FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2006

 





Alison Lapper

Autobiografie einer Optimistin

 

Blanvalet, 2005
(255 Seiten, 19,90 Euro)
 


Alison Lapper ist eine renommierte Künstlerin und eines der bekanntesten Aktmodelle Englands. Im Jahr 2003 wurde sie für ihre Verdienste in der Kunst von der Queen zum „Member of the Order of the British Empire“ ernannt, und im September 2005 wurde in London auf dem Trafalgar Square eine Marmorstatue der schwangeren Malerin enthüllt. Alison Lapper wuchs in den 60-iger und 70-iger Jahren in England in einem Behindertenheim auf. Sie kam ohne Arme und mit stark verkürzten Beinen zur Welt und will mit ihrer Autobiografie dazu beitragen, dass die „übrige Bevölkerung versteht, mit welchen Schwierigkeiten Menschen mit Behinderung zu kämpfen haben.“ (S.17) (s.a. Thomas Quasthoff – Die Stimme) Zunächst aus dem Inhalt:

Prolog
1.   Es ist ein Mädchen, Mrs. Lapper
2.   Trautes Heim
3.   Die Zeit in Norfolk
4.   Meine liebe Mutter
5.   Der Junior-Trakt
6.   Der Senior-Trakt
7.   Erste Liebe
8.   Banstead
9.   Mein Leben in London
10. Hochzeitsglocken
11. Alison Lapper, Künstlerin
12. Mein erstes Haus und eine Überraschung
13. Parys
14. Eine schwierige Beziehung
15. Die Statue auf dem Trafalgar Square

Im Krankenhaus wurde der Mutter vom  Personal erklärt, dass es für das Baby aufgrund seiner schlimmen Behinderung das Beste sei, wenn man sich in einer staatlichen Einrichtung um es kümmern würde, und so wurde Alison Lapper in ein Heim im Südosten Englands gegeben. Dort lebte sie mit ungefähr 52 von ihren Eltern verlassenen Kindern mit unterschiedlichen Behinderungen wie Spina bifida, Kinderlähmung oder Geistesschwächen. Liebvolle Zuwendung stand nicht auf dem Programm:
„....Es gibt keinen Grund, die Kinder aus den Betten zu holen. Sie brauchen nicht in die Arme genommen zu werden!« Das klang so, als wäre das Aufnehmen und Wiegen eines schreienden Babys gleichbedeutend mit der Verabreichung einer gefährlichen Droge. Was für eine rückständige Denkweise, so als erlitte ein Kind durch eine Umarmung einen bleibenden Schaden. Nun, genau diese Einstellung herrschte hier.....(S. 30)
   Wir zäheren bewohnten den äußeren Bereich, in dem es keine Heizung gab und der im Winter bitterkalt war. Wir waren in großen Schlafsälen untergebracht, zwanzig oder dreißig Kinder in einem Raum, in denen in langen Reihen unsere Metallbetten standen – Bett, Schrank, Bett, Schrank, Bett, Schrank. Die Betten waren groß und hatten hohe Seitenteile, so dass man sich darin wie in einem Käfig vorkam: Ich konnte nicht allein raus.... (S. 39)
   Einer der Aufseher war besonders gewalttätig. Und er konnte tun und lassen, was er wollte, weil es weit und breit niemanden gab, der ihn daran gehindert hätte. Er begann sein Unterhaltungsprogramm oft damit, dass er spielerisch mit einem von uns zu raufen anfing, für gewöhnlich mit einem der am schwersten behinderten und schwächsten Kinder, aber schnell wurde aus dem Spiel bitterer Ernst, und seine Schläge oder Tritte oder Stöße taten dem Kind wirklich weh. Eine andere seiner Lieblingsbeschäftigungen bestand darin, uns hochzuheben und quer durch den Raum zu schleudern. So eine Art Wurfspiel, bei dem er allerdings nicht besonders treffsicher war...“ (S. 82)

Alison Lapper gehörte zu den wenigen Kindern, die in den Ferien nicht nach Hause fahren konnten und von den Eltern nur selten Besuch erhielten. Deshalb stellte das Heimpersonal einen Kontakt zu einer Pflege-/Adoptivfamilie her, bei der sie die Ferien verbringen konnte. Als Alison Lapper vier Jahre alt war, bemühten jene sich um die Adoption, welche allerdings an der fehlenden Einwilligung der Mutter scheiterte:
„....Aber statt dass ich von den Tates adoptiert wurde und das Heim für immer verlassen konnte, endeten meine Besuche in Norfolk schlagartig. Damals wusste ich nicht, warum. Keiner nannte mir einen Grund, und so weinte ich still vor mich hin und fragte mich, wohin die Tates verschwunden waren. Warum kamen sie nicht mehr und besuchten mich? Ich nahm an, dass ich etwas schrecklich böses getan hatte und dass sie deshalb nichts mehr mit mir zu tun haben wollten. Jahre später erfuhr ich, dass meine Mutter die Adoption verhindert hatte.“ (S. 59)

Überhaupt hat Alison Lapper gute Gründe, Erwachsenen nicht mehr zu vertrauen – ein Schicksal, dass sie mit vielen ehemaligen Heimkindern teilt. Sie berichtet vielfach von unmenschlichem Umgang, Drill sowie körperlicher und seelischer Misshandlung im Heim. Versuche, dagegen zu protestieren, blieben erfolglos:
„Die für unseren Schlafsaal zuständige Oberschwester schimpfte uns aus, weil wir einer Lehrerin Lügenmärchen erzählt hätten, und zur Strafe mussten wir alle eine Woche lang früher ins Bett. Die Lehrerin erhielt eine Abmahnung..... und alles blieb beim Alten. Für uns sah die Sache so aus: Wir hatten uns mit unseren Problemen an eine Erwachsene gewandt, und sie hatte ernsthaft versucht, uns zu helfen. Aber das hatte nur dazu geführt, dass wir wieder zu leiden hatten.... Es hieß nur noch Erwachsene gegen Kinder.“ (S. 83)

Eine weitere bittere Wahrheit erfuhr die Autorin bei der Recherche zu diesem Buch. Sie erhielt Einblick in Unterlagen, aus denen hervorgeht, dass ihre Mutter sie all die Jahre belogen und über ihren Vater im Ungewissen gelassen hatte, um eine außereheliche Affäre zu vertuschen.

Trotz aller Widrigkeiten zeigte Alison Lapper aber auf ihrem Weg in die Selbständigkeit enorme Willenskraft. Nach 17 Jahren wurde sie aus dem Heim und in die Selbständigkeit entlassen. Mit Hilfe und Unterstützung von liebevoll ihr zugewandten Mitmenschen lebt sie in einer eigenen Wohnung, machte einen PKW-Führerschein und studierte Kunst. Dennoch endeten viele zwischenmenschliche Beziehungen im Desaster, und in ihrem Leben gibt es viele Frustrationen, über die in dem Buch offen und ehrlich berichtet wird. Diese Offenheit und die Bereitschaft zur Selbstreflexion sind bemerkenswert:
„Susannah sagte erst neulich zu mir, ihrer Meinung nach hätte das Heim mich für alle Zeiten geprägt. Und auch wenn mir diese Vorstellung eigentlich nicht gefällt, enthält ihre Bemerkung doch ein Körnchen Wahrheit. (S. 103)
     Das Mädchen wuchs in einer liebevollen familiären Umgebung auf, und genau das war es, was in meinem Kinderheim gefehlt hatte.“ (S. 180)

Das Buch gibt einen tiefen Einblick in die sehr persönlichen Probleme der Autorin, darüber hinaus zeigt es aber auch, wie diese bewältigt werden können und welche Rolle professionellen und ehrenamtlichen Helfern oder Freunden von Menschen mit Behinderung zukommt. Es ist deshalb nicht nur sozialpädagogischen Fachkräften zu empfehlen, sondern allen, die mehr über die alltäglichen und besondern Widrigkeiten im Leben eines Menschen mit Behinderung und die Rolle der institutionellen Erziehung erfahren wollen.

Christoph Malter (April 2006)

 

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