FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Rezension / Jahrgang 2004

 



Jürgen Blandow

Pflegekinder und ihre Familien

Geschichte, Situation und Perspektiven des Pflegekinderwesens

Juventa-Verlag, 2004
(227 Seiten, 16,50 Euro)


Prof. Dr. Blandow ist Sozialwissenschaftler, Hochschullehrer für Sozialpädagogik an der Universität Bremen und der prominenteste deutsche Forscher auf dem Gebiet des Pflegekinderwesens.

In der Einführung findet der Leser das Anliegen des Autors:
     "Jede Auseinandersetzung mit dem Phänomen "Pflegekinderwesen" muss ihren Ausgangspunkt in der kulturellen und gesellschaftlichen Ausnahmesituation von Pflegeverhältnissen nehmen. Sie muss die einem Pflegeverhältnis innewohnenden Widersprüche ernst nehmen und akzeptieren, dass einfache Lösungen nicht zu haben sind. Sie muss sich mit der Dynamik befassen, die das Zusammentreffen der beiden so ungleichen Familien und ihrer beider Unterstellung unter staatliche Aufsicht auslöst. Sie muss sich den besonderen Zumutungen widmen, die das Konstrukt 'Pflegeverhältnis' den Beteiligten aufnötigt. Zu untersuchen ist schließlich, in welchen gesellschaftlichen Kontext Pflegeverhältnisse eingebettet sind, was von ihnen erwartet wird und was getan wird, um sie zu stützen und den Beteiligten das Leben zu erleichtern.
     Dies ist denn auch, jenseits des von den Herausgebern der Reihe vorgegebenen Anliegens, über das Grundwissen zu einem Bereich erzieherischer Hilfen zu informieren, das Anliegen dieses Buches. Vorweg zu sagen ist aber: Es handelt sich nicht um ein 'pädagogisches' Buch. Es gibt keine pädagogischen Tipps, und es beschäftigt sich nicht mit den Feinheiten psychologischer Verwicklungen, was nicht heißt, dass eine Beschäftigung mit ihnen nicht notwendig wäre (ein kleiner Einblick wird im Übrigen gelegentlich gegeben), sondern nur, dass es für dieses Buch einen anderen Schwerpunkt gibt. Im Mittelpunkt stehen Gegebenheiten und Probleme des Pflegekinderwesens, jenes Bereichs gesellschaftlicher und jugendhilfepolitischer Praxis, mit dem den pädagogischen und psychologischen Problemen von Pflegeverhältnissen der Rahmen gegeben wird, innerhalb dessen sie sich zu allererst konstituieren und in dem über denkbare Lösungen nachgedacht werden kann. Eine solche Perspektive verlangt nach einem 'kühlen Blick', soweit es um die Beschreibung und Analyse des Rahmens und die sich in ihm entfaltenden Gegebenheiten geht, dann aber auch nach Stellungnahme, wo sich der Rahmen als unfähig erweist, die Probleme, zu deren Lösung er entworfen wurde, in einer zumindest befriedigenden Weise zu bearbeiten."

Wir zeigen das vollständige Inhaltsverzeichnis, weil es den Gang der Untersuchung sehr übersichtlich darstellt:

1.   Einführung in die Thematik

Teil I: Die Geschichte des Pflegekinderwesens

2.   Von der ältesten bis zur neueren Geschichte
2.1 Das Pflegekinderwesen unter kirchlicher Kuratel:
     Waisen- und Findelversorgung im Altertum und im Mittelalter
2.2 Das Pflegekinderwesen im ökonomischen Kalkül:
     Vom Beginn der Neuzeit bis ins 18. Jahrhundert
2.3 Das Pflegekinderwesen unter armenpolizeilicher Kontrolle:
     Vom "Waisenhausstreit" bis zum Beginn des "Jahrhunderts des Kindes"
2.4 Das Pflegekinderwesen unter fürsorglicher Obhut:
     Vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Nationalsozialismus
2.5 Das Pflegekinderwesen im Dienste der "Rassenhygiene":
     Die Zeit des Nationalsozialismus

3.   Die Phasen der Geschichte seit 1945
3.1 Mängelverwaltung: Die erste Phase (1945 bis ca. 1950)
3.2 Aus der "schlechten" in die "gute" Familie: Die zweite Phase (ca. 1950 bis 1965)
3.3 "Holt die Kinder aus den Heimen": Die dritte Phase (ca. 1965 bis 1980)
3.4 Die Entdeckung der "Herkunftsfamilie": Die vierte Phase (1980er Jahre)
3.5 "Etwas neben Anderem": Die fünfte Phase (1990er Jahre)
3.6 Ausblick

Teil II: Die gegenwärtige Verfasstheit des Pflegekinderwesens

4.   Die institutionellen Rahmenbedingungen
4.1 Das Pflegekinderwesen als Subsystem der Kinder- und Jugendhilfe
4.2 Das Recht des Pflegekinderwesens
4.2.1 Allgemeine rechtliche Einordnung
4.2.2 Regelungen im SGB VIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz)
4.2.3 Regelungen im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB)
4.2.4 Spezielle Rechtsfragen
4.3 Die Organisation des Pflegekinderwesens
4.3.1 Organisationsformen und Ausstattungsfragen in den Jugendämtern
4.3.2 Freie Träger im Pflegekinderwesen

5.   Die Familienpflege als sozialpädagogische Institution:
     Allgemeine Evaluationsergebnisse
5.1 Die Pflegekinder und ihre beiden Familien
5.1.1 Die Kinder und ihre Geburtsfamilien
5.1.2 Die Pflegefamilien
5.1.3 Kontakte zwischen den beiden Familien
5.2 Die Beendigung von Pflegeverhältnissen: Daten, Formen und Hintergründe
5.2.1 Alter bei Beendigung und Pflegedauer
5.2.2 Daten zur Beendigung von Pflegeverhältnissen
5.2.3 Beendigungen im Kontext jugendamtlichen Handelns

6.   Die "besonderen" Pflegeformen
6.1 Differenzierungskriterien und ihre Problematik
6.2 Pflegeformen für "besonders entwicklungsbeeinträchtigte Kinder und Jugendliche"
6.3  Auf befristete Dauer angelegte Pflegeformen
6.3.1 Kurz- und Interimspflegestellen
6.3.2 Die Bereitschaftspflege
6.4 Milieunahe- und Teilzeit-Pflegeformen
6.4.1 Die Großeltern- und Verwandtenpflege
6.4.2 "Soziale Netzwerkpflege"
6.4.3 Teilzeit-Pflegeformen

7.   Ein Resümee
7.1 Strukturelle und konzeptionelle Probleme des Pflegekinderwesens
7.2 Reformideen für das Pflegekinderwesen
7.2.1 Die Gesamtrationalität erhöhen
7.2.2 Die Organisationsmittel optimieren

Literatur
 

Komplizierte Phänomene kann man nur aus ihrer Geschichte verstehen. Das Pflegekinderwesen gilt als der komplizierteste Bereich der Jugendhilfen. Deshalb ist es konsequent, daß Blandow etwa ein Drittel seines Buches der historischen Analyse widmet.
Die letzte Phase der Entwicklungsgeschichte des Pflegekinderwesens rekonstruiert er wie folgt:
     "Egal ob Ersatz- oder Ergänzungsfamilienkonzept: Zu neuen Optionen geworden waren die Verfachlichung und Professionalisierung des Pflegekinderwesens, eine Neubestimmung des Verhältnisses von Pflegekinderdiensten und Pflegeeltern und ein bewusster Umgang mit den Biographien der Kinder.
     Die Entwicklung dorthin setzte freilich zu einem Zeitpunkt ein, an dem sich neben die Heimerziehung und das Pflegekinderwesen eine dritte Säule für erzieherischen Hilfen schob, das System der familienorientierten ambulanten und teilstationären Hilfen. .... Obwohl das neue Gesetz [KJHG] nach heftigen Debatten im Vorfeld die Theoriekontroverse im Pflegekinderwesen in ein 'sowohl-als-auch' aufgelöst hatte und damit auch in der Fachdiskussion eine gewisse Beruhigung eingetreten war (vgl. Hamburger Pflegekinderkongress 1990) geriet das Pflegekinderwesen über die neue Diskussion in unerwartete, sie in eine fünfte Phase ihrer Nachkriegsentwicklung führende, Bedrängnis.
Je weiter sich die neuen Formen erzieherischer Hilfen durchsetzten, ..... desto mehr geriet das Pflegekinderwesen in eine heikle Situation zwischen reformierter Heimerziehung und familienorientierten Hilfen. Gerahmt von einer reformierten Heimerziehung  mit Außenwohngruppen, teilstationären Gruppen, Verbundsystemen, Lebensgemeinschaften und Erziehungsstellen auf der einen Seite, von den neuen familienorientierten Hilfen auf der anderen Seite, verlor es seinen Status als entscheidende Reforminstitution. Auch das, was die Legitimation der Familienpflege über die Jahrhunderte hinweg ausmachte, nämlich der gegenüber der Heimerziehung 'natürlichere' Aufwuchsplatz zu sein, büßte an Überzeugungskraft ein. Auch die Unterbringung in einer Pflegefamilie ist schließlich noch 'Fremdplatzierung', die Pflegefamilie ist eine 'fremde', eine 'künstliche' Familie, der die Selbstverständlichkeit der jetzt als 'natürlich' interpretierten Geburtsfamilie fehlt. Sie ist (in der Regel) nicht 'milieunah' und nicht 'sozialräumlich' orientiert; sie ist nicht präventiv, eher exklusiv als inklusiv. Sie entspricht darum immer weniger den Prinzipien, denen sich die moderne Jugendhilfe verschrieben hat.
     Eine zweite Konsequenz der neuen Optionen ist, dass Pflegeeltern zunehmend häufig mit Kindern rechnen müssen, die unmittelbar aus der Geburtsfamilie   oft nach einer vorangegangenen familienorientierten Hilfe und nachdem diese gescheitert ist   in ihre Familie kommen. Pflegeeltern werden deshalb viel unmittelbarer mit deren Situation und Schicksal der Geburtsfamilien konfrontiert; sie geraten, ob gewollt oder nicht, zunehmend mehr in die Rolle der 'Ergänzungsfamilie' und sie müssen immer häufiger quasi-therapeutische Funktionen übernehmen. Selbst da, wo es das Pflegekinderwesen noch mit jüngeren Kindern zu tun hat, begegnet es einem anderen Klientel als früher, vorgeburtlich geschädigten Säuglingen, vernachlässigten Kleinkindern, Kindern aus psychisch verelendeten und suchtabhängigen Familien.
     Je anspruchsvoller die Aufgaben werden, die Pflegeeltern zu erfüllen haben, desto mehr verschwinden die klassischen Bewerber von der Bildfläche. Den 'Anhang' mitbetreuen zu sollen und um kranke, behinderte und verelendete Kinder ein Netz von gesundheitlichen und therapeutischen Hilfen organisieren zu sollen, ohne dass jemand garantieren könnte, ob sich die Bemühungen auszahlen, man die Früchte noch durch einen dauerhaften Verbleib des Kindes in der Familie ernten kann, ist für Familien, die 'aus Liebe zum Kind' ein Pflegekind möchten, eher abschreckend. Moderne Pflegeelternschaft setzt zunehmend eine bewusste pädagogisch-therapeutische Haltung voraus und provoziert damit den Ruf der Pflegepersonen nach besserer Vorbereitung bis hin zu formellen Ausbildungen, nach fachlicher Begleitung und Supervision, nach ihrer Einbeziehung in Hilfekonferenzen und nach Unterstützung bei der Reintegration der Kinder in ihr Herkunftsmilieu. Man kann sagen: Was in der vierten Phase der Entwicklung noch mehr oder weniger von außen herangetragen wurde, geht jetzt z.T. von den Pflegepersonen selbst aus (vgl. Huber 2001).
In der fünften Phase ihrer Nachkriegsentwicklung wandelt sich die Pflegefamilie, zunächst in ihren avantgardistischen Teilen, zur 'therapeutischen Familie'. ....
     Zum Ergebnis der 1990er Jahre gehört also, dass sich das Institut 'Vollzeitpflege' allmählich, hierbei von 'konkurrierenden' Institutionen gerahmt, zu einer Spezialinstitution für die Betreuung und bewusste Erziehung, ggf. auch Krisenintervention, 'Diagnostik' und 'Therapie' von 'Kindern in Not' transformiert. Mit den neuen Entwicklungen im Pflegekinderwesen werden allerdings auch neue Probleme kommen. Die schon ältere Frage, ob und wie ein professionelles Verständnis mit der Privatheit familiärer Erziehung zu vereinen ist, hat in Bereitschaftspflegestellen und Erziehungsstellen bereits jetzt eine enorme Brisanz. Für Personen, die bereit sind, den ständigen Wechsel von Kindern in ihrer eigenen Familie in Kauf zu nehmen oder die sich vertraglich verpflichten, Kinder in einer befristeten Zeit wieder 'fit' für das Leben in der Herkunftsfamilie zu machen, wird es zumindest notwendig werden, neue Unterstützungsmodelle zwischen Supervision und 'familien- entlastenden Diensten' für Pflegepersonen zu entwickeln, um einem vorschnellen 'burning out' der ohnehin knapper werdenden Ressource Engagement entgegenzuwirken. Fraglich wird in diesem Zuge, ob die   konzeptionell ohnehin allmählich 'verschwindenden'  Jugendämter mit ihren Organisations- und Personalmitteln noch in der Lage sein werden, den Ansprüchen 'moderner' Pflegepersonen und den mit den neuen Aufgaben verbundenen 'Management'aufgaben gerecht zu werden. Schon jetzt ist abzusehen, dass Freie Träger der Jugendhilfe bereit stehen, in sich auftuende Lücken zu springen." (S. 65-68)

Als wichtigste Anlässe der Inpflegegabe referiert Blandow folgende:
"Den wichtigsten Hintergrund bildet - die Ergebnisse der verschiedenen Untersuchungen grob zusammengefasst - in aller Regel eine schwierige, konflikthafte oder problematische Familiensituation. Am häufigsten benannt werden  in dieser Reihenfolge - zum Konstrukt 'Problemfamilie' verdichtete Mehrfachprobleme, psychische Krankheit der erziehenden Person, Alkohol- und Drogenprobleme, konflikthafte Trennungssituationen, überforderte junge Mütter, seltener der Tod der Eltern und die Inhaftierung der Hauptbezugsperson des Kindes. Ausschließlich wirtschaftliche oder gesundheitliche Probleme der Eltern spielen in der Gegenwart kaum noch eine Rolle, sind aber häufige Begleiterscheinungen. Es sind allerdings weniger diese familiären Hintergründe an sich, vielmehr die sich aus der familiären Lage ergebenden Betreuungsmängel und/oder Auffälligkeiten eines Kindes oder Jugendlichen, die den eigentlichen Anlass für die Inpflegegabe bilden. Neben unspezifischen Nennungen wie Überforderung der Eltern mit der Erziehung und Erziehungsschwierigkeiten am häufigsten genannt werden - in dieser Reihenfolge -   Vernachlässigung und unzureichende Versorgung des Kindes, das 'Hin-und-Herreichen' des Kindes, seine Überforderung durch eine unangemessene Inanspruchnahme des Kindes für Versorgungsleistungen gegenüber erwachsenen Familienmitgliedern, eine aktive Ablehnung des Kindes durch die Bezugsperson, Kindesmisshandlung und sexueller Missbrauch. Hiermit wiederum verquickt sind Verhaltensauffälligkeiten mannigfacher Art, Entwicklungsbeeinträchtigungen und bei älteren Kindern und Jugendlichen Formen dissozialen Verhaltens. In der Regel ist es die Kumulation diverser Problembereiche, die den Hintergrund der Inpflegegabe ausmacht."    (S. 125/126)

Das heikelste Thema zwischen Pflege- und Herkunftsfamilie ist die Gestaltung der Besuchskontakte:
"Besuchskontakte scheinen durchschnittlich für alle Beteiligten eine mehr oder weniger große Belastung zu sein. Für die Pflegeeltern bedeuten sie, dass Routinen durchbrochen werden; Vorbehalte gegenüber den Geburtseltern werden  soweit vorhanden   mobilisiert, und es wird nicht nur befürchtet, sondern häufig auch beobachtet, dass die Kinder leiden. Nach Untersuchungen von Kötter (1997) fühlen sich Pflegeeltern mit laufenden Besuchskontakten jedenfalls belasteter als solche ohne oder mit inzwischen aufgegebenem Kontakt, insbesondere, wenn die Pflegeeltern ein ersatzfamiliäres Konzept verfolgen. Dem entsprechen Ergebnisse von Kummer u.a. (1988) und Kienast (1994), denen zufolge Besuchskontakte umso negativer erlebt werden, je negativer bereits die Kontakterwartung bei den Pflegepersonen ist.
     Uneinheitlich sind die Ergebnisse zu den Auswirkungen und Reaktionen der Kinder auf Besuche. Besonders eindringlich warnen Nienstedt und Westermann (1998: 203 ff.) vor den Gefahren einer dauerhaften Verunsicherung der Kinder durch fortwährende Besuchskontakte und vor den alte Traumata wieder belebenden Konsequenzen in Fällen, in denen das Kind bereits vor der Inpflegegabe eine Angstbindung an seine Bezugspersonen entwickelt hatte. Ohne Zweifel ist diese Warnung berechtigt und nicht nur durch viele therapeutische Erfahrungen gestützt, sondern auch durch Berichte von Pflegekindern selbst und von Pflegeeltern. Andererseits lässt sich mitteilen, dass gut 30% der niedersächsischen Pflegeeltern die Besuche der Herkunftsfamilie als nicht belastend für das Kind und ein weiteres Fünftel als 'eher nicht' belastend charakterisierten und von sehr starken oder starken Belastungen lediglich 20% der Pflegepersonen sprachen." (S. 135)

Das Pflegekinderwesen hat sich immer mehr aufdifferenziert, allerdings in den verschiedenen Bundesländern und sogar innerhalb der Bundesländer ganz unterschiedlich. Sogar die Bezeichnungen differieren. Der Begriff 'Erziehungsstelle' wird in Hessen anders gebraucht als in Berlin, und der Begriff 'Sonderpflege' wird z.T. eng - nur für Pflegestellen mit behinderten Kindern - und z.T. weit  z.B. so wie andernorts 'heilpädagogische Pflege' verwendet. In seinem 6. Kapitel schafft Blandow terminologische Klärung und beschreibt die mannigfaltigen Pflegeformen, auch die neuesten Entwicklungen.

Im letzten, resümierenden Kapitel stellt der Autor seine Reform-Ideen zur Diskussion:
"Als besonders problematisch hat sich das Fehlen von Verbindlichkeiten in drei Bereichen erwiesen: Bei der Feststellung, in welchen Fällen es um die Restabilisierung der Herkunftsfamilie und also um eine befristete Inpflegegabe mit Rückkehroption gehen soll und bei der Absicherung von Pflegeverhältnissen, die faktisch die dauerhafte Verantwortung für das Kind, zunehmend häufiger bewusst für ein traumatisiertes und nach allgemeinem fachlichen Ermessen nicht rückführbares Kind, übernehmen. Beim dritten Komplex handelt es sich um Differenzierungskriterien für verschiedene Pflegeformen einschließlich von Fragen ,milieunaher' Unterbringungen.
     Voraussetzung für Ersteres ist, dass es auf breiter Basis zur Etablierung der besonderen Pflegeform 'befristete Vollzeitpflege mit Rückkehroption' oder  wie im Englischen genannt und vom Deutschen Verein (2004) als Terminus übernommen   der 'Interimspflege', kommt und diese institutionell abgesichert wird. Notwendig hierfür erscheint ein Assessment- Prozess, eine vorgängige Familienanamnese, über die sich die geplante Rückführung begründen und als verbindliches Ziel benennen lässt. Abzusichern ist auch, dass sie Wirksamkeit durch die Bereitstellung von Organisations- und Finanzmittel für die Arbeit mit der Herkunftsfamilie entfalten kann. Schließlich gehört auch die gezielte Suche nach Pflegepersonen dazu, deren Selbstverständnis bewusst auf die Unterstützung einer Rückführung gerichtet ist.
     Fatal wäre es allerdings, die Rückführung zu einem neuen jugendhilfepolitischen Credo zu machen. Es hilft wenig, die 'Problemfamilie' einfach verbal zu ,nur' in ihre eigenen Biographien verstrickte, ,nur' arme, unwissende, isolierte, verelendete, vom Hilfesystem vernachlässigte und diskriminierte, ansonsten aber nach einer ihrer Erfahrung entsprechenden Lösung suchende Familie zu charakterisieren und die Suche nach ihren Stärken zu empfehlen. Auch wenn Vertreter dieser Position Recht damit haben, dass über eine der Situation der 'Problemfamilie' angemessene familientherapeutische Intervention, unterstützt durch materielle Hilfen, (Wieder-)Aufbau zerstörter sozialer Netze und einem Training in Empathie und Perspektivenverschränkung (vgl. Faltermeier u.a. 2003: 169 ff), ein Teil der Familien soweit ,empowert' werden könnte, dass sie in einem hinreichenden Maße Erziehungsfunktionen wieder übernehmen könnten, nützt die Einsicht wenig, solange weder genügend Familientherapeuten für die 'schmutzige' Aufgabe der Arbeit mit Problemfamilien zur Verfügung stehen, noch genügend Mittel, um die Arbeit zu leisten. Eine Rückführoption ist nicht nur mit der Frage zu verbinden, ob sie grundsätzlich realisierbar wäre, sondern auch damit, ob hierfür konkrete Chancen bestehen. Augenmaß für das konkret Machbare ist anzuempfehlen.
     Nicht minder schwer ist im deutschen Rechtssystem die rechtliche, soziale und psychologische Absicherung von Pflegeverhältnissen, die de facto die volle und dauerhafte Verantwortung für das Kind übernommen haben, weil dessen Rückführung mit guten Gründen aber ausgeschlossen wird. Für sie, Kinder die aus desolaten Familienverhältnissen kommen, die durch die Erlebnisse in ihrer Geburtsfamilie verstört, traumatisiert und geschädigt sind, und für Pflegefamilien, die um den Erfolg ihrer geduldigen Bemühungen um das Kind bangen, wenn es weiterhin dem Einfluss der Angehörigen ausgesetzt bleibt, hat das Pflegekinderwesen, außer dem oft langwierigen und in seinem Ausgang ungewissen Rechtsstreit mit zusätzlichen Belastungen für alle Beteiligten, keine Lösung parat. Sie wird auch durch den konzeptionellen Streit um die 'Ersatz-' oder die 'Ergänzungsfamilie' nicht herbeigeführt. Niemandem nützt die Einsicht, so gut sie auch begründet sein mag, dass das traumatisierte Kind die Chance des Neuanfangs braucht, solange ihre Betreuung in das Rechtskonstrukt Vollzeitpflege, nach dem Elternrechte eben nur teilweise und zeitweise begrenzt werden dürfen, eingebunden ist, die Haltung zum konzeptionellen Streit eine Frage der individuellen- oder der Amtspraxis ist und das soziale Konstrukt Pflegeverhältnis es in das Ermessen von Pflegeeltern stellt, wie lange sie die Sorge für das Kind zu tragen bereit sind. Die leiblichen Eltern lassen sich in Pflegeverhältnissen zwar in Schach halten, aber nicht entsorgen. Die Konfrontation zwischen den beiden Parteien ist unausweichlich und niemand kann garantieren, dass das Kind dann doch irgendwann in seine Geburtsfamilie zurückkehren soll oder will." (S. 204-206)

Trotz dieser schwierigen Rahmenbedingungen gibt es in allen Bundesländern Pflegefamilien, die sich als therapeutische Familien mit dauerhaften Bindungsangeboten bewähren, die von ihren Pflegekinderdiensten und anderen Beratern, in einigen Fällen sogar von den Herkunftseltern zuverlässige Unterstützung erfahren oder denen gem. § 1684(4) BGB keine Kontakte zur Herkunftsfamilie zugemutet werden, wenn diese sich destruktiv auswirken. Aus dieser realen Praxis lassen sich jederzeit realistische Reformperspektiven entwickeln, die den Ansprüchen der psychoanalytischen Ich-Psychologie ebenso gerecht werden wie den Forderungen der Bindungstheorie als auch den Erkenntnissen der neuropsychologischen Traumaforschung.

Bilanzierende Bewertung:
Jürgen Blandow hat sich wieder einmal als souveräner Diagnostiker des Pflegekinderwesens erwiesen. Psychologische Theorien kennt er zwar, nutzt sie aber kaum. Genau das verleiht ihm jedoch den für seine sozialwissenschaftliche Analyse notwendigen Abstand, von dem aus er die oft mehr ideologischen als wissenschaftlichen Kontroversen auf dem sozialpädagogischen Campus beleuchten kann. Besonders seine differenzierte Betrachtung des aufgeregten Streits zwischen den Anhängern des Ersatzfamilienmodells und denen des Ergänzungsfamilienmodells wird hoffentlich die Gemüter nachhaltig beruhigen. Dazu werden auch seine sehr verdienstvollen historischen Darlegungen beitragen, weil vieles, was heute in neuen terminologischen Verkleidungen auftritt, Reprise uralter Aufführungen ist. Blandows Buch, auf das wir schon lange gewartet hatten, ist unumgängliche Pflichtlektüre für alle, die sich an der Diskussion über die Probleme und Perspektiven unseres Pflegekinderwesens beteiligen wollen.

Gudrun und Kurt Eberhard (Dez. 2004)

 

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