FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2003

 

Verfassungsgrundsatz:

Kindeswohl hat Vorrang vor dem Elternrecht
(zu BGH-Urteil 4 StR 190/03)

von A. Schön und C. Weber

 

Die Entscheidung des BGH vom 3. Juli 2003 (Az. 4 StR 190/03, FR v. 19.8.2003), den Freispruch für Eltern eines vielfach schwerst misshandelten Säuglings durch das Landgericht Halle aufzuheben und zur erneuten Verhandlung an eine andere Strafkammer zu verweisen, ist zu Recht ergangen. Die ausführliche Recherche und Veröffentlichung in der Frankfurter Rundschau ist zu begrüßen!

Nach der bisherigen Berichterstattung bestehen allerdings erhebliche Zweifel, ob hier die Grundrechte des Kindes auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Achtung seiner Menschenwürde durch die weitere Vorgehensweise des Jugendamtes gewahrt worden sind.

Das kleine Kind wurde nach dem Freispruch im Strafverfahren vom 29. Oktober 2002 im Alter von knapp 2 Jahren von seinen Pflegeeltern getrennt, bei denen es fast sein ganzes Leben verbracht hatte, und zu seinen Herkunftseltern zurückgegeben. Dies muss von dem Kind als traumatischer Verlust seiner vertrauten (Pflege)Eltern und als schutzlose Auslieferung an seine leiblichen Eltern, die es lebensbedrohlich gequält hatten, erlebt worden sein.

Zum Schutz des Kindes wäre es zu diesem Zeitpunkt erforderlich gewesen, dass das Familiengericht von Amts wegen - d.h. z.B. auch auf Anregung durch das Jugendamt! - oder auf Antrag der Pflegeeltern den Verbleib des Kindes in der Pflegefamilie anordnet. Für ein solches Gerichtsverfahren muss das Familiengericht eine/n Verfahrenspfleger/in zur Vertretung der Interessen des Kindes einsetzen (sog. "Anwalt des Kindes").

Im Gegensatz zum Kommentar in der FR ist uns die Rückführung des Kindes in seine Herkunftsfamilie durch das Jugendamt bisher auch formal nicht nachvollziehbar.

Bei Kindeswohlgefährdung ist das Jugendamt gehalten, eine Meldung der Gefährdung an das Familiengericht zu machen, um gegebenenfalls eine Entscheidung über die elterliche Sorge zu erwirken.

So hätte bereits parallel zum und unabhängig vom Strafverfahren gegen die Eltern - oder zumindest im Anschluss hieran - vom Familiengericht geprüft werden müssen, welche Maßnahmen zur Abwendung weiterer Gefahren für das Kind erforderlich sind. Auch in einem solchen Kindesschutzverfahren hat das Familiengericht eine/n Verfahrenspfleger zu bestellen, der die Interessen des misshandelten Kindes eigenständig und unabhängig vertritt.

Es sollen eben nicht kindesfremde Interessen - wie "krude Vorstellungen über Blutsbande oder finanzielle Erwägungen" - das Verfahren bestimmen. Ist dies hier unterlassen worden?

Da die Sprecherin der Behörde gegenüber der FR nahezu beschwört, dass das Eltern-Kind-Verhältnis weiterhin der Überwachung unterliegt, wird deutlich, dass hier eine Wiederholungsgefahr der Misshandlungen seitens des Vaters oder der Mutter nicht ausgeschlossen wird.

Im Interesse des Kindes lässt sich nicht nachvollziehen, wieso der "überwachte" Alltag (wie eigentlich ?) bei den höchst unsicheren Herkunftseltern besser das Kind schützt und für die kindliche Entwicklung förderlicher ist, als das Leben bei den vertrauten Pflegeeltern bei sicherer Beziehung im geschützten Rahmen?

Diese Begründung muss hier das Jugendamt liefern. Und selbst dann würde dies aber nur die Lage des Kindes aus Sicht des Jugendamtes spiegeln, nicht dessen Interessen.

Die Einsetzung des/der Verfahrenspfleger/in im familiengerichtlichen Verfahren ist mit Sicherheit kein Allheilmittel - allerdings sind durch ihn/sie die Interessen des Kindes eigenständig und unabhängig von Eltern- und Behördeninteressen zur Geltung zu bringen. Zunehmend stellt sich die Frage, ob nicht auch schon vor grundlegenden Entscheidungen des Jugendamtes die Interessen eines Kindes eigenständig vertreten werden müssen, schon alleine deshalb, weil hier Hilfe und Unterstützung für das Kind und seine Familie und deren Finanzierung ein und derselben Behörde unterliegen.

A. Schön, C. Weber
Regionalgruppe der Verfahrenspfleger/innen Rhein-Main,
BAG Verfahrenspflegschaft für Kinder und Jugendliche e.V.
www.verfahrenspflegschaft-bag.de

Anmerkung: Die Autorinnen nehmen Bezug auf die Berichterstattung in der Frankfurter Rundschau:
am Dienstag, 19.08.03
S. 1 "Schweigen bewahrt brutale Eltern nicht mehr vor Strafe"
S. 3 "Handlungsbedarf"
am Freitag, 22.08.03
S. 1 "Jugendamt gibt Eltern ihr halb tot geprügeltes Baby zurück"
S. 3: "Zum Wohl des Kindes"

Der hier veröffentlichte Beitrag ist ein noch unveröffentlichter Leserbrief an die FR

weitere Beiträge zum Thema Wächteramt des Jugendamtes

 

 

 

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