FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Nachrichten / Jahrgang 2004

 

 

Peter Widemann,
der in den siebziger Jahren
als leitender Mitarbeiter der Berliner Senatsverwaltung für Familie, Jugend und Sport
das Konzept der Heilpädagogischen Pflegestelle durchsetzte,
ist am 26. April gestorben.

Wir werden sein wertvolles Erbe mit aller Kraft verteidigen!

Christoph Malter, Gudrun und Kurt Eberhard

 

 

Das Porträt: Peter Widemann

Erst beim Verabschieden erzählt er mir, daß er schon einmal geschlossen untergebracht worden war, aus einem Versehen heraus, eine Akte war vertauscht worden. Nach zwei Tagen wurde er herausgeholt und kam ins Städtische Waisenhaus von München, was zu einer entscheidenden Weichenstellung für sein Leben wurde. Peter Widemann macht nicht sehr viel Aufhebens um seine Person, er berichtet ruhig und nachdenklich über sich, und seine berufliche Laufbahn erscheint dabei als Geschichte von Fachthemen und nicht so sehr als Abfolge erreichter Positionen. Nicht ungern stand er in der zweiten Reihe, allerdings konnte es ihn schon ein wenig kränken, wenn man ihn deswegen übersah.

Peter Widemann wurde 1937 in Berlin geboren, er lebt seit 28 Jahren wieder dort, die Zeit dazwischen ist er nirgendwo richtig heimisch geworden. Nach der Scheidung seiner Eltern wurde er 1944 mit dem kriegsversehrten Vater nach Bayern evakuiert. Von 1945 an lebte er in verschiedenen Pflegestellen und Heimen, zwischendurch wieder beim Vater. Die Schule besuchte er erstmals im Alter von 9 Jahren.

Das durch die konsequente Einführung des Familienprinzips unter dem Leiter Andreas Mehringer berühmt gewordene Städtische Waisenhaus in München war die letzte Station seiner "Heimkarriere" als Kind und die erste Station in seiner "Karriere" als Pädagoge. Nach einer Konditorlehre und Arbeit als Gehilfe brach der 18jährige eine Ausbildung zum Koch ab, denn seinen Traum vom Leben als Schiffskoch konnte er im Stress eines großen Hotels nicht wiederfinden.

Andreas Mehringer gab ihm die Möglichkeit, als Praktikant im Waisenhaus zu beginnen, obwohl dies für einen "Ehemaligen" nicht so leicht war. Peter Widemann spricht noch heute mit großer Hochachtung von diesem Heim, von den Möglichkeiten, die es dort für die Kinder und Jugendlichen gab. Zum Beispiel konnte jeder ein Musikinstrument lernen, die Beziehungen zu den Erwachsenen waren intensiv und dicht.

Das Praktikum wurde Beginn sowohl seiner sozialarbeiterischen Laufbahn als auch seiner Freundschaft mit Martin Bonhoeffer, der zur selben Zeit ein Praktikum im Waisenhaus machte. Peter Widemann bewunderte an Martin Bonhoeffer die Akribie, mit der dieser die Kinder beobachtete und die unglaubliche Energie und das Durchhaltevermögen, mit der er sich mit ihnen beschäftigte. Peter Widemann beschreibt sich selbst als ganz anderen Typ: auch engagiert, aber immer auch angewiesen auf Ruhepausen und andere Themen.

Nach einem Jahr wechselte er nach Göttingen zum geschlossenen Landesjugendheim. Ein Motiv für diesen Wechsel war der Wunsch, nach der Münchner "Idylle" noch eine andere Realität der Heimerziehung kennenzulernen, das andere Motiv war die Freundschaft mit Martin Bonhoeffer, der in Göttingen das Studium aufgenommen hatte. Nachdem er ohne Erlaubnis mit der Jungengruppe das Heim verlassen hatte und irgendwann einer seiner Zöglinge dies zur Flucht genutzt hatte, wäre er wahrscheinlich aus dem Heim `rausgeflogen, doch die Tatsache, daß er von Andreas Mehringer kam, schützte ihn vor Konsequenzen.

Nach einem einjährigen Aufenthalt als Erzieher und Hausgehilfe bei einer kinderreichen Familie in den USA und einer erfolgreichen Eingangsprüfung - er hatte bis dahin nur einen Volksschulabschluß - begann Peter Widemann 1958 die Ausbildung zum Sozialarbeiter in Kassel. Es war, so erinnert er sich heute, eine sehr intime, intensive und gute Ausbildung, er wüßte gar nicht, ob er an einer Massenhochschule zurechtgekommen wäre. Spätere Ausbildungen - an der Verwaltungsakademie in Frankfurt und ein Pädagogik-Studium an der FU in Berlin - machte er "nebenher".

Von 1961 bis 1964 arbeitete er im Jugendamt Friedberg/Hessen als Sozialarbeiter im Innen- und Außendienst, nach seiner 2. Verwaltungsprüfung verließ er erst einmal die Verwaltung und wurde Referent für politische Bildung im Jugendbildungswerk in Kassel.

In dieser Zeit heiratete er und bekam eine Tochter, mit der er niemals richtig zusammenlebte, denn seine Frau und sein Kind blieben in Kassel, als er 1969 in die Senatsverwaltung nach Berlin ging. Dort wirkte er mit Martin Bonhoeffer bis 1974 in der Fachaufsicht über 15 z.T. große landeseigene Heime, was angesichts der damaligen Zustände und des zeitweiligen politischen Willens zur Veränderung eine äußerst spannende Tätigkeit war. Mitte der 70er Jahre trennten sich die Wege von Bonhoeffer und Widemann, die mit ihrem 1974 gemeinsam herausgegebenen Buch über "Kinder in Ersatzfamilien" programmatisch gegen die allzu strikt gedachte Trennung von Heimerziehung und Vollzeitpflege votiert hatten. Peter Widemann blieb 20 Jahre lang Leiter des Sachgebietes Familienpflege, seit 1994 ist er Leiter des Sachgebietes Koordination, Planung zu den Hilfen zur Erziehung.

Auch in der IGfH war er viele Jahre aktiv, war Mitglied des Vorstands und Delegierter, organisierte Tagungen - z. B. "Was kostet ein Kind?" und den Ost-West-Begegnungskongreß 1990, zog sich wegen allzu vieler Gremienverpflichtungen in den letzten Jahren von dieser Arbeit zurück.

Im Rückblick erscheint ihm die Zeit im Pflegekinderwesen, mit der er vielfach identifiziert wird, als zu lang. Durch die inhaltliche und organisatorische Trennung von den anderen Hilfen zur Erziehung geriet ein wesentliches Anliegen zeitweise in den Hintergrund: Peter Widemann wollte alle Hilfeformen für Kinder und Jugendliche als ein Ganzes sehen, die Vollzeitpflege zur Professionalität hin öffnen und sie in der Vielfältigkeit verbreitern, die Heimerziehung zu familiären Formen hin verbreitern, alle denkbaren Modelle auch wirklich denken und nicht schon im Vorfeld durch institutionelle Begrenzungen ausschließen. Man müsse beim Verbreitern, beim Weiterdenken ruhig übertreiben, verengt würde noch von ganz alleine. So trat Peter Widemann ein für die Zulassung von Lesben, Schwulen und Wohngemeinschaften als Pflegestellen, konzipierte die Pflegeelternschule und brachte professionelle, heilpädagogische Pflegestellen auf den Weg. An der Diskussion im Bereich der anderen Hilfen war er in dieser Zeit zu wenig beteiligt, so daß Gemeinsamkeiten nicht entdeckt werden konnten.

Andersherum könnte man auch formulieren: Die Impulse, die für den Bereich der Familienpflege von ihm ausgingen und sich in zahlreichen Veröffentlichungen niederschlugen, wurden von der Heimerziehung oder den anderen Erziehungshilfen zu wenig wahrgenommen. Peter Widemann erwähnt seine eigenen Beiträge zur Weiterentwicklung der erzieherischen Hilfen - z. B. die Mitwirkung am "Kommissionsbericht" - im Gespräch nicht. Auch sonst ist er zurückhaltend und selbstkritisch, wenn er über die Wirkungen seiner Arbeit nachdenkt und manchmal macht es ihn müde, wenn "lange erledigte" Diskussionen wieder neu aufgelegt werden. Von Resignation ist aber nichts zu spüren, Peter Widemann hat es sich nicht auferlegt, alle ihm wichtig erscheinenden Probleme selbst zu lösen, er kann gut loslassen und Dinge anderen überlassen, denen er Kompetenz zutraut.

Dann nämlich kann er sich auch anderen Dingen richtig widmen: Seiner Leidenschaft für Tango z. B., der er mit seiner Lebenspartnerin kürzlich einen Argentinienurlaub widmete. Oder dem gemeinsamen Häuschen bei Templin auf dem Lande. Seiner Liebe zu handwerklichem Tun. Oder - wenn die Zeit in der Senatsverwaltung dann vorbei ist - dem Studium der Ethnologie. Keine Frage, es gibt ein Leben nach der Erziehungshilfe.

Werner Freigang

in FORUM Erziehungshilfe, 3 Jg. 1997, H.1 S. 36/37

 

 

 

 

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