FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2009

 

Frühe Hilfen, das heißt:

„Kinder schützen, bevor sie es brauchen …“

- Ein Tagungsbericht -

 

Die Fachtagung „Frühe Hilfen interdisziplinär gestalten. Zum Stand des Aufbaus Früher Hilfen in Deutschland“ hat vom 19. bis 21. November 2008 in Kooperation mit dem Nationalen Zentrum Frühe Hilfen und der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin in Berlin stattgefunden. Zu dieser Fachtagung konnten wir fast 300 interessierte Vertreterinnen und Vertreter aus der Jugendhilfe und dem Gesundheitswesen im Ernst-Reuter-Haus begrüßen. Die Tagung wurde von Prof. Dr.-Ing. Klaus-J. Beckmann, Wissenschaftlicher Direktor und Leiter des Deutschen Instituts für Urbanistik eröffnet.

„Für mein Haus und die Bundesregierung hat Kinderschutz allerhöchste Priorität …“
Gerd Hoofe, Staatssekretär, Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hielt einen Einführungsvortrag zum Tagungsthema unter der Überschrift: „Durch Frühe Hilfen Kinder besser schützen: Eine gesellschaftliche, politische und fachliche Herausforderung“ und referierte über die politische Schwerpunktsetzung im Aktionsprogramm "Frühe Hilfen" des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Er sagte, Kinderschutz dürfe nicht der Beliebigkeit und dem Zufall überlassen werden und nicht von der persönlichen Wertschätzung und Kompetenz der Akteure und ihrem zufälligen Zusammentreffen abhängen, sondern brauche eine konzentrierte und stringente Struktur, eine klare Zweckrichtung, Transparenz, Ressourcen und Priorität. In diesem Zusammenhang stellte er in seinem Vortrag folgende Fragen:

  • Sind unsere Eltern verantwortungsloser, gleichgültiger, gewalttätiger geworden?
  • Oder schießen die Jugendämter und Familiengerichte über das Ziel hinaus?
  • Reichen unsere Hilfesysteme? Wie kommen Fehlerketten zustande?
  • Haben die Fachkräfte in den Jugendämtern genügend Anleitung, transparente Verfahrensabläufe, genügend Sicherheit und Hilfe?

Das seien Fragen, auf die Antworten gebraucht werden, um sie dann in Lösungen umzusetzen. Die dramatischen Fälle von Kindesmisshandlungen, Kindesvernachlässigungen und Kindstötungen seien eine Aufforderung zum gemeinsamen Handeln und mit der Umsetzung des Aktionsprogramms „Frühe Hilfen für Eltern und Kinder und soziale Frühwarnsysteme“ gelinge dies schon gut. Ein wesentlicher Schlüssel zur Verbesserung des Schutzes von Kindern aus besonders belasteten Familien vor Vernachlässigung und Misshandlung liege dabei in der Zusammenarbeit mit dem Gesundheitswesen. Wichtig sei, dass ein enges und verlässliches Hilfenetz entstehe.

Mit dem Aktionsprogramm, das Dr. Manuela Stötzel, Referentin im BMFSFJ, vorstellte, wurden in allen Bundesländern Modellprojekte auf den Weg gebracht, die wissenschaftlich begleitet und auf ihre Wirkung überprüft werden. Herr Hoofe dankte den Vertreter/innen der Modellprojekte für ihre hoch engagierte Arbeit und würdigte sie als ganz wichtigen Bestandteil des Aktionsprogramms ebenso wie die Mitarbeiter/innen des Nationalen Zentrums Frühe Hilfen (NZFH), Mechthild Paul, Alexandra Sann, Dr. Reinhild Schäfer sowie Jörg Backes. Das im April 2007 gegründete NZFH biete der Praxis eine Plattform für die Praxis an und bündele alle Erfahrungen und relevanten Informationen rund um die frühen Hilfen. Das NZFH sowie auch alle geförderten Modellprojekte stellten sich im Tagungsverlauf ausführlich vor. Diese sowie auch alle anderen fachlichen Beiträge werden in der Dokumentation zu dieser Tagung, die im zweiten Quartal dieses Jahres erscheinen wird, nachzulesen sein.

Herr Hoofe erinnerte daran, dass die Bundeskanzlerin und die Regierungschefs der Länder auf den Kinderschutzgipfeln am 19. Dezember 2007 und 12. Juni 2008 konkrete Maßnahmen für einen aktiven Kinderschutz beschlossen haben. Zahlreiche dieser Maßnahmen seien bereits umgesetzt, weitere auf dem Weg, insbesondere der Entwurf eines Kinderschutzgesetzes, in dem festgehalten werden soll, dass sich jedes Jugendamt bei Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung in Zukunft einen persönlichen Eindruck von Kind und Eltern und der Situation vor Ort verschaffen muss. Damit werde das Ziel verfolgt, klare gesicherte Standards für ein gemeinsames Handeln und konsequentes Tätigwerden im Interesse des Kindes zu schaffen. Dazu gehöre auch, systematisch aus problematischen Kinderschutzverläufen zu lernen.

Der Fall „Kevin“ ist ein Symbol – aber wofür?
Einen mit großer Spannung erwarteten Fachvortrag zum Thema: „Der Untersuchungsbericht zu ‚Kevin’ – Was können wir für die Frühen Hilfen daraus lernen?“ hielt Professor Dr. Klaus Wolf von der Universität Siegen.

In seinem Vortrag referierte Herr Prof. Wolf chronologisch die Leidensgeschichte von Kevin mit allen Kontakten, die es zwischen den Eltern und verschiedenen Behörden bis zu seinem Tod gegeben hat. Allein die nüchterne Darstellung der Ereignisse und häufigen Kontaktdaten lösten unter den Teilnehmern Schweigen und Beklemmung aus …, die Kommentierungen von Herrn Prof. Wolf, zu den Lücken im System vertieften diesen Eindruck noch. Wofür der Fall „Kevin“ ein Symbol sei, fragte er im Anschluss an die Darstellung der Fakten: Für das Versagen der Sozialen Arbeit? Das Misslingen der Kooperation? Den desillusionierten Blick auf das Leben von Familien in schwierigen Situationen? Ihm sei besonders wichtig, eine Fehleranalyse der Strukturen vorzunehmen, die diesen Fall möglich gemacht haben. Dabei müsse man die desolate Lage vieler ASDs im Blick haben, denen oftmals die Ressourcen zum schnellen Handeln fehlen. Jugendämter könnten solche Probleme nicht allein lösen, es sei eher eine Frage an die Zivilgesellschaft, wie sie mit Kindern in Not und ihren überlasteten Eltern umgehe.

Nach diesem Vortrag gab es in Arbeitsgruppen vertiefende Diskussionen zu einzelnen Aspekten wie z.B. Casemanagement, Datenschutz, Drogensubstitution, Zuständigkeitsgrenzen und finanziellen und personellen Ressourcen.

Vielleicht gegen den Willen, aber nicht ohne Wissen!
Kinderschutz bricht Datenschutz?! Über den rechtlichen Rahmen für Kooperation referierte zu Beginn des zweiten Tages Dr. Thomas Meysen vom Deutschen Institut für Jugendhilfe und Familienrecht in Heidelberg. Er verwies in seinem Vortrag auf die kulturellen Unterschiede zwischen Politik und Fachwelt. „Politik“ vertrete den Standpunkt, dass Kinderschutz durch Datenschutz nicht behindert werden dürfe. Die Fachwelt halte entgegen, dass Vertrauensschutz die Grundlage ihrer Arbeit sei. Diese kulturellen Unterschiede würden z.B. aber ebenso bei der Gesundheits- und Jugendhilfe anzutreffen sein, denn das Gesundheitswesen habe seit Hippokrates eine Schweigepflicht und die Jugendhilfe sei sich bewusst, dass es Grenzen der Vertraulichkeit im Dreieck Helfer/in – Eltern – Kind gebe. Die Aufzählung der kulturellen Unterschiede war an dieser Stelle noch nicht zu Ende, aber es stand die Frage im Raum: Wie kann eine Lösung aussehen? Liegt sie im oben genannten Transparenzgebot: „Vielleicht gegen den Willen, aber nicht ohne Wissen!“? Liegt sie in unserer eigenen Haltung zur Kooperation: Eltern erreichen und für Hilfe gewinnen; Wertschätzung aller Hilfebeziehungen; mitteilen statt melden? Darin, wie gut wir der Aufgabe gerecht werden, gemeinsam zu helfen und zu schützen, statt Verantwortung weiterzureichen?

Praxisprojekte zwei Jahre nach ihrem Start
Eine weitere spannende Facette dieser Tagung war eine Zwischenbilanz der drei Praxisprojekte, die sich im Jahr 2006 auf der Fachtagung „Frühe Hilfe und Intervention. Vom Neben- zum Miteinander von Pädiatrie und Jugendhilfe“ vorgestellt hatten. An diese erging die Bitte, über ihre Erfahrungen aus den letzten zwei Jahren zu berichten: Was war warum erfolgreich? Was ist warum gescheitert?

Jeden einzelnen Kinderarzt persönlich besucht …
Hendrik Karpinski, Chefarzt der Kinderklinik Niederlausitz in Senftenberg, berichtete über das Niederlausitzer Netzwerk Gesunde Kinder, ein Patenschaftsmodell, das sich an alle Familien mit neugeborenen Kindern richtet. Der Anspruch bei der Gründung des Netzwerkes war, eines zu schaffen, dass nicht nur durch den „warmen Regen von Mitteln“ überlebt und nicht (nur) als Kinderschutzkonzept verstanden wird, sondern in erster Linie als ein präventives Angebot an alle Familien im Sinne von „Frühen Hilfen“. Dieser Ansatz komme sehr gut bei den Familien an.

Wo gibt es Weiterentwicklungspotenzial? Die anvisierte Zielgröße von 80% der Familien konnte noch nicht erreicht werden, bisher seien es 55%. Weitere Patinnen würden gebraucht, der Transfer an andere Standorte müsse intensiviert und die Regelfinanzierung auf festere Füße gestellt werden. Das Wichtigste, das Erfolgreiche an diesem Projekt sei aber vor allem die hohe Akzeptanz bei den Familien, das motiviere sehr zum Weitermachen und bestätige die Richtigkeit des Ansatzes.

Kinderschutz ist ein erwünschtes „Nebenprodukt“
Peter Lukasczyk, Leiter der Abteilung soziale Dienste im Jugendamt Düsseldorf, bilanzierte das Präventionsprojekt: Zukunft für Kinder in Düsseldorf. Als zentrales städtisches Angebot sorge die eingerichtete Clearingstelle frühzeitig und individuell für die Kinder mit erhöhtem medizinischen und sozialen Risiko sowie deren Eltern für eine koordinierte und optimale Vor- und Nachsorge. Die Anmeldung zum Präventionsprogramm erfolge nach Beratung (zum Beispiel in der Geburtsklinik) und dem Prinzip der Freiwilligkeit für die Mütter bzw. Eltern. Die zunehmende Bekanntheit des Netzwerkes führe aber auch zu höheren Fallzahlen in der Jugendhilfe. Kinderschutz sei dabei ein erwünschtes „Nebenprodukt“.

Unterstützung schon vor der Geburt
Kristin Adamaszek, Hebamme und Projektleiterin Pro Kind Bremen, und Jun.-Prof. Dr. Tanja Jungmann, Institut für Sonderpädagogik, Leibniz Universität Hannover, stellten das Modellprojekt „Pro Kind – Wir begleiten junge Familien. Prävention durch Frühförderung: Modellversuch zur Prävention von Krankheit, Armut und Kriminalität für Kinder aus sozial benachteiligten Familien“, das derzeit in Niedersachsen, Bremen, Sachsen läuft, vor. Im Mittepunkt stehe eine ressourcenorientierte Förderung der Beziehungen der Teilnehmerin zu Familie, Freunden, Bekannten (informelles Netzwerk) sowie die Vernetzung der Teilnehmerin mit Gesundheitsdiensten und sozialen Diensten, ggf. gemeinsam mit der Familienbegleiterin.

Nicht “ein Schuh für alle”, sondern Anpassung der Hilfe im Einzelfall an die jeweils vorhandenen Risikomechanismen
Dr. Heinz Kindler, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Jugendforschung in München, hatte den Auftrag, im Plenum vorzustellen, wie ein Risikoinventar für Frühe Hilfen aussehen könnte. Es gebe mitunter die Vorstellung, alle Risiken völlig objektiv erfassen zu können, nach dem Motto „Risiko erkannt, Gefahr gebannt!“. Es sei aber dennoch nicht so, dass man damit „alles“ in der Hand hätte. Warum (dann) überhaupt ein Risikoinventar und welche wissenschaftlichen Grundlagen begründeten die Formulierung eines solchen Risikoinventars? Als Antwort darauf stellte Herr Kindler zum einen den „Anhaltbogen“, in dem es um das Ausmaß des vorhandenen Risikos geht, und zum anderen den „Unterstützungsbogen“, der die Formulierung eines passgenauen Hilfeansatzes auf der Grundlage der Risikomechanismen in einer bestimmten Familie enthält, vor. Diesen neu entwickelten Instrumentarien liege eine Analyse von 18 Risikoinventaren aus 85 internationalen Projekten zu Frühen Hilfen zugrunde.

Der schöne Begriff der „Verantwortungsgemeinschaft“
Bei der abschließenden Podiumsdiskussion stand das Thema: „Wirksamkeit Früher Hilfen“ im Fokus, an der Verena Göppert, Deutscher Städtetag, Dr. Siegfried Haller, Jugendamt Leipzig, Dr. Annette Niederfranke, BMFSFJ, Bernhard Scholten, Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Familie und Frauen Rheinland Pfalz, Mainz, Birgit Stephan, Amt für Jugend, Soziales, Arbeit und Senioren, Husum, Prof. Dr. Ute Thyen, Universitätsklinikum Lübeck sowie PD Dr. Ute Ziegenhain, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie Ulm, teilnahmen.

Stellvertretend für diese Gesprächsteilnehmer/innen möchte ich diesen Bericht abschließen mit einem Statement von Frau Dr. Niederfranke:
„Im Bereich Kinderschutz und Frühe Hilfen ist eine relativ große Bereitschaft zu verzeichnen, dieses Thema angemessen und nicht krawallartig zu debattieren. Das ist viel in einem Land, in dem eigentlich jedes Thema skandalisiert wird. Wenn uns das weiterhin gelingt – auch im nächsten Jahr, in dem viele Wahlkämpfe stattfinden –, ist das sehr viel wert. Auch wenn nicht jeder seine Vorstellungen im Einzelnen durchgesetzt hat, ist in dem gemeinsamen Beratungsprozess der Bundeskanzlerin und der Regierungschefs der Länder über einen effektiven Kinderschutz viel an Zusammenarbeit entstanden, auch zwischen den Ressorts.“

… und von Frau Göppert:
„Wir haben als Kommune die Aufgabe des Kinderschutzes, aber wir haben diese Aufgabe nicht allein. Ich habe gestern einem Länderpapier den sehr schönen Begriff der ‚Verantwortungsgemeinschaft’ entnommen. Genau hier müssen wir ansetzen. Wir können nicht wie die Medienberichterstattung stets mit Fingern auf die Jugendämter zeigen und ihnen sagen, sie hätten Fehler begangen, schon gar nicht, wenn wir Frühe Hilfen ernst meinen.“

„Die Bewährung aller Maßnahmen findet auf der kommunalen Ebene statt.“
Diese Tagung wurde von Dr. Helmut Hollmann, Ärztlicher Leiter des Kinderneurologischen Zentrums der Rheinischen Kliniken Bonn, und Wulfhild Reich, Mitarbeiterin der Dienststelle Qualität und Qualifizierung im Jugendamt Stuttgart moderiert. Dieses fachkompetente und engagierte Tandem aus Medizin und Jugendhilfe hat auf dieser Tagung im Kleinen vorgemacht, wie es in der Praxis funktionieren sollte, nämlich „… den Blick darauf zu lenken, was notwendig ist, um eine Verantwortungsgemeinschaft voranzubringen“.

Kerstin Landua
Leiterin der Arbeitsgruppe Fachtagungen Jugendhilfe
im Deutschen Institut für Urbanistik, Berlin
Kontakt:
landua@difu.de

 

 

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