Die Hamburger Senatorin für Soziales und Familie, Birgit Schnieber-Jastram, hat am 02.07.2002 ihr Konzept der Einrichtung von 90 geschlossenen Plätzen in Einrichtungen des staatlichen Jugendhilfeträgers vorgestellt, das demnächst vom Hamburger Senat beschlossen werden soll. Kernpunkte des Vorhabens sind:
- Es sollen “Familien-Interventions-Teams” geschaffen werden, die unmittelbar nach Bekanntwerden einer strafbaren Handlung von jungen Menschen die Eltern zu Hause aufsuchen und alle verfügbaren Daten der Kinder und Jugendlichen erfassen. Verweigern die Eltern oder die Minderjährigen die Mitarbeit, so soll unverzüglich ein Antrag auf geschlossene Unterbringung gestellt werden.
- Es sollen, beginnend bereits im Oktober 2002, 90 geschlossene Plätze für delinquente Kinder und Jugendliche eingerichtet werden; 25 Plätze für den Einschluss von unter 14-jährigen und 50 Plätze für Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren. Weitere 15 Plätze sollen als eine Art Abschiebehaft für jugendliche Drogendealer fungieren.
Die deutsche Sektion der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH) ist der bundesweit größte Fachverband der Heimerziehung und der erzieherischen Hilfen. Seit über zwanzig Jahren befassen wir uns intensiv mit der Thematik der geschlossenen Unterbringung in der Jugendhilfe. Der Vorstand der IGfH nimmt zur Entscheidung des Hamburger Senats wie folgt Stellung:
Das jetzt verabschiedete Konzept kann aus fachlichen pädagogischen und kriminologischen Erkenntnissen und Erfahrungen heraus nur als katastrophal verfehlt angesehen werden. Es ist offenkundig ein ordnungspolitisch motivierter Schnellschuss, der - so umgesetzt - selbst das Ziel, die Gesellschaft vor delinquenten Minderjährigen schützen zu wollen, nicht erreichen wird. Die Kritikpunkte im einzelnen:
1. Das Hamburger “Modell” ist rechtlich hochproblematisch. Rechtlich unstrittig zulässig ist nach den Bestimmungen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes nur die Freiheitsentziehung wegen akuter Fremd- oder Eigengefährdung für Leib und Leben im Rahmen einer Inobhutnahme und für bis zu 48 Stunden (§ 42 Abs. 3 SGB VIII). Ansonsten ist es herrschende Praxis, aber verfassungsrechtlich umstritten (vgl. Schlink/Schattenfroh 2001) dass eine Unterbringung in einer geschlossenen Gruppe dann erfolgen kann, wenn eine Genehmigung des Familiengerichts gem. § 1631b BGB unter Einhaltung aller dann notwendiger Verfahrensvorschriften nach § 70 FGG vorliegt. Im übrigen können nur die Personensorgeberechtigten, d.h. in der Regel die Eltern, einen entsprechenden Antrag beim Familiengericht stellen. Es kann also nicht, wie es im Hamburger Vorhaben anklingt, bei Kooperationsverweigerung der Eltern „unverzüglich“ ein Antrag auf geschlossene Unterbringung gestellt werden, sondern hierzu müsste zunächst beim Familiengericht ein Antrag auf Entzug der Personensorge nach § 1666 BGB gestellt werden.
Einzig möglicher Bezugspunkt einer familiengerichtlichen Genehmigung nach § 1631b BGB ist indes das Wohl des Kindes. Mit anderen Worten: Eine familiengerichtliche Genehmigung nach § 1631b BGB kann nur erteilt werden, wenn das Wohl des Kindes eine geschlossene Unterbringung erfordert.
Diese Rechtsauffassung wird in der Fachwelt (Pädagogik, Kriminologie und Strafrecht, Kinder- und Jugendpsychiatrie) breit geteilt (vgl. u.a. Fegert/Späth/Salgo 2001). Auch die Expertenkommission des Elften Jugendberichts teilt die Auffassung, dass allein akute Selbst- und Fremdgefährdung ausschlaggebende Gründe für eine geschlossene Unterbringung sein können. Die Gefährdung anderer Rechtsgüter (Eigentum, öffentliche Ordnung etc.) reiche nicht als Einweisungsgrund aus (vgl. BMFSFJ 2002, S.240). Da dies nur in wenigen Ausnahmefällen gegeben ist und überdies die praktischen Erfahrungen mit geschlossener Unterbringung weit überwiegend negativ sind, ist die Zahl der geschlossenen Unterbringungen in den letzten Jahrzehnten in Deutschland stark zurückgegangen. In ganz Deutschland existieren z.Zt. noch etwa 140 geschlossene Plätze in Heimen der Jugendhilfe.
In Hamburg sollen aber offenkundig Einrichtungen der Jugendhilfe zur Bestrafung eingesetzt werden. Dies wäre rechtlich aber allenfalls zulässig, wenn eine jugendrichterliche Entscheidung nach § 71, 72 JGG vorliegen würde, derzufolge ein/e Jugendliche/r zur Abwendung von U-Haft in einem „geeigneten Heim“ unterzubringen ist. Ansonsten ist es rechtlich nicht zulässig, Minderjährige aus ordnungspolitischen Gründen einzusperren, vor allem nicht der Einschluss delinquenter, aber strafunmündiger Kinder unter 14 Jahren.
2. Das Hamburger Vorhaben ist pädagogisch verfehlt. Alle empirischen Untersuchungen zur geschlossenen Unterbringung (GU) der letzten zwanzig Jahre haben gezeigt, dass die Betreuung im Zwangskontext für die Gestaltung pädagogischer Prozesse und für eine positive, gemeinschaftsfähige persönliche Entwicklung junger Menschen eher hinderlich ist. Vereinzelte Erfolge stellten sich eher trotz, nicht wegen des geschlossenen Settings ein (vgl. Pankofer 1997). Gerade auch die “besonders Schwierigen” werden in geschlossenen Gruppen nicht erfolgreicher betreut als in anderen Hilfeformen (vgl. Ader/Schrapper 2001). Hinzu kommt, dass die Weglaufrate aus geschlossenen Gruppen etwa so hoch ist wie aus offenen, d.h. selbst dem Sicherheitsgefühl der Allgemeinheit wird durch geschlossene Gruppen nicht gedient (vgl. Wolffersdorff/Sprau-Kuhlen/Kersten 1990).
3. Das Hamburger Vorhaben wird die Jugendhilfe der Hansestadt um Jahrzehnte zurückwerfen. Die Einrichtung von einer derart großen Anzahl geschlossener Plätze wird katastrophale Auswirkungen auf die gesamte Hamburger Jugendhilfe haben: Hatte das Kinder- und Jugendhilfegesetz den rechtlichen Rahmen für eine präventiv ausgerichtete, partnerschaftlich agierende Jugendhilfe geschaffen, droht in Hamburg nun wieder der Muff einer obrigkeitlich-eingreifenden Fürsorge einzuziehen. Eltern mit Erziehungsproblemen dürften sich wieder zunehmend schwer tun, von sich aus zur Jugendbehörde oder anderen Diensten der Erziehungshilfe zu gehen und um Hilfe nachzusuchen. Außerdem dürfte die Existenz von 90 geschlossenen Heimplätzen erneut einem problematischen “Verschiebebahnhof” Vorschub leisten, d.h. jungen Menschen dürfte dann häufiger wieder mit der geschlossenen Gruppe gedroht werden, und Einrichtungen können versucht sein, schwierigere Kinder schneller abzuschieben.
Der Vorstand der IGfH fordert daher den Hamburger Senat eindringlich auf, das vorliegende Konzept seiner Sozialsenatorin nicht zu beschließen.
Frankfurt a.M., 16.07.2002 gez. Hans-Ullrich Krause, 1. Vorsitzender
Literatur:
Ader, S./Schrapper, C.: Wie aus Kindern in Schwierigkeiten „schwierige Fälle“ werden. In: Forum Erziehungshilfen 8. Jg. 2002, Heft 1, S. 27-34 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Elfter Kinder- und Jugendbericht. Bericht über Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland, Berlin 2002 Fegert, J.M./Späth, K./Salgo , L. (Hg.): Freiheitsentziehende Maßnahmen in Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie, Münster 2001 Pankofer, S.: Freiheit hinter Mauern. Mädchen in geschlossenen Heimen, Weinheim und München 1997 Schlink, B./Schattenfroh, S.: Zulässigkeit geschlossener Unterbringung in Heimen der Jugendhilfe. In: Fegert/Späth/Salgo (Hg.), Freiheitsentziehende Maßnahmen in Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie, Münster 2001 Wolffersdorff, C.v./Sprau-Kuhlen, V./Kersten, J.: Geschlossene Unterbringung in Heimen, Weinheim und München 1990
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