder und Jugendlicher.
Prof. Dr. phil. habil. Klaus Udo Ettrich, Pädagoge und Psychologe, war Leiter einer psychologischen Beratungsstelle und Hochschullehrer für Entwicklungspsychologie an der Universität Leipzig und ist z.Z. in der Lebenslaufforschung tätig.

Der Anspruch des Buches läßt sich einerseits aus dem Vorwort und andererseits aus dem Nachwort entnehmen:
»Die Autoren des vorliegenden Buches meinen, dass es an der Zeit ist, im Interesse unserer Kinder und Jugendlichen und damit unserer Zukunft zum einen vorhandenes modernes theoretisches Wissen mehrerer Disziplinen übergreifend darzustellen und zum anderen vorhandene empirische Ergebnisse aus der Praxis vor diesem Hintergrund zu referieren und in künftiges Planen und Handeln einzubeziehen, damit Verhaltensgestörte nicht zu Außenseitern der Gesellschaft werden. Das vorliegende Fachbuch will sich dieser Herausforderung stellen, indem es interdisziplinäres theoretisches Wissen vertieft und mit neuen Erkenntnissen anreichert und dabei auch auf aktuelle Studien Bezug nimmt. Ergebnisse einer eigenen mehr als 10-jährigen prospektiven interdisziplinären Längsschnittstudie werden zur Verdeutlichung herangezogen.« (S. V)

»Wir beginnen deshalb mit Robins frühkindlicher Entwicklung und seiner Entwicklung in den ersten Schuljahren, in denen er ein normales Sozialverhalten zeigte. Weiterhin wird auf die Entwicklung seines sozialen und emotionalen Verhaltens eingegangen sowie auf die Entwicklung seines motorischen und kognitiven Verhaltens. Die letzteren Bereiche gelten als Grundlagen für die Herausbildung von Sozialverhalten. ....
Immer ist es uns ein Anliegen, neben den 'krankmachenden' Parametern auch 'gesund erhaltende' Faktoren oder gar Faktoren der Gesundung darzustellen. Es ist uns wichtig, genau nach protektiven Faktoren und Resilienzfaktoren zu schauen. Und es ist uns außerdem wichtig, darauf zu verweisen, welch große Bedeutung frühe Beziehungs- und Bindungsmuster haben. ....
     Über das Fallbeispiel Robin kommen wir zum diagnostischen Vorgehen bei Störungen des Sozialverhaltens und dies sowohl im pädagogischen als auch im psychologischen und medizinischen Bereich. Auch hier haben wir wieder Ergebnisse unserer Längsschnittstudie dargestellt, die mit den vorgestellten diagnostischen Verfahren gewonnen wurden, soweit sie uns für die Illustration des theoretisch Gesagten wertvoll erschienen. ....
Schließlich kommen wir dann unter 'Therapeutische Hilfen' zu vorwiegend in der klinischen Praxis eingesetzten Verfahren bis hin zu umschriebenen standardisierten Interventionsprogrammen.« (S. 220 - 224)

Eine übersichtliche Gliederung bietet das Inhaltsverzeichnis:

1. Notwendigkeit d. Zusammenarbeit zw. Pädagogik, Psychologie u. Medizin
1.1 Anlage-Umwelt-Kontroverse -aktuell betrachtet
1.2 Herausbildung und Vorkommenshäufigkeit von Störungen des Sozialverhaltens
1.3 Die Familie als soziale Basisstation

2. Verhalten: normales - auffälliges - gestörtes
2.1 Normales Verhalten
2.1.1 Entwicklung des sozialen und emotionalen Verhaltens.
2.1.2 Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten
2.1.3 Entwicklung der körperlichen und motorischen Fähigkeiten.
2.2 Auffälliges Sozialverhalten.
2.3 Gestörtes Sozialverhalten.
2.3.1 Welche Arten von Verhaltensstörungen unterscheiden wir?
2.3.2 Entstehungswege und Verlauf von Störungen des Sozialverhaltens
2.3.3 Der Einfluss v. Persönlichkeitsmerkmalen a.d. Entwicklung d. antisozialen Verhaltens.
2.4 Die Bedeutung des sozialen Umfeldes
2.4.1 Familiäres Umfeld
2.4.2 Schulisch-institutionelles und Freizeit-Umfeld
2.4.3 Gesellschaftliches Umfeld

3. Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
3.1 Symptomatik der ADHS
3.2 Ursachen für ADHS
3.3 Was bedeutet ADHS in verschiedenen Entwicklungsstadien?
3.4 Diagnostik bei ADHS
3.5 Schwerpunkte therapeutischer Möglichkeiten

4. Diagnostik v. Verhaltensauffälligkeiten und assoziierten Störungen:
    pädagogisch - psychologisch - medizinisch
4.1 Pädagogische Diagnostik
4.1.1 Standardisierte Verhaltensbeurteilung durch Lehrer
4.1.2 Problembewältigungsmuster der Kinder und Jugendlichen.
4.1.3 Verhaltensbeurteilung durch die Eltern
4.2 Psychologische und medizinische Diagnostik
4.2.1 Allgemeines.
4.2.2 Erfassung der Symptomatik.
4.2.3 Entwicklungsgeschichte.
4.2.4 Ermittlung kognitiver Voraussetzungen
4.2.5 Persönlichkeitsdiagnostik.
4.2.6  Beurteilung sozialer Fähigkeiten.
4.2.7 Auswertung von Berichten zum aktuellen Verhalten des Kindes oder Jugendlichen
4.2.8 Körperliche und entwicklungsneurologische Untersuchung

5. Wie kann man den betroffenen Kindern und ihrer Umwelt helfen?
5.1 Hilfen im Elternhaus bzw. in der Familie
5.1.1 Sprechen und Zuhören - als Zeichen der Wertschätzung des anderen
5.1.2 Präventionsprogramme
5.2 Hilfen im Kindergarten bzw. in der Schule
5.2.1 Hilfen vor der Einschulung
5.2.2 Pädagogische Hilfen in der Schule
5.3 Therapeutische Hilfen
5.3.1 Basisnotwendigkeiten für die Therapie
5.3.2 Elternberatung, Elterntraining und Problemlösetraining
5.3.3 Verhaltenstherapie
5.3.4 Weitere therapeutische Möglichkeiten

Zusammenfassung und Ausblick

Literaturverzeichnis

Quellenverzeichnis

Über die Autoren

Stichwortverzeichnis

Die Art der inhaltlichen und didaktischen Gestaltung soll ein Blick in das dritte Kapitel über die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung vermitteln:

Das Kapitel beginnt mit einem Fallbeispiel, in dem die Entwicklung eines Jungen in die ADHS-Symptomatik und deren Genesung u.a. durch pharmako- und verhaltenstherapeutische Hilfen beschrieben und ausgewertet wird.  Danach folgt eine allgemeine Darstellung der ADHS-Symptomatik. Zu den Ursachen heißt es:
»Man kann also sagen, ADHS beruht auf einer Unterfunktion des Stirnhirns und der mit dem Stirnhirn verbundenen und zusammenarbeitenden Zentren. Ursache dafür sind ein Mangel bzw. eine Imbalance an Botenstoffen (Neurotransmitter: Dopamin, Noradrenalin, Serotonin und Acetylcholin). ....
Vielfach wird heute die ADHS als Inhibitionsstörung aufgefasst, also als Störung der neuronalen Hemmprozesse. Hierfür gibt es verschiedene Theorien:
In der Theorie von Gray (1982) und Quay (1997) wird die Inhibition als Konditionierungsdefizit gesehen. Hier werden zwei im Gegensatz arbeitende neuropsychologische Systeme postuliert, ein Behaviour-inhibition-System (BIS) und ein Behaviour-activation-System (BAS). Die Patienten mit ADHS weisen ein unteraktiviertes Behaviour-inhibition-System auf und können deshalb schlechter Reaktionen auf Konditionierungsreize hemmen, die mit Strafe oder fehlender Verstärkung assoziiert sind.
     Logan (1994) betrachtet ADHS als ineffizienten inhibitorischen Kontrollprozess. Sie wird von ihm definiert als eine von mehreren Kontrollfunktionen im exekutiven System, das die Informationsverarbeitung reguliert und Selbstkontrolle ermöglicht. Die schlechtere Inhibitionsleistung bei ADHS-Patienten könnte entweder auf einen sehr schnellen primären Reaktionsprozess oder einen verlangsamten Inhibitionsprozess zurückzuführen sein, wobei empirische Befunde letzteres eher zu bestätigen scheinen.
     Von Barkley (1997) wird postuliert, dass die Inhibition ein primäres Defizit ist. Es handelt sich hier um das elaborierteste Modell zur ADHS. Barkley nimmt an, dass ein Defizit in der Inhibition das primäre Defizit bei ADHS-Patienten darstellt, das wiederum zu sekundären Problemen in vier exekutiven Funktionen, nämlich dem Arbeitsgedächtnis, der Selbstregulation des affektiv-motivationalen Arousals, der Internalisierung von Sprache und der Rekonstruktion führt. Diese Funktionen wiederum sind für eine effektive Selbstregulation und adaptive Funktion notwendig.
     Die Theorie von Sonuga-Barke (1995) postuliert eine abweichende Inhibition, aber kein Inhibitionsdefizit. Die Delay-Aversions-Theorie geht davon aus, dass ADHS-Kinder sich von gesunden Kindern hinsichtlich ihrer kognitiv-motivationalen Einstellung unterscheiden. Demnach stellt das impulsive Verhalten der ADHS-Patienten einen situativen Versuch dar, den Aufschub von Belohnung zu vermeiden. In neueren Arbeiten modifizierten Sonuga-Barke, Saxton u. Hall (1998) die Delay-Aversions-Annahme dahingehend, dass sie diese auf ein Defizit in der zeitlichen Wahrnehmung und auf eine falsche Einschätzung von Zeitintervallen zurückführten.
     Schließlich ist nach den Vorstellungen von Sergeant (2000) die Inhibition als Dysfunktion im Aktivierungsprozess zu werten. Das kognitiv-energetische Modell, das v.a. von europäischen Forschergruppen favorisiert wird, basiert auf dem Modell von Sanders (1983). Dieses Modell nimmt energetische Mechanismen an, die elementare Operationen modulieren können. Schwankendere und weniger akkurate Reaktionen von ADHS-Patienten werden entsprechend dem Rahmen dieses Modells durch Defizite in den Anstrengungs- oder Aktivierungsmechanismen erklärt.« (S. 85/86)

Die dann folgenden Abschnitte betrachten den Verlauf über die verschiedenen Alterstufen hinweg und bieten einen Überblick über die ADHS-Diagnostik – wieder illustriert durch ein Fallbeispiel.
     Die drei tragenden Säulen der Therapie seien die Elternberatung, die Verhaltenstherapie und die Pharmakotherapie:
»Die Beratung des Betroffenen und seiner Bezugspersonen ist unerlässlich, um eine psychoedukative Beeinflussung des Verhaltens und der sozalen Umwelt zu erreichen. Hinzu kommen spezifische Elternhilfen, wie z. B. die von Neuhaus (1999, 2000), von Ettrich und Murphy-Witt (2004, 2005, 2006) und von Ettrich (2005).
     Es sollten klare Strukturen mit eindeutiger Rollenverteilung existieren bzw. geschaffen werden. Der Tagesablauf soll strukturiert werden und Verhaltensrituale sind als wichtige Struktureinheiten zu sehen. Es sollte eine sensible Verhaltensbeobachtung und Protokollierung positiver und negativer Seiten des Kindes erfolgen. Formen des Elterntrainings und Familien-, evtl. auch Paartherapie, können indiziert sein. Die Eltern sollten befähigt werden, als Co-Therapeuten zu fungieren. Zur Wahrnehmungsschulung sollte das betreffende Kind stärker in den Familienalltag einbezogen werden, z. B. im Haushalt oder bei handwerklichen Tätigkeiten helfen.
     Bei der Verhaltenstherapie werden sowohl allgemeine Techniken der Verhaltensmodifikation eingesetzt als auch spezifische Verfahren bis hin zu speziellen Interventionsprogrammen angewendet (Ettrich 1998, 2002; Ettrich u. Ettrich 1999; Lauth u. Schlottke 1999; Döpfner, Schürmann u. Frölich 2002).
     Die pharmakotherapeutische Behandlung von Kindern und Jugendlichen hat in den vergangenen Jahren auch in Deutschland erheblich zugenommen. Die in der ADHS- Therapie am häufigsten eingesetzten Präparate gehören zur Gruppe der Stimulanzien (Methylphenidat: Ritalin, Medikinet, Equasym, Concerta).« (S. 90/91)

Anschließend werden die Wirkweise dieses Medikaments und neuere Alternativen sowie ergänzende therapeutische Strategien dargestellt.

Bilanzierende Bewertung:
Das Forscherpaar Ettrich hat mit dem vorliegenden Buch ein sehr gründliches, aber auch bestimmte Bereiche ausklammerndes Werk vorgelegt. In der Ätiologie kommen die neuropsychologischen Befunde der aktuellen Traumaforschung zu kurz, im Behandlungsteil fehlen so wichtige Reaktionsformen wie die Heimerziehung und die Familienpflege. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt im schulpädagogischen Bereich, und dort profitiert sie von  der hohen wissenschaftlichen und praktischen Kompetenz ihrer Autoren. Auch die Didaktik – klare Gliederung, viele Tabellen, Graphiken, Abbildungen und  Falldarstellungen herausgehobene Textteile und Merksätze – ist überzeugend. Die Lektüre kann allen Lehrern und Erziehern empfohlen werden, besonders auch deren Vorgesetzten. Für Schulpsychologen ist sie unverzichtbar.

Kurt Eberhard  (Nov. 2006)

 

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