FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2005

 



Peter Fonagy, György Gergely,
 Elliot Jurist, Mary Target

Affektregulierung, Mentalisierung
und die Entwicklung des Selbst

Verlag Klett-Cotta, 2004
(572 Seiten, 44 Euro)


Die durch zahlreiche bedeutende Publikationen ausgewiesenen Autoren bürgen für hohes fachliches Niveau:
Peter Fonagy, Dr. phil., Psychologe und Psychoanalytiker, ist Professor am University College und Forschungskoordinator am Anna Freud Centre in London
György Gergely, Dr. phil., ist Direktor der Entwicklungspsychologischen Forschungsstelle des psychologischen Instituts der ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest
Elliot L. Jurist, Dr. phil., ist Professor im Fachbereich Philosophie an der Hofstra University und an der Abteilung für Psychiatrie der Columbia University
Mary Target, Dr. phil., ist Dozentin für Psychoanalyse am University College und Forschungsdirektorin am Anna Freud Centre in London.

Das ehrgeizige Anliegen des Buches ist im Klappentext klarer zusammengefaßt als in der Einleitung:
"Dieses Buch ist eine groß angelegte Synthese, in der es um das spannungsreiche Gegen- und Miteinander der Psychoanalyse und der Bindungstheorie geht. Es gelingt, eine Brücke zwischen den beiden Disziplinen zu schlagen, indem die Autoren das Bindungskonzept neu beleuchten. Es geht nicht mehr nur um die Herstellung von Bindung an sich, sondern darum, das Kind durch sichere Beziehungen derart auszustatten, daß es das Verstehen mentaler Zustände im Anderen und im Selbst entwickelt. Das Konzept der Mentalisierung wird so zum zentralen  Punkt für das menschliche Funktionieren im sozialen Umfeld."

Das Inhaltsverzeichnis gibt einen guten Überblick über die Schrittfolge durch dieses Programm:

Einleitung
Erster Teil: Theoretische Perspektiven
1. Kapitel: Bindung und Reflexionsfunktion: ihre Bedeutung für die Organisation des Selbst
2. Kapitel: Affekte und Affektregulierung in historischer und interdisziplinärer Sicht
3. Kapitel: Das psychosoziale Entwicklungsmodell der Mentalisierung und die
     Verhaltensgenetik
Zweiter Teil: Entwicklungspsychologische Perspektiven
4. Kapitel: Die Theorie des sozialen Biofeedbacks durch mütterliche Affektspiegelung
5. Kapitel: Die Entwicklung eines Verständnisses des Selbst und seiner Urheberschaft
6. Kapitel: »Mit der Realität spielen« - Entwicklungsforschung und ein psychoanalytisches
     Modell der Subjektivitätsentwicklung
7. Kapitel: Markierte Affektspiegelung und die Entwicklung eines affektregulierenden
     Gebrauchs des Als-ob-Spiels
8. Kapitel: Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz und adoleszenter Zusammenbruch
Dritter Teil: Klinische Perspektiven
9. Kapitel: Die desorganisierte Bindung als Grundlage der
     Borderline-Persönlichkeitsstörung
10. Kapitel: Psychische Realität in Borderline-Zuständen
11. Kapitel: Mentalisierte Affektivität im klinischen Setting
Epilog
Literatur
Autorenregister
Sachregister
Zu den Autoren

Jeder Hauptteil wird durch eine Einführung eingeleitet, die wir hier mehr oder weniger vollständig wiedergeben wollen. Danach bringen wir aus jedem Kapitel eine Textprobe, die wegen des dann fehlenden Kontextes, aber auch wegen der ausgiebigen Verwendung wenig bekannter sowie gänzlich neuer Termini nicht immer leicht zu verstehen sein wird. Unsere dokumentarische Form scheint uns aber doch angemessener und redlicher zu sein als eigene Interpretationen der sehr differenzierten und oft komplizierten Gedankengänge der Autoren.

Die Einführung in Teil I:
"In diesem ersten Teil stellen wir einige zentrale theoretische Konzepte vor, mit denen wir im weiteren arbeiten werden. Das 1. Kapitel bildet gewissermaßen die Ouvertüre: Wir definieren die Funktionen von Reflexionsfähigkeit und Mentalisierung und formulieren in diesem Zusammenhang die These, daß die Mentalisierungsfähigkeit eine entscheidende Voraussetzung dafür ist, daß wir ein Bewußtsein für unser psychisches Selbst entwickeln können. Gleichwohl ist Mentalisierung mehr als ein kognitiver Mechanismus, und deshalb werden wir uns im 2. Kapitel eingehend mit verschiedenen Sichtweisen der Affekte und der Affektregulierung beschäftigen. Wir untersuchen die Bedeutung der Affektregulierung und betonen den Unterschied zwischen einer elementaren Form, die ein affektmodulierendes Objekt voraussetzt, und einer komplexeren Form der Affektregulierung, die durch die Entwicklung der Mentalisierung verändert wird und deren Ziel darin besteht, das Selbst regulieren zu können. Im 3. Kapitel schließlich formulieren wir unser Verständnis der frühen Entwicklung, das die Umwelt als determinierenden Faktor einbezieht. Damit sollen die Erkenntnisse, die für ein genetisch-biologisches Entwicklungsverständnis sprechen, keineswegs bestritten werden. Sehr wohl aber melden wir Zweifel an bestimmten Rückschlüssen an, die auf dieser Grundlage gezogen wurden, und stellen insbesondere deren angebliche klinische Relevanz in Frage. In diesem Kontext plädieren wir auch für eine entscheidende Neuformulierung der Bindungstheorie: Nach unserer Ansicht besteht ein wesentliches Ziel der Bindung darin, durch Mentalisierung ein System zur Repräsentation von Selbstzuständen herzustellen." (S. 29)

Aus dem 1. Kapitel:
     "Im folgenden formulieren wir  in erster Linie aus klinischer Perspektive  vier Thesen zur Entwicklung des psychischen Selbst:
     1. In der frühen Kindheit besteht das Charakteristikum der Reflexionsfunktion darin, innere Erfahrungen auf zweierlei Weise zur äußeren Situation in Beziehung zu setzen:
     (a) In einer 'ernsten' inneren Verfassung erwartet das Kind, daß seine eigene innere Welt und die anderer Personen der äußeren Realität entsprechen; das subjektive Erleben wird häufig verzerrt, um es Informationen, die von außen kommen, anzupassen. Dies ist der Modus der psychischen Äquivalenz
(vgl. Gopnik und Astington, 1988; Perner, Leekam und Wimmer, 1987).
     (b) Wenn das Kind in ein Spiel vertieft ist, weiß es, daß sein inneres Erleben die äußere Realität nicht zwangsläufig widerspiegelt (vgl. zum Beispiel Bartsch und Wellman, 1989; Dias und Harris, 1990); es nimmt aber an, daß der innere Zustand keinerlei Beziehung zur Außenwelt aufweist und keinerlei Implikationen für sie hat (Als-ob-Modus).
     2. Im Laufe der normalen Entwicklung integriert das Kind diese beiden Modi und erreicht so die Stufe der Mentalisierung - oder den Reflexionsmodus-,auf der mentale Zustände als Repräsentationen wahrgenommen werden können. Zusammenhänge zwischen innerer und äußerer Realität treten zutage; gleichzeitig erkennt das Kind an, daß sich Innen und Außen in mancherlei wichtiger Hinsicht voneinander unterscheiden  sie müssen nicht mehr entweder gleichgesetzt oder aber voneinander dissoziiert werden (Baron-Cohen, 1995; Gopnik, 1993).
     3. Wir haben die These vertreten, daß die Mentalisierung normalerweise dann auftaucht, wenn das Kind die Erfahrung macht, daß seine mentalen Zustände reflektiert werden. Als Prototyp dieser Erfahrung betrachten wir das vom Kind als sicher empfundene Spiel mit einem Elternteil oder einem älteren Geschwister. Dieses Spiel nämlich fördert die Integration des Als-ob-Modus und des Modus der psychischen Äquivalenz durch einen interpersonalen Prozeß, der möglicherweise eine Weiterentwicklung der komplexen Spiegelung des Säuglings/K1einkindes durch die Mutter ist. Im Spielmodus verleiht die Bezugsperson den Ideen und Gefühlen des Kindes (das »nur so tut, als ob«) eine Verbindung zur Realität, indem sie eine alternative Sichtweise aufzeigt, die außerhalb der Vorstellung des Kindes existiert. Die Mutter oder das ältere Kind zeigen auch, daß die Realität verzerrt werden kann, indem man spielerisch auf sie einwirkt. Durch diese spielerische Haltung kann eine mentale Als-ob-Erfahrung, die gleichwohl real ist, ermöglicht werden.
     4. Diese Integration ist bei traumatisierten Kindern aufgrund der intensiven Gefühle und damit verbundenen Konflikte möglicherweise partiell gescheitert, so daß Aspekte des Funktionierens im Als-ob-Modus zum Bestandteil eines Realitätserlebens werden, das durch den Modus der psychischen Äquivalenz gekennzeichnet ist. Dies mag darauf zurückzuführen sein, daß die Atmosphäre in Familien, in denen Kinder mißhandelt oder traumatisiert werden, in aller Regel nicht so beschaffen ist, daß die Bezugsperson mit den dringlichsten Aspekten der Gedanken des Kindes 'spielt'  diese sind für die Mutter oft ebenso verstörend und unannehmbar wie für das Kind selbst. Das unflexible und kontrollierende Verhalten des Vorschulkindes mit desorganisierter Bindung ist also darauf zurückzuführen, daß es dem Kind nicht vollständig gelungen ist, den Modus der psychischen Äquivalenz im Umgang mit spezifischen Ideen und Gefühlen zu überwinden. Deshalb erlebt es sie mit der gleichen Intensität, die zu erwarten wäre, wenn es sich um aktuelle äußere Ereignisse gehandelt hätte." (S. 65/66)

Aus dem zweiten Kapitel:
     "Unser Beitrag zur Klärung des Konzepts der Affektregulierung verbindet die Perspektiven, die wir eingangs erläutert haben, mit den oben dargestellten Sichtweisen. Die niedrigste Regulationsebene betrifft das Gleichgewicht des Organismus, auf das Neurowissenschaftler wie Damasio und Psychobiologen wie Hofer unsere Aufmerksamkeit gelenkt haben. Auf dieser Ebene entspricht die Affektregulierung der Homöostase; sie vollzieht sich weitgehend außerhalb des bewußten Gewahrseins. ....
     Auf einer weiteren Ebene findet die Regulierung im Zusammenhang mit unserer Beziehung zu anderen statt. Sie hilft uns, Affekte zu formen und sie mitzuteilen (manchmal anstelle von entsprechendem Handeln). Im Grunde betrifft diese Ebene beinahe ebensosehr die Selbstregulierung wie die Affektregulierung. Die Affektregulierung reguliert die Affekte, hat aber gleichwohl Konsequenzen für das Selbst, denn sie ist daran beteiligt, daß es überhaupt entstehen kann (siehe Gergely und Watson, 1996, sowie das 4. Kapitel). Selbstregulierung erfolgt, wenn das Selbst das Objekt der Regulierung ist; dies kann, muß aber nicht durch Affekte erreicht werden. ....
     Die Affektregulierung der zweiten Ebene hängt mit der individuellen Bedeutung der Affekte zusammen. Insofern die Regulierung auch die Fähigkeit impliziert, in einem Affektzustand zu bleiben, während man über ihn nachdenkt, unterscheidet sich unser Modell von den traditionellen philosophischen und psychologischen Annahmen, daß die Kognition auf den Affekt einwirkt. .... Mit anderen Autoren räumen wir ein, daß es einen kognitiven Beitrag zur Regulierung geben muß den man zum Beispiel als Bewertung, Aufmerksamkeit oder Informationsverarbeitung usw. bezeichnen kann. Wir behaupten aber, daß es möglich ist, den Affektzustand kognitiv zu prozessieren und ihn gleichzeitig aufrechtzuerhalten. Der Zustand kann nach oben reguliert (verstärkt) oder nach unten reguliert (abgeschwächt) werden, doch er kann auch völlig unverändert bleiben.
.....Uns geht es gewiß nicht darum, die Möglichkeit, daß die Affektregulierung zu äußerer Aktion führt, in Frage zu stellen. Wir haben lediglich die Absicht, die Aufmerksamkeit auf eine spezifische Funktion der Affektregulierung zu lenken, die auf der Mentalisierung beruht und in der Literatur über Affektregulierung bislang nicht beschrieben wurde. Mentalisierung ist die umfassendere Kategorie, in der die Selbstregulierung enthalten ist. Ebenso wie die Selbstregulierung betrifft die Reflexionsfunktion nicht zwangsläufig Affekte. Wenn dies jedoch der Fall ist, wird das Affekterleben auf eine komplexere Weise verarbeitet. Und ebenso wie die Reflexionsfunktion eine neue Art des Interesses an der eigenen Psyche erzeugt, ermöglicht das Mentalisieren mit Affekten eine neue Art der Beziehung zu den eigenen Affekten.
     Versuchen wir, diese höchste Form der Affektregulierung zu charakterisieren und zu benennen. Das Konzept der »mentalisierten Affektivität« bezeichnet die Affektregulierungsfähigkeit des Erwachsenen, die es ermöglicht, sich der eigenen Affekte bewußt zu sein und den Affektzustand gleichzeitig aufrechtzuerhalten. Diese Affektivität kennzeichnet die Fähigkeit, die Bedeutung(en) der eigenen Affektzustände zu ergründen .... Mentalisierte Affektivität ermöglicht es uns, menschlich zu sein oder, ironisch formuliert, noch menschlicher zu werden." (S. 102-104)

Aus dem dritten Kapitel:
"Im Lichte der wissenschaftlichen Ergebnisse zeigt sich, wie naiv es wäre anzunehmen, daß sich die genotypische Bestimmung des Kindes in einem hermetisch versiegelten Gehirn vollzieht, isoliert von der sozialen Umwelt, in der die Ontogenese erfolgt  die stabile Anpassung an ebendiese Umwelt ist der Organisationszweck des gesamten Systems. Subjektivität, das Verstehen der individuellen Reaktion, wird einen wesentlichen Teil beim Zusammensetzen des mikrobiologischen Puzzles der Genexpression ausmachen. .... Unserer Meinung nach erfüllt die Bindung im Säuglingsalter zumindest unter anderem auch die Funktion, die Entwicklung einer interpersonalen Interpretationsfähigkeit zu fördern. .... Der Interpretationsfähigkeit wiederum kommt eine Schlüsselrolle bei der Verarbeitung von sozialer Erfahrung zu. .... Ob sich längerfristig Störungen entwickeln werden, hängt von der Interpretationsfähigkeit ab  wir vermuten, daß die Wahrscheinlichkeit der Expression des pathogenen Genotyps mit dem unzulänglichen Funktionieren eines Mechanismus wächst, der normalerweise die Unterscheidung zwischen den psychischen Zuständen des Selbst und jenen des Anderen ermöglicht.
     Ebendiese Funktion ist von immenser Bedeutung, weil die beschwerliche Entwicklung vom Genotyp zum Phänotyp auf diese Weise determiniert wird. Ein umfassendes Verstehen der Interaktion zwischen individuellen, mentalisierten Repräsentationen von Lebenserfahrung und der Expression genetischer Dispositionen ist die Aufgabe, vor die sich die Entwicklungspsychopathologie in den nächsten Jahrzehnten gestellt sehen wird." (S.149/150)

Die Einführung in Teil II:
"Im zweiten Teil dieses Buches beschreiben wir ausführlich die Entwicklung des Selbstgefühls vom Säuglingsalter bis zur Adoleszenz.
Im 4. Kapitel stellen wir die Theorie des sozialen Feedbacks durch Affektspiegelung dar; sie erklärt jenen Mechanismus, durch den Säuglinge in der Interaktion mit primären Bezugspersonen lernen, ihre Affektzustände zu identifizieren und zu kontrollieren, um so von der zunächst gemeinsamen Regulierung zur Selbstregulierung zu gelangen und sich als selbstregulierende Akteure wahrzunehmen. ....
Im 5. Kapitel beschreiben wir fünf verschiedene Aspekte des Selbst: den körperlichen, sozialen, teleologischen, intentionalen und schließlich den repräsentationalen oder autobiographischen Aspekt. Das aus der Philosophie des Geistes übernommene Konzept des intentionalen Standpunktes - und seiner Beziehung zum teleologischen Standpunkt -  ist für unsere Sichtweise von besonderer Bedeutung, weil es erklärt, wie wir lernen, uns selbst zu verstehen, indem wir andere verstehen. Wir wollen zeigen, daß der Intersubjektivität, sobald sie in der frühen Entwicklung aufzutauchen beginnt, eine zentrale Funktion zukommt. ....
Im 6. Kapitel
untersuchen wir das dialektische Verhältnis zwischen dem Modus der »psychischen Äquivalenz« (in dem die mentale Realität mit der äußeren Realität zur Deckung gebracht werden muß) und dem »Als-ob«-Modus (in dem mentale und physikalische Realität vollständig voneinander getrennt werden) und zeigen, wie diese beiden Modi des kindlichen Erlebens durch das »Spielen mit der Realität« integriert werden, bis das Kind schließlich anzuerkennen vermag, daß seine Gedanken und Vorstellungen die äußere Realität lediglich partiell widerspiegeln.
Das 7. Kapitel
enthält ein Fallbeispiel und illustriert, wie diese Konzepte dem Therapeuten das Verständnis eines kleinen Jungen erleichterten, dessen gestörte Mutterbeziehung diese Entwicklungsprozesse tiefgreifend verzerrt hatte.
Das 8. Kapitel
schließlich ist den Prozessen gewidmet, die normalen und pathologischen Belastungsfaktoren in der Adoleszenz zugrunde liegen, und illustriert schwere Psychopathologien am Beispiel von ausführlichem klinischen Material." (S. 151/152)

Aus dem vierten Kapitel:
"Unsere zentrale These lautet, daß die Betreuungsperson durch ihre »markierte«, übertriebene Spiegelung der Emotionsausdrücke des Säuglings eine Art natürliches Biofeedback-Sensibilisierungstraining anbietet, dessen Wirkung sich aufgrund der exzellenten Fähigkeit des Säuglings entfalten kann, Kontingenzrelationen zwischen Reaktion und Ereignis zu entdecken und zu analysieren. Wir haben vier verschiedene Entwicklungsfunktionen identifiziert, denen die mütterliche Affektspiegelung dient:

  1. Die Sensibilisierungsfunktion: Infolge des Biofeedback-Trainings erwirbt der Säugling die Fähigkeit, die Gruppen von Reizhinweisen auf innere Zustände zu entdecken und zusammenzugruppieren, die seine kategorial distinkten dispositionellen Emotionszustände anzeigen.
  2. Die repräsentanzenbildende Funktion: Indem das Baby für die »markierten« Emotionsausdrücke der Mutter, die mit seinen eigenen emotionsexpressiven Verhaltensweisen kontingent sind, gesonderte Repräsentanzen errichtet, stellt es sekundäre Repräsentanzen her, die mit seinen primären, nicht-bewußten, prozeduralen Affektzuständen assoziiert werden. Diese sekundären repräsentationalen Strukturen schaffen die kognitiven Möglichkeiten für den Zugang zu emotionalen Zuständen und deren Attribuierung ans Ich; dies wiederum legt die Basis für die auftauchende Fähigkeit des Säuglings, seine dispositionellen Emotionszustände zu kontrollieren und über sie nachzudenken.
  3. Die zustandsregulierende Funktion: Während der empathischen mütterlichen Spiegelung negativer Affektausdrücke des Babys registriert dessen Kontingenzentdeckungsmechanismus den hohen Grad an kontingenter Kontrolle, den seine Emotionsausdrücke über das Spiegelungsverhalten der Betreuungsperson ausüben. Dies erzeugt ein Gefühl für kausale Effektanz sowie positive Erregung, die wiederum durch reziproke Hemmung eine Abschwächung des negativen Affektzustands des Säuglings bewirkt. Gewissermaßen als Nebenprodukt seiner Bemühungen, während tröstender Interaktionen den maximalen Grad seiner Kontingenzkontrolle über die affektspiegelnden Ausdrücke der Mutter zu identifizieren, wird das Baby zudem seine Äußerungen der negativen Emotion modifizieren letztlich reduzieren und dadurch ebenfalls zu dem tröstenden Effekt beitragen.
  4. Die Kommunikations- und Mentalisierungsfunktion: Indem der Säugling die mit primären Selbstzuständen assoziierten »markierten« sekundären Repräsentanzen internalisiert, erwirbt er einen generalisierten Kommunikationskode »markierter« Ausdrücke, der durch die repräsentationalen Funktionen der referentiellen Abkopplung, der referentiellen Verankerung und der Suspendierung realistischer Konsequenzen charakterisiert ist. So entsteht ein neuer »Als-ob«-Modus des Mentalisierens und Kommunizierens über Affektzustände, der dem kleinen Kind ausgesprochen wirksame repräsentationale Instrumente zur emotionalen Selbstregulierung und Selbstäußerung zur Verfügung stellt." (S. 208/209)

Aus dem fünften Kapitel:
"In diesem Kapitel haben wir beschrieben, wie das Kind im Laufe der ersten fünf Lebensjahre ein Verstehen des Selbst und anderer Personen als Akteure in der Umwelt erwirbt. .... Dabei erwies es sich für uns als hilfreich, fünf verschiedene Ebenen der Entwicklung des Verstehens von Urheberschaft und Selbstheit zu unterscheiden:

  1. Das Selbst als »physischer Akteur« kennzeichnet die differenzierte Repräsentation des Körpers als separate und dynamische Entität, die physikalische Veränderungen in der Umwelt hervorrufen kann.
  2. Das Selbst als »sozialer Akteur« repräsentiert die artspezifischen affektiv-kommunikativen Interaktionen  sowie ihre subjektiven emotional-intentionalen Korrelate  , die Säuglinge mit ihren Betreuungspersonen von Geburt an unterhalten.
  3. Das Selbst als »teleologischer Akteur« bezieht sich auf das qualitativ neue, aber nach wie vor nichtmentalistische Verstehen zielgerichteten rationalen Handelns, das im Alter von etwa neun Monaten auftaucht und der sogenannten »sozio-kognitiven Neunmonatsrevolution« zugrunde liegt.
  4. Das Selbst als »intentionaler mentaler Akteur« taucht im Laufe des zweiten Lebensjahres auf und umfaßt ein bereits mentalistisches Verstehen bestimmter kausaler, intentionaler innerer Zustände wie Wünsche und Absichten, die als den von ihnen erzeugten Aktionen vorgängig und getrennt von ihnen repräsentiert werden.
  5. Das Selbst als »repräsentationaler Akteur« und das im Alter von vier bis fünf Jahren auftauchende »autobiographische Selbst« umfassen die Fähigkeit, die »repräsentationalen« und »kausal selbstbezüglichen« Eigenschaften intentionaler mentaler Zustände zu begreifen; dies führt unter anderem zum Aufbau eines abstrakten, zeitlich erweiterten, historisch-kausalen Konzepts des »autobiographischen Selbst«." (S. 254/255)

Aus dem sechsten Kapitel:
"Der Reflexionsaspekt des analytischen Prozesses ist das Verstehen und nicht lediglich die Empathie (die exakte Widerspiegelung des mentalen Zustands). Um dem Kind den Übergang vom Modus der psychischen Äquivalenz zum mentalisierenden Modus zu ermöglichen, reicht es nicht, wenn die analytische Reflexion welcher Orientierung auch immer  den inneren Zustand des Kindes lediglich »kopiert«; sie muß noch einen Schritt weiter gehen und eine andere, aber gleichwohl erfahrungsangemessene Re-präsentation anbieten. Die geistige Welt des Analytikers dient als Gerüst (Vygotsky, 1966) und unterstützt die Entwicklung der Repräsentation in der psychischen Welt des Kindes, indem sie seiner Wahrnehmung seines mentalen Selbst ständig einen Schritt voraus ist. Somit ist Kinderpsychoanalyse mehr als nur die Entfernung von Hindernissen, die sich der Mentalisierung entgegenstellen. Sie stellt die Ausübung eines universalen Entwicklungselements in seiner Reinform dar. Der erste Schritt des Analytikers besteht darin, die unabweisbare Realität der Erfahrung des Kindes anzuerkennen, sich in die Als-ob-Welt hineinzubegeben und dem Kind langsam, nach und nach, durch den Kontakt zu seinem eigenen mentalen Erleben aufzuzeigen, daß es sich um eine Ansammlung von Repräsentationen handelt, die gemeinsam geteilt werden können, mit denen man spielen und die man verändern kann." (S. 293/294)

Aus dem siebenten Kapitel:
"Das zentrale therapeutische Ziel der Psychoanalyse besteht infolgedessen darin, dem Patienten zu helfen, »Affektivität zu mentalisieren«. Indem er für seine inneren Affektzustände sensibilisiert wird und Gelegenheit erhält, entsprechende sekundäre Repräsentationen herzustellen, lernt der Patient, seine subjektiven Affektinhalte als mentalisierte repräsentationale Zustände zu erfassen und über sie nachzudenken, ohne ständig Gefahr zu laufen, sie mit der äußeren Realität zu verwechseln. Durch die Prozesse des sozialen Biofeedbacks helfen ihm die vom Therapeuten angebotenen, markierten Externalisierungen seiner eigenen inneren Affektinhalte, eine neue introspektive Fähigkeit zu erwerben, um Affekte »innerlich« auszudrücken: Er internalisiert die neu erfahrenen, sicheren Formen affektregulierender markierter Externalisierungen, die der Therapeut durch seine spiegelnden Deutungen zur Verfügung stellt. Auf diese Weise erwirbt der Patient nach und nach mentale Fähigkeiten, die es ihm ermöglichen, seine Affekte selbst zu regulieren." (S. 318)

Aus dem achten Kapitel:
"Wie also können wir mit regredierten adoleszenten Patienten umgehen? Die Patienten, an die wir in erster Linie denken, sind intensivsten Ängsten ausgesetzt. Sie befürchten, daß ihr Selbst überwältigt wird, weil die Mutter, auf die sie ein archaisches Mutterbild zurückprojizieren konnten, nicht mehr da ist. Dies muß die Behandlungstechnik berücksichtigen. Deshalb ist es mitunter besonders wichtig, die Projektionen anzunehmen und zu Beginn häufig sogar auf ihre Deutung zu verzichten. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, daß der Therapeut abwechselnd zu einer guten oder bösen, geschätzten und gehaßten Figur gemacht und mit magischer Geschwindigkeit durch ein gewaltiges intrapsychisches Terrain befördert wird. Die scheinbare »Promiskuität« dieser Jugendlichen ist darauf zurückzuführen, daß sie ständig auf der Suche nach weiteren Figuren sind, in denen sie das fremde Selbst unterbringen können. Da aber die meisten Menschen ihre Projektionen nicht annehmen, fühlen sich diese Jugendlichen vollständig abgelehnt. ....
     Analytische Hilfe muß auf eine Weise angeboten werden, die mit den Entwicklungsherausforderungen dieser Phase im Einklang steht und das Streben nach einer autonomen Identität fördert. Dies geschieht durch einen Prozeß, der dem Spielen mit einem kleinen Kind analog ist und dem Jugendlichen hilft, seine mentalen Zustände psychisch und nicht physisch zu repräsentieren und zu bewältigen." (S. 342)

Einführung in Teil III:
"Im folgenden dritten Teil analysieren wir neben Material aus Kinder- und Jugendlichenanalysen zusätzlich auch solches aus der Behandlung erwachsener Patienten. ....
Das 9. und 10. Kapitel
sind den schweren Charakterpathologien gewidmet; im Mittelpunkt stehen Patienten mit Borderline-Persönlichkeit, die zeigen, daß dieser Pathologie ein Scheitern der Mentalisierung sowie Probleme mit der Aufrechterhaltung der intentionalen Haltung zugrunde liegen. Wir entwickeln zudem das Konzept eines fremden Selbst, das verantwortlich ist für unerträgliche Störungen im Identitätsgefühl dieser Patienten, für die überaus starke Neigung zu selbstschädigendem Verhalten und für das Dilemma, daß Bindungen einerseits verzweifelt gesucht, andererseits aber sehr rasch als unerträglich empfunden werden. ....
Im 11. Kapitel
erweitern wir unseren Fokus mit Behandlungsberichten über vier erwachsene Patienten mit relativ milder bis schwerer Psychopathologie. In diesem Kapitel beschreiben wir die Affektverarbeitung durch Mentalisierung den Vorgang, den wir als »mentalisierte Affektivität« bezeichnen." (S. 343)

Aus dem neunten Kapitel:
"Eine gravierende Konsequenz von Vernachlässigung, Mißhandlung und Mißbrauch durch die Eltern besteht darin, daß dem Säugling/Kleinkind die sensible und abgestimmte Umwelt verwehrt bleibt, die seine Emotionen und Intentionen widerspiegelt und unserer Ansicht nach die Voraussetzung für die Bildung von sekundären Repräsentationen der Selbstzustände darstellt. Wenn dem Kind solche sekundären Repräsentationen nicht zur Verfügung stehen, bleiben die Affektimpulse des »konstitutionellen Selbst« relativ unzugänglich; sie werden nicht bewußt erfaßt, und dies führt zu Gefühlen der Leere und Desorganisation und beeinträchtigt die Fähigkeit zur Impulskontrolle. Zahlreiche Untersuchungsergebnisse legen nahe, daß Mißhandlungserfahrungen die Reflexionsfähigkeiten des Kindes und sein Selbstgefühl beeinträchtigen (Beeghly und Cicchetti, 1994; Schneider-Rosen und Cicchetti, 1984, 1991). .... Das Bedürfnis nach Nähe bleibt erhalten und kann durch den Distress, den der Mißbrauch hervorruft, sogar noch verstärkt werden. .... Infolgedessen sucht das Kind paradoxerweise die Nähe ausgerechnet jenes Menschen, der ihm die Mißhandlungen zufügt." (S. 354)

Aus dem zehnten Kapitel:
"Die mentalistische Haltung des Psychotherapeuten und seine Arbeit an inneren Zuständen ermöglicht es dem Patienten schließlich, sich in der Psyche des Therapeuten zu finden und dieses Bild als Teil seines eigenen Selbstgefühls zu integrieren. Wenn die Behandlung erfolgreich verläuft, kann der Patient nach und nach akzeptjeren, daß es gefahrlos ist, Gefühle zu empfinden und über Vorstellungen nachzudenken. Diese allmähliche Veränderung bewirkt, daß die innere Welt zunehmend als getrennt von der äußeren Realität und als qualitativ andersartig wahrgenommen werden kann (Fonagy und Target, 1996). ....   
     Die nicht-belehrende, Raum gewährende, mentalistische Haltung des Analytikers verlangt vom Patienten, sich auf den mentalen Zustand eines wohlwollenden Anderen zu konzentrieren. Die biologische Disposition des Patienten zur Reflexion und Selbstreflexion wird bereits durch diese Haltung an sich verstärkt oder aktiviert. Vor allem aber kann der Patient sich selbst als denkendes und fühlendes Wesen in der Psyche des Therapeuten finden jene Repräsentation, die in seiner frühen Kindheit nie vollständig entwickelt worden ist und durch spätere leidvolle interpersonale Erfahrungen wahrscheinlich zusätzlich untergraben wurde." (S. 435)

Aus dem elften Kapitel:
"Das Konzept der mentalisierten Affektivität beschreibt ein klinisches Phänomen, das mit der Mediation des affektiven Erlebens durch Selbstreflexion zusammenhängt. Das Konzept ist deshalb außerordentlich relevant, weil das zentrale Ziel der Psychotherapie darin besteht, die Beziehung zu den eigenen Affekten zu verändern. Die Mentalisierung unserer Affektivität, das heißt die Identifizierung, Modulierung und Äußerung von Affekten, hilft uns zu verstehen, wie wir die Beziehung zu den eigenen Affekten beeinflussen können. Letztlich muß die Validität eines solchen Konzepts durch die empirische Forschung bestätigt werden. Wir hoffen, mit diesem Kapitel gezeigt zu haben, daß ein solches Konzept notwendig ist und daß es sich lohnt, dieses Thema gründlich zu erforschen." (S. 467/468)

Daß die Autoren trotz ihrer reichhaltigen therapeutischen Erfahrungen die Notwendigkeit validitätsorientierter empirischer Forschung betonen, unterscheidet sie wohltuend von vielen hiesigen Psychoanalytikern, die sich einer Hermeneutik überlassen, die mehr von scholastischen Traditionen als von wissenschaftlichen Regeln gesteuert ist.

Im Epilog setzt sich das Bekenntnis zur empirischen Wissenschaft fort.
"Die Erforschung der sozialen Entwicklung im Säuglingsalter ist vermutlich dasjenige Gebiet der empirischen Wissenschaft, das auf die Psychoanalyse den größten Einfluß ausübt. .... Gegen die Beeinflussung der Psychoanalyse durch die Säuglingsforschung wurden in der Vergangenheit triftige Einwände geltend gemacht. .... Gleichwohl können vermutlich viele Kliniker unserer Ansicht zustimmen, daß die Ergebnisse psychoanalytisch orientierter empirischer Untersuchungen über die frühe Entwicklung für das klinische Verständnis und die Behandlungstechnik relevant sind." (S. 469)

Die empirische Grundhaltung der Autoren, ihre klinische Anbindung an die Praxis, die übergreifende interdisziplinäre Orientierung, die Einbindung in ein sich wechselseitig reflektierendes Team - das sind die Komponenten, die für die Glaubwürdigkeit eines Textes sprechen, der andererseits wegen seiner unvermeidlich abstrakten Terminologie und ziemlich komplizierter Theoreme immer wieder skeptisches Unbehagen auslöst.

Psychoanalytiker, die sich von der Bindungstheorie und Bindungstheoretiker, die sich von der Psychoanalyse abgrenzen, befinden sich nach diesem großen Werk der Integration in aussichtsloser Defensive. Die Integration umfaßt nicht nur die Bindungstheorie und die Psychoanalyse, sondern bezieht auch philosophische Traditionen, Entwicklungs-, Kognitions- und Emotionspsychologie sowie die modernen verhaltensgenetischen und neuropsychologischen Erkenntnisse ein.

Kein Wunder, daß Martin Dornes, einer der sachkundigsten deutschen Entwicklungspsychologen, in emphatische Begeisterung gerät:
"In einer seltenen Verbindung von theoretischer Phantasie und empirischer Forschung gelingt es den Autoren, die Erkenntnisse der großen Figuren der psychoanalytischen Entwicklungspsychologie in einer zeitgemäßen Form zu reformulieren, Altes in neuem Licht erscheinen zu lassen und Neues auf faszinierende Weise dem Leser nahezubringen. Die Breite des Horizonts ist atemberaubend, die Darstellung der vielfältigen Forschungsbefunde aufregend, die Integration in einen theoretischen Rahmen großartig. Ich prognostiziere, daß dieses Buch ein moderner Klassiker werden wird."

Kurt Eberhard  (März, 2005)

 

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