Zum zweiten Mal luden die Fachhochschule Frankfurt/Main und das Jugend- und Sozialamt der Stadt Frankfurt/Main zu einer Kooperationsveranstaltung ein. Und ungefähr 400 Personen nahmen das Angebot an.
Erster Tag: der „Fall Osnabrück“
Frau Troost, 18 Jahre alt, bekommt am 15.10.1993 im Krankenhaus ihr zweites Kind, Lydia. Wenig später berichten Nachbarn dem Jugendamt, sie hätten während des Krankenhausaufenthaltes der Mutter zu Hause in einer Obdachlosensiedlung die völlig verdreckte Wohnung aufgeräumt. Kurz darauf meldet sich ein Onkel, „der Haushalt sei nicht in Ordnung und die Kinder seien vernachlässigt.“ Die Sozialarbeiterin, Frau H., spricht mit Frau Troost. Im Dezember findet ein weiteres Gespräch mit der Mutter statt, im Februar 94 folgen weitere. Am 11.3. kommt Frau Troost ins Jugendamt und man spricht über eine Unterstützung in Form einer SPFH (Sozial-Pädagogische-Familien-Helferin). Am 13.3.1994 bringt Frau Troost ihr Kind ins Krankenhaus, es habe nur noch geschrieenund sei apathisch gewesen. Sie wolle zukünftig Hilfe in Anspruch nehmen. 17.3.1994, Telefonat der Sozialarbeiterin mit dem behandelnden Arzt: Die Versorgung und Betreuung der Kinder sei anscheinend nicht sicher gestellt, Lydia sei stark vernachlässigt – wohl über Tage. Eine SPFH, jeden Tag 2 Stunden, sei unbedingt notwendig. Frau H. verspricht eine SPFH ab April 1994. 12.4.1994, Frau H. ordnet Besuche der SPFH an drei Tagen pro Woche an. 18.4.1994, Frau Troost ist mit der SPFH einverstanden. Bis zum 25.4.1994 finden drei Besuche einer Berufsanfängerin eines freien Trägers (SPFH-Dienste) statt: „Aufbau von Beziehungen“. Danach sagt Frau Troost immer wieder ab, sie öffnet auch nicht die Tür. Am 7.5.1994 ist Lydia tot: Herz-Kreislaufversagen, hochgradige Auszehrung und Austrocknung, ausgedehnte Spuren von Vernachlässigung. Der 64 cm große, fünf Monate alte Säugling wog nur noch 3673 Gramm. Lydias Abmagerung, so ein Gutachten, lasse sich nur bei einer drei- bis vierwöchigen Mangelversorgung mit Essen bei gleichzeitiger Flüssigkeitszufuhr erklären. Die Sozialarbeiterin Frau H. wurde in der 1. Instanz für schuldig befunden: Garantenpflicht des Jugendamtes. In der 2. Instanz folgte ein Freispruch und in der 3. Instanz wurde das Verfahren eingestellt.
In der sich anschließenden Podiumsdiskussion wurde sehr schnell deutlich, dass alle Beteiligten die schrecklichen Geschehnisse nur aus der Sicht der Erwachsenen betrachteten. Hildegard Niestroj, Kindertherapeutin, schilderte in schon beklemmender Weise, wie es wohl dem Kind erging. Welches waren seine Grundbedürfnisse, wie sind die Beteiligten darauf eingegangen? In den zur Verfügung stehenden Unterlagen wurde nicht ein einziges Mal die Handlungsunfähigkeit der Mutter erwähnt. Keiner bot der Mutter andere Hilfen, andere Möglichkeiten der Hilfe an. Nie wurde ein Mutter-Kind-Heim oder eine Bereitschaftspflegestelle erwähnt. Die Idealisierung des Lebensorts „Herkunftsfamilie“ schadete den Kindern in tragischer Weise. (s.a. Artikel “Tod eines Kindes”)
Dr. Stefan Heilmann referierte zum Abschluss des ersten Tages über: Möglichkeiten und Grenzen des staatlichen Wächteramtes.
Hier sind seine Leitsätze:
- Das Kindeswohl ist verfassungsrechtlich besonders geschützt.
- Der Schutz des Kindeswohls ist letztlich vorrangig vor dem Elternrecht und dem Schutz der Familie.
- Das Jugendamt ist Träger des staatlichen Wächteramtes zum Schutz des Kindes.
- Der Staat kann sich seiner Pflicht zur Ausübung des staatlichen Wächteramtes durch Übertragung von Aufgaben auf freie Träger nicht entledigen. Er behält in jedem Fall eine Überwachungs- und Kontrollfunktion.
- Hinreichend qualifiziertes und fortgebildetes Personal ist im erforderlichen Umfang zur Verfügung zu stellen, um eine fachkundige Wahrnehmung des staatlichen Wächteramtes zu gewährleisten.
- Im Rahmen der Ausübung des staatlichen Wächteramtes ist insbesondere der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten: Jede Maßnahme des Jugendamtes muss ein brauchbares Mittel zur Erreichung der von der Verfassung als vorrangig betonten Abwehr der Kindeswohlgefährdung darstellen. Nur wenn verschiedene Maßnahmen zur Abwehr gleich effektiv sind, muss die weniger intensiv in das Elternrecht eingreifende Maßnahme gewählt werden.
- Das Jugendamt muss vor jeder Maßnahme das Ausmaß und die Wahrscheinlichkeit einer möglichen Beeinträchtigung des Kindeswohls beurteilen. Auch müssen die Vor- und Nachteile der zur Verfügung stehenden Maßnahmen gegeneinander abgewogen werden. Umso höher jedoch das Ausmaß der möglichen Beeinträchtigung, desto niedriger kann die Wahrscheinlichkeit für den Eintritt von Nachteilen für das Kind sein. Im Zweifel muss der Staat und damit das Jugendamt immer diejenige Maßnahme wählen, die eine Wahrung des Kindeswohls am effektivsten gewährleistet.
Das Einführungsreferat am zweiten Tagungstag hielt Professor Dr. jur. Peter Bringewat zum Thema: Tod eines Kindes. Soziale Arbeit und strafrechtliche Risiken.
Sehr eindrücklich erläuterte er, dass die Kinder- und Jugendhilfe, wie andere Professionen auch, nicht von strafrechtlicher Verfolgung freigestellt ist. Aus den folgenden Podiumsdiskussionen zum Thema „Kommunale Jugendhilfe und strafrechtliche Garantenhaftung“ und „Steigende fachliche Anforderungen bei knapperen Ressourcen“ seien hier nur einige kurze Statements genannt:
- Man muss sich in die Rolle der Opfer begeben, und dann handeln.
- Kinder dürfen nicht dazu missbraucht werden, ihre Eltern zu stabilisieren.
- Jugendamtsfachkräfte sollten andere Professionen im Hilfeplanverfahren hinzuziehen, um Prognoseentscheidungen abzusichern.
- Jugendamt und Gericht sollten sich einmal jährlich zusammensetzen, um Fälle zu analysieren.
In: KINDESWOHL, H2. 2001
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