FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Nachrichten / Jahrgang 2008

 

19. Tag des Kindeswohls

 

Die Stiftung zum Wohl des Pflegekindes veranstaltet jährlich den „Tag des Kindeswohls“, die bundesweit größte Fachtagung, auf der aktuelle Themen der Jugendhilfe mit speziellem Bezug zu Pflegekindern aufgegriffen werden. In den Jahren 2005, 06, 07 nahmen jeweils bis zu 350 Fachkräfte aus Jugendämtern und Verbänden, sowie Psychologen und Juristen und auch Pflegeeltern an den Tagungen teil.

Der 19. Tag des Kindeswohls am 31. Mai 2008 in der Fachhochschule Potsdam steht unter der Überschrift „Elternschaft im Pflegekinderwesen. Soziale Beheimatung für Kinder aus defizitären Lebensverhältnissen“.

Erschütternde Berichte über verwahrloste oder von ihren Eltern schwerst misshandelte Kinder sind in Deutschland jede Woche in den Medien zu lesen, zu hören und zu sehen. Oft waren die Familienverhältnisse den Jugendämtern bekannt. Es wird jedesmal die Frage gestellt, ob das Jugendamt versagt hat oder sich solche „Fälle“ nicht verhindern lassen.

Fakt ist, dass neben eingeschränkten finanziellen Mitteln oft nicht ausreichende fachliche Kenntnisse der Grund für die nicht adäquaten Hilfeangebote oder das zu späte Eingreifen von Seiten der Jugendbehörden ist. Ein weiterer Grund – und dieser ist sowohl im Jugendamtshandeln als auch in Gerichtsentscheidungen zu finden – ist, dass dem Elternrecht Vorrang vor den Rechten der Kinder eingeräumt wird und die Situation des Kindes deshalb nicht im Blickfeld ist. Und dass, obwohl die höchstrichterliche Rechtsprechung sagt, das Kindesrecht vor Elternrecht gilt, wenn das Kindeswohl nur so gewahrt werden kann. Auch diese rechtliche Entwicklung geht weithin auf mangelnde Kenntnisse über elementare Bedürfnisse von Kindern und die Folgen defizitärer Eltern-Kind-Beziehungen zurück.

Seit ihrem Bestehen bemüht sich daher die Stiftung, solche Aus- und Fortbildungsmängel auszugleichen durch Seminare, Forschungsförderung und eben durch jährliche Tagungen, bei denen anerkannte und praxiserfahrene WissenschaftlerInnen über grundlegende kinderpsychologische Forschung berichten.

Die Jahrestagung befasst sich dieses Mal mit den Fragen, wie Kinder, die in defizitären Lebenskontexten aufwachsen, sich und ihre personale Umwelt erleben, welche Konsequenzen es für ihre Entwicklung hat und welche fachlichen Überlegungen und Handlungsschritte daraus für die Jugendhilfe, insbesondere für die Unterbringung von Kindern in Pflegefamilien folgen müssen. Grundlage für die fachlichen Überlegungen sind die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Bindungsforschung (die auch in die einschlägigen Gesetze eingeflossen sind) und die Erkenntnisse von Traumaforschung und Entwicklungspsychologie.

Die international  renommierte Bindungsforscherin Karin Grossmann aus Regensburg stellt als Ergebnis ihrer jahrzehntelangen Forschungen fest (und ist damit in Übereinstimmung mit Bindungsforschern in aller Welt), dass stabile positive Bindungen überlebenswichtig für das Kind sind. Das junge Kind bindet sich „vorprogrammiert“ an die bemutternde Person, unabhängig von der Qualität ihrer Fürsorge und auch unabhängig von ihrem Verwandtschaftsgrad, d. h. davon, ob es die leiblichen Eltern sind oder eine andere Betreuungsperson, z. B. Pflegeeltern.

Die Qualität der Bindung eines Kleinkindes an die individuelle bemutternde Person hängt primär von der Qualität ihrer Beziehung ab. Ist die Person liebevoll, fürsorglich, einfühlsam oder aber unpersönlich kalt, vernachlässigend, aggressiv, so hat dieses weitreichende Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl und die Entwicklung des Kindes bis in die späteren Beziehungen zu PartnerInnen und eigenen Kindern.

Die normale Bindungsentwicklung ist die wichtigste Voraussetzung für die Erfahrungen, die ein Kind in bestimmten Altersstufen machen sollte. Je länger ein Kind in unangemessenen vernachlässigenden, misshandelnden Bindungsbeziehungen lebt, um so größer ist „die Lücke in seinem Erlernen der Liebe“.

Langzeituntersuchungen zur Bindungsentwicklung von Pflegekindern zeigen, dass sich die meisten Pflegekinder nach einiger Zeit zur Pflegefamilie zugehörig fühlen, dass sie oft neue Bindungen aufbauen können. Wichtig für Pflege- und Adoptivkinder ist es, dass die annehmenden Eltern offen und einfühlsam mit ihnen und ihrer Lebensgeschichte umgehen. Die Stabilität der sozialen Beziehungen ist maßgeblich für die Gesundung des Kindes vom in der Herkunftsfamilie Erlittenen, so das Fazit von Dr. Grossmann.

Ist ein Kind in seinem Elternhaus defizitären Lebensverhältnissen ausgesetzt, so hat die Jugendhilfe den gesetzlichen Auftrag, adäquate, unterstützende Einzelfallhilfe anzubieten, zugeschnitten auf die Situation der Familie und das Alter der betroffenen Kinder.

Ein Säugling und Kleinkind ist in allen Lebensbelangen existentiell auf die Verfügbarkeit von bindungsfähigen Eltern angewiesen. Ältere Kinder haben in Teilbereichen die Möglichkeit, neben den Eltern auf andere Personen zurückzugreifen, die elterliche Defizite ausgleichen können. Entsprechend muss das Jugendamt seine Hilfeangebote auswählen.

Dr. Christiane Ludwig-Körner, Professorin für das Fach Methoden der Sozialarbeit, Beratung, Psychoanalyse und Gruppenverfahren an der Fachhochschule Potsdam, befasst sich in ihrem Vortrag mit dem Erleben von Säuglingen und Kleinkindern in defizitären Lebensverhältnissen und zieht Konsequenzen für notwendiges jugendamtliches Handeln.

Sie bemängelt, dass, obwohl seit über 60 Jahren aus Forschungen bekannt ist, wie die Bedingungen sein müssen, damit Kinder gesund aufwachsen können und dieses auch in den Menschenrechtserklärungen berücksichtigt wird, die Praxis leider zum Teil immer noch nicht entsprechend handelt. Elternrecht steht vielfältig noch immer vor Kindesrecht und selten wird die Perspektive kleiner Kinder eingenommen. Sie zitiert Stork (1995), der die These aufstellte, dass mehr oder weniger kollektiv die schmerzhaften Erfahrungen völliger Abhängigkeit, des Ausgeliefertseins, der Hilflosigkeit, die wir in der frühen Kindheit durchleben müssen, so stark verleugnet werden, dass lange wenig dazu geforscht wurde bzw. vorhandene Forschungsergebnisse nicht akzeptiert und in die Praxis transferiert wurden. Hier sieht sie eine Erklärung für das „Wegschauen“, wenn es um das Elend vernachlässigter und misshandelter Kinder geht.

Christiane Ludwig-Körner antwortet auf die Frage, was defizitäre Lebensverhältnisse von Säuglingen und Kleinkindern sind. „Von entscheidender Bedeutung sind nicht in erster Linie die so oft zitierte materielle Armut, sondern emotionale Kargheit, ein Leben mit Bezugspersonen, die die primären kindlichen Bedürfnisse nach Versorgt- und Gehaltenwerden, Verlässlichkeit, positiver affektiver Zuwendung nicht erfüllen können; die nicht in der Lage sind, feinfühlig angemessen auf die kindlichen Bedürfnisse zu reagieren.“

Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass solche Eltern gehäuft aus Familien stammen, in denen dieser Mangel einer emotional positiven Unterstützung und fehlender Feinfühligkeit über Generationen hinweg weitergegeben werden. Die einschlägige Wissenschaft spricht von einer „generationalen Transmission“. Aus der Forschung zur Gehirnentwicklung zu neuronalen Verknüpfungen, also dem Entstehen der innerpsychischen Welt, weiß man, dass auch Genetisches Umwelteinflüssen unterliegt. So wird neuerdings von einer „psychologischen DNA“ gesprochen.

Können Eltern ihren Säuglingen und Kleinkindern keine sicheren Bindungen anbieten, die Kinder für den Aufbau ihrer inneren Welt, den Erwerb einer Mentalisierungsfähigkeit benötigen, müssen so schnell als möglich Bedingungen seitens der Jugendhilfe zur Verfügung gestellt werden, damit die Kinder frühzeitig die Chance haben, psychisch gesund aufwachsen zu können, so die Forderung von Christiane Ludwig-Körner, d. h., es müssen, wenn unterstützende Hilfen nicht ausreichen, neue Bindungspersonen, also Pflege- oder Adoptiveltern für diese Kinder gesucht werden.

„Die in letzter Zeit überbeanspruchte „Ressourcenorientierung“ auf die elterlichen Fähigkeiten in der Sozialen Arbeit“ – so Frau Ludwig-Körner – „verhindert oft eine schnelle und deutliche Benennung vorhandener elterlicher Defizite.“ Sie mahnt längst überfällige Studien zu Wirksamkeit und Grenzen sozialpädagogischer Familienhilfe und zur Differenzierung ihres Einsatzes an.

Ein weiteres Hemmnis der Jugendhilfe, aktiv zu werden, sieht sie darin, dass es sich bei der Einschätzung möglicher Kindesgefährdungen um schwere Entscheidungen handelt, die als „aggressive Akte“ empfunden werden und gerade Personen in helfenden Berufen oft nicht leicht fallen.

Aber auch mangelnde fachliche Kenntnisse verhindern ein rechtzeitiges und angemessenes Eingreifen. Um entscheiden zu können, bei welchen Eltern keine hinreichenden mütterlichen/väterlichen Fähigkeiten vorliegen, müssen die MitarbeiterInnen über fundierte Kenntnisse einer Einschätzung der Eltern-Kind-Interaktionen verfügen; auch brauchen sie diagnostisches Wissen bzgl. einer möglichen Veränderbarkeit von Persönlichkeitsstrukturen der Eltern, denn es ist Fakt, dass es einen gewissen, wenn auch geringen Prozentsatz von Eltern gibt, die trotz umfassender Hilfen  nicht in der Lage sind, angemessen für ihre Kinder zu sorgen; außerdem müssen sie über Entscheidungskriterien verfügen, wann sie – sollte eine Kindesherausnahme erforderlich sein –  im Kindesinteresse dem Konzept einer „Ergänzungsfamilie“ oder dem einer „Ersatzfamilie“ folgen.

Da diese speziellen Fachkenntnisse in der Regel selbst bei gut ausgebildeten MitarbeiterInnen der Jugendämter nicht erwartet werden können, müssen sie  über ein hinreichend gutes Verweisungswissen verfügen und auf Fachzentren zurückgreifen können, in denen dieses Expertenwissen verfügbar ist, um angemessenen Kinderschutz leisten zu können. Leider kann vielerorts – vor allem in ländlichen Bereichen – nicht auf solche Möglichkeiten zurückgegriffen werden.

Die Situation und das Erleben von älteren Kindern  und Jugendlichen, die in defizitären Elternhäusern leben und die für diese notwendigen Maßnahmen der Jugendhilfe beleuchtet Dr. Christine Köckeritz, Professorin für Psychologie mit dem Schwerpunkt Entwicklungspsychologie und Jugendhilfe an der Hochschule Esslingen, in ihrem Vortrag.

Die „Eigenwilligkeit“ von Heranwachsenden zwingt die Jugendhilfe, die mit ihnen kooperieren will und soll immer wieder, ihr Handeln auf den Entwicklungsstand und die Erfahrungswelt der Kinder und Jugendlichen abzustimmen.

Vom Entwicklungsstand her zu denken heißt zum einen, die bereits vorhandenen Möglichkeiten des Verstehens und eigenständigen Handelns der Kinder zu erkennen und sie folglich in ihrer Subjektposition Ernst zu nehmen, aber auch, die Entwicklungsbedürfnisse der jeweiligen Lebensphase zu erkennen, die dem Kind und Jugendlichen selber nicht bewusst sind.

Ein Phänomen, das häufig bei Kindern und Jugendlichen aus defizitären Familien zu beobachten ist, ist die Parentifikation; d. h., wenn die Eltern z. b wegen psychischer Erkrankungen oder Suchtproblemen ihre Rollen nicht ausfüllen können, beginnen die Kinder, Verantwortung für das Familienleben zu übernehmen und erbringen dabei erstaunliche Leistungen zur Aufrechterhaltung des Alltags und zur Wahrung des Scheins gegenüber Außenstehenden. Dies bedeutet aber eine dauerhafte Überlastungssituation für die Kinder. Oft können Kinder und Jugendliche ihre Verstrickung in eine überfordernde Elternbeziehung kaum zur Sprache bringen.

Ein psychoanalytisch fundiertes entwicklungspsychologisches Verständnis, das kindliche und jugendliche Verhaltensauffälligkeiten immer auch als Selbstausdruck und als Beziehungsangebot begreift, kann Verstehens- und Entscheidungshilfe für die notwendigen Interventionen geben.

Die Jugendhilfe muss sich im Umgang mit betroffenen Kindern und Jugendlichen verschiedenen, zeitaufwändigen und fachlich anspruchsvollen Anforderungen stellen.

  • Es müssen unterstützende Beziehungen geschaffen werden; insbesondere brauchen die Kinder und Jugendlichen eine für sie selbst überschaubare und verlässliche Perspektive, falls sie außerhalb der Herkunftsfamilie untergebracht werden.
  • Umgangskontakte sollten mit Blick auf die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen gestaltet werden. Gerade stark belastende Erfahrungen mit den Eltern dürfen nicht bagatellisiert werden. Diesen Kindern und Jugendlichen muss die Möglichkeit gegeben werden, die tiefe Ambivalenz gegenüber den Eltern, die erlittenen Enttäuschung und Verletzungen zur Sprache bringen zu dürfen.
  • Elternarbeit kann Eltern und Kindern helfen: Kinder in der mittleren Kindheit und im frühen Jugendalter brauchen die Gewissheit, dass ihre problembelasteten Eltern von anderer Seite angemessen unterstützt werden. Nur so können sie sich selbst aus der Verantwortung für Mutter und Vater entlassen.

Krisen – wie z.B. das Weglaufen aus einem Beziehungsangebot – sind freilich niemals auszuschließen: Es kommt darauf an, sie angemessen zu deuten und mit Einfühlungsvermögen zu handhaben. Insbesondere von den erwachsenen Akteuren im Hilfeprozess ist zu fordern, dass sie auch schwierigen Kindern stabile Beziehungsangebote eröffnen und diese trotz Krisen aufrechterhalten. Nur so kann die gesunde Entwicklung der durch ihre schlimmen Erfahrungen geprägten und geschädigten Kinder vorangebracht werden.

(Pressemitteilung)

 

 

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