FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2007

 

Erste Eindrücke beim Lesen des Untersuchungsberichts
der Bremischen Bürgerschaft zum Tode von Kevin

Professor Dr. Ludwig Salgo, Frankfurt am Main

 

Der Ende April veröffentlichte „Bericht des Untersuchungsausschusses zur Aufklärung von mutmaßlichen Vernachlässigungen der Amtsvormundschaft und Kindeswohlsicherung durch das Amt für Soziale Dienste“ stellt zunächst angesichts von 361 Seiten „Bericht“ zuzüglich etlicher Anlagen eine zeitliche Herausforderung dar. Da ich mich bereits eingehend mit dem vom Bürgermeister von Bremen angeforderten Berichts von Staatsrat Mäurer befasst hatte, hatte ich nicht viel Neues erwartet, zugleich war ich neugierig und skeptisch zugleich. Meine Skepsis rührte daher, dass ich mir von einem Bericht eines Parlamentarischen Untersuchungsausschusses nicht zuviel versprach angesichts der Erfahrungen mit solchen Gremien. Ich wurde angenehm enttäuscht bei der Lektüre.

Der von der Bürgerschaft (Landtag) eingesetzte Untersuchungsausschuss, bestehend aus Abgeordneten der Bürgerschaftsfraktionen der CDU, der SPD und BÜNDNIS 90/Die Grünen, verabschiedete diesen Bericht einstimmig.

Meines Wissens liegt zu keinem der vergleichbaren Todesfälle ein Bericht diesen Umfangs und dieser Qualität vor. Der Bericht des Kollegen Bringewat zum Osnabrücker Fall ist sehr lehrerreich, aber nicht vom Staat veranlasst worden. Die vorliegende schonungslose Aufarbeitung durch diesen Untersuchungsausschuss sollte nicht nur in Bremen Konsequenzen nach sich ziehen, sondern Pflichtlektüre der politisch für Jugendhilfestrukturen Verantwortlichen auf allen Ebenen werden.

„Bremen ist überall“
Es handelt sich längst nicht mehr um eine Bremische Angelegenheit. Dieser Bericht muss Konsequenzen für die Aus- und Fortbildung nicht nur der Fachkräfte in Jugendämtern, sondern auch der an solchen Fällen zwangsläufig mitwirkenden Fachkräfte aus dem Gesundheits- und Justizsystem haben. Darüber hinaus stellt der Bericht das an Fachhochschulen landläufig vermittelte Methodenspektrum bei der Arbeit im Zwangskontext in Frage, d.h. bei der Hilfe u n d Kontrolle in Risikofamilien. Der vernichtende Gesamtbefund ist nicht überraschend, kam doch bereits die Jugendministerkonferenz in ihrer Entschließung vom 24.11.2006 zu einer ernüchternden Einschätzung: der Situation in Deutschland.
 

Wenn schon die Jugendministerkonferenz diese Bild über die Gesamtlage vermittelt, dürfte der Fall Kevin sicherlich nicht ein Einzelfall sein.

Der tragische Verlauf des Falles von Kevin ist der größte anzunehmende Unfall in einer Kinder- und Jugendbehörde – wir können nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.

Bei der Schilderung der ersten Eindrücke bei der Lektüre kann ich nur einige mir wichtig erscheinende Punkte aus diesem Bericht aufgreifen und hoffentlich ermuntern und motivieren, sich den Bericht selbst anzuschauen. Diese subjektive Auswahl von Gesichtspunkten erfolgte aus dem Blickwinkel von § 8a SGB VIII sowie der Diskussion um die Fachlichkeit bei Frühen Hilfen und der geforderten interdisziplinären Kooperation der Systeme von Jugendhilfe, Gesundheit, Polizei und Justiz.

  • In Bremen wurde das Casemanagement und damit verbunden die zentrale Figur des CASEMANAGERS eingeführt. Die künftigen Casemanager wurden in einem dreitägigen Crashkurs mit dieser neuen Figur vertraut gemacht. Ein solcher CASEMANAGER spielt im Verlauf des Falles Kevin eine zentrale Rolle. Zur Unterstützung der Casemanager wurde die „Aufsuchende Familienberatung“ mit acht Fachkräften gegründet. Die Aufsuchende Familienberatung sollte insbesondere in den Fällen, in denen eine intensivere Beschäftigung mit sog. Risikofamilien notwendig und aus Gründen der Kindeswohlgefährdung ein Handeln des Jugendamtes gegebenenfalls auch gegen den Willen der Leistungsberechtigten erforderlich war, zum Einsatz kommen. Dieser Fachdienst wurde ohne Ersatz alsbald aufgelöst (S.37). Ob Casemanager selbst Hausbesuche durchführen sollen, blieb umstritten: „Unklar scheint geblieben zu sein, ob die Casemanager weiterhin persönlich Hausbesuche durchführen sollen. Der Leiter der Fachabteilung „Junge Menschen und Familie“ soll dazu noch im Mai 2006 auf einer Teilpersonalversammlung des ambulanten Sozialdienstes „Junge Menschen“ erklärt haben, Hausbesuche würden von Casemanagern nicht mehr durchgeführt. Demgegenüber hat er in seiner Aussage vor dem Untersuchungsausschuss bekundet, diese seien im Rahmen der Hilfebedarfsermittlung „natürlich auch erforderlich“ (S. 223)
     
  • Am 1. Januar 2005 wurde die Drogenberatung privatisiert (S. 38)
     
  • Von einer Senkung der Sozialausgaben im Bereich der Hilfen zur Erziehung kann auch für Bremen nicht gesprochen werden, nur von Steigerungen (S. 42)
     
  • Für den Bereich der Amtsvormundschaft mit insgesamt 2,75 Beschäftigten lag die Fallbelastung bei etwa 640 Fällen, somit hatte eine Fachkraft 240 Fälle
     
  • zahlreiche Mitarbeiter aus dem Bereich der ambulanten Hilfen hatten immer wieder so genannte Überlastanzeigen geschrieben, was aber keinerlei Konsequenzen hatte und nur dazu führte, dass von solchen Überlastanzeigen Abstand genommen wurde
     
  • mit dem Fall von Kevin war eine Vielzahl von Personen aus dem System der Kinder- und Jugendhilfe in öffentlicher und freier Trägerschaft, aus dem Gesundheits- wie aus dem Justizsystem sowie die Polizei wiederholt und sehr intensiv befasst. Bereits vor der Geburt von Kevin war eine Familienhebamme des Gesundheitsamtes Bremen in der Familie tätig
     
  • Die von der Familienhebamme vermittelten Ärzte der ins Auge gefassten Entbindungsklinik regten angesichts des Umstandes dass die Mutter HIV-positiv war, eine Retrovirbehandlung an, um die Viruslast für das Kind zum Zeitpunkt der Geburt so niedrig wie möglich zu halten. Die Mutter lehnt dies ab. Kevin, der in einer anderen Klinik am 23. Januar 2004 zur Welt kam, litt unter einem Atemnotsyndrom und unter Entzugserscheinungen
     
  • Da sich die Eltern kaum in der Versorgung des Säuglings in dieser Zeit beteiligt hatten und wegen anderer hochproblematischer Vorkommnisse (Gewalt, Hausverbot etc.) halten die Ärzte die Entlassung von Kevin zu seinen Eltern nur bei umfassender Unterstützung verbunden mit entsprechenden Kontrollen für vorstellbar: Entgiftung der Eltern, regelmäßiger Besuch einer Familienhebamme, Betreuung durch das Drogenhilfesystem und durch einen Arzt sowie Helferkonferenzen zwischen allen beteiligten. Die Ärzte hatten größte Bedenken (S. 50) gegenüber dem Vorschlag des JA, Kevin ohne Klärung und Sicherung dieser Bedingungen zu entlassen. Sie waren der Ansicht, dass eine Pflegefamilie die beste Lösung sei, sahen aber angesichts der Bereitschaft der Eltern, an einer Entgiftung teilzunehmen, von der Anrufung des FamG ab - für die Eltern hat sich neben einem Rechtsanwalt auch ein methadonvergebender Arzt massiv eingesetzt
     
  • Ärztlich Untersuchungen im Oktober 2004 – KEVIN war 9 Monate alt - haben mehrere Rippenrüche, Unterschenkel- und Unterarmfrakturen sowie Schädelfrakturen diagnostiziert. Die Eltern konnten keine Erklärungen für diese Verletzungen geben. Weil sie „sehr zugewandt und vorsichtig liebevoll im Umgang“, „sehr kooperativ und besorgt um Kevin“ während des Klinikaufenthaltes beschrieben wurden, wurde Kevin in den elterlichen Haushalt entlassen, da ja eine Familienhebamme und Familienberatung eingesetzt werden sollten mit wöchentlichen Kontrollen in einer Kinderarztpraxis sowie weitere regelmäßige Termine in der Klinik vorgesehen waren. Die Kooperation mit der bereits früher aktiven Familienhebamme hatte die Mutter beendet. Bereits kurz nach der Entlassung von Kevin aus dieser Klinik lehnte der Ziehvater von Kevin jegliche aufsuchende Form von Beratung ab
     
  • Mehrere Polizeieinsätze wegen Gewalt, Alkohol, Drogen und wegen Vernachlässigung bzw. Verletzung des Kindes durchziehen den Bericht. Eines dieser Ereignisse veranlasst die Polizei, Kevin in einem Notaufnahmeheim unterzubringen; die Polizeibeamtin berichtet: Die Mutter stand unter Drogen und Alkohol, Kevin sei schmutzig, von unten bis oben verdreckt gewesen, habe für die Witterungsverhältnisse zu dünne Bekleidung angehabt; es sei ihr aufgefallen, dass das Kind für sein Alter zu klein und von seiner Motorik nicht altersgemäß entwickelt sei und wie entsetzt sie war, als sie einige Tage später vom zuständigen Sachbearbeiter erfuhr, dass Kevin wieder in die Familie zurückkomme
     
  • Der Abschlussbericht von FIM nach einem 6-wöchigen Einsatz lobt die gute Zusammenarbeit mit den Eltern und deren umfassende Kenntnisse im Hinblick auf die Bedürfnisse des Säuglings (S. 58). „Familie im Mittelpunkt“ bietet kurzfristige Einsätze mit dem Ziel, Fremdplazierungen zu vermeiden auch in schwierigen Fällen an
     
  • Ein Arzt des Gesundheitsamtes weist auf die Notwendigkeit enger Kontrollen hin und bringt seine Verwunderung darüber zum Ausdruck, „dass ein Kind mit dieser Vorgeschichte überhaupt noch in der Familie lebe“ (S. 59)
     
  • Selbst der Rechtsanwalt der Eltern bezeichnet gegenüber dem Casemanager die Situation der Familie als „sehr kritisch“
     
  • Immer wieder zeigt sich, dass Hilfen nicht installiert wurden bzw. scheiterten
     
  • Massive Warnungen des Heimleiters einer Einrichtung, in der Kevin vorübergehenden untergebracht war, ignorierte der Casemanager, obwohl diese Hinweise auf massive Gefährdungen enthielten
     
  • Verschiedene Warnungen der Familienrichterin an den Casemanager hinsichtlich der Zuverlässigkeit des die Ersatzdrogen verabreichenden Arztes sowie wegen des weit verbreiteten Beigbrauchs zeigen keinerlei Wirkung
     
  • Einschaltung des Bürgermeisters = Ministerpräsidenten (S:8) führt dazu, dass die Sozialsenatorin Berichte über den Fall anfordert
     
  • Die Tagesmutter von Kevin stellt einen gebrochenen und geschwollenen Fuß, am ganzen Körper blaue Flecken und einen geschwollenen Penis fest und teilt dies dem Casemanager mit; von einem Kinderarzt wird die Tagesmutter abgewiesen mit dem Hinweis, es sei unzulässig mit einem fremden Kind ohne Einwilligung des Erziehungsberechtigten einen Kinderarzt aufzusuchen. Der Casemanager weist die Tagesmutter an, umgehend Kevin an den Ziehvater herauszugeben

Ich breche hier diese kursorische Aufzählung ab. Der Untersuchungsbericht sieht zwar eindeutig die Verantwortlichkeit beim Casemanager, nennt aber eine Reihe weiterer Verantwortlicher und strukturelle Faktoren, die zum tragischen Ausgang beigetragen haben. Soweit Personen dem Ausschuss gegenüber Zeugnisverweigerungsrechte geltend machten, bezog sich der Ausschuss auf deren Einlassungen bei der Staatsanwaltschaft.

Zahlreiche Zeugen beschreiben den Casemanager als passiv, unengagiert, konzeptlos, Kontrollen den Eltern gegenüber grundsätzlich ablehnend; er zeigt keine wirksamen Reaktionen auf eine kaum übersehbare Zahl von alarmierenden Meldungen. Der CASEMANAGER gibt sich mit den Erklärungen der Eltern bzw. des Ziehvaters zufrieden; Ablehnung bzw. Scheitern von angedachten bzw. begonnenen Hilfen führen zu keinerlei Konsequenzen. Vor allem steigern sich die Aktivitäten des CASEMANAGERs dagegen immer dann, wenn Kevin wieder in die Obhut des Ziehvaters zurückgeführt werden soll bzw. dann, wenn der Aufenthalt bei diesem in Frage gestellt wird, weil andere Beteiligte eine Herausnahme befürworten.

Der Untersuchungsausschuss stellt eine chaotische Aktenführung, eine unstrukturierte Fallbearbeitung und ein rein reaktives Vorgehen ohne erkennbaren roten Faden wiederholt im Bericht fest. Ein Wiedervorlagemanagement wird als „überflüssige, lediglich formalistische Anforderung“ betrachtet (S. 98); es findet sich keine verschriftlichte Form der Fallsteuerung in den Akten. Hausbesuche sind in der Akte nicht dokumentiert (S. 121).

Der Fallmanager zieht über einen langen Zeitraum zur Risikoabschätzung keine Fachkräfte hinzu; die ihm nicht genehmen Berichte Dritter nimmt er nicht zur Kenntnis, verniedlicht die Warnungen, beschwichtigt laufend und gibt entsprechende Berichte wie auch die Polizeiberichte nicht an Vorgesetzte weiter.

Der Casemanager erklärte bei seiner staatsanwaltlichen Vernehmung, dass es keine Möglichkeiten und Anlass gab, die inakzeptable Verweigerungshaltung zu sanktionieren (S. 107). Er erklärte dort: „Eine Fremdunterbringung haben wir bei Kevin nie konkret ins Auge gefasst, weil wir immer gedacht haben, die Konstellation „Vater und Sohn“ würde funktionieren“. Kontrollen hat der Casemanager nicht für erforderlich gehalten. (S. 107): „Auch wenn er mit dieser ablehnenden Einstellung zu staatlicher Kontrolle im Jugendamt bei weitem nicht alleine da steht“ – wie der Untersuchungsausschuss feststellen musste.

Die in zahlreichen Verwaltungsvorschriften des Senats verpflichtenden Vorgaben zum Abschluss von Vereinbarungen mit unmissverständlichen Auflagen an die Eltern, insbesondere in Fällen vorliegender Art wurden durchweg missachtet. Hierzu führt der Bericht aus: „Auch der immer wieder ins Feld geführte „prozesshafte Charakter“ der sozialpädagogischen Arbeit hindert keineswegs den Abschluss klarer Vereinbarungen, da diese bei „prozesshaften“ Veränderungen auch angepasst werden können“ (S. 108).

Der Bericht zählt eine Veilzahl gravierender Mängel der Sachbearbeitung durch den Casemanager auf, befasst sich neben der Verantwortlichkeit weiterer Beteiligter auch mit „Haltungen“. Nichts konnte den Casemanager von seiner wohlmeinenden Haltung abringen: „Vieles spricht dafür, dass er die Hoffnung der „Eltern“, über das Kind Zugang zu einer erträumten Heilen Welt zu bekommen, nicht nur unterstützt, sondern sogar geteilt hat (S. 112) ….Diese Instrumentalisierung des Kindes für die Zwecke der „Eltern“ erscheint dem Ausschuss inakzeptabel und in keiner Weise mit dem Auftrag des Staates, das Kindeswohl zu sichern, in Einklang zu bringen“ (S. 113).

Auffallend ist der fast völlige Ausfall von Kontrollen gegenüber dem Fallmanager, obwohl immer wieder trotz der mangelnden Information gewichtige Anlässe bestanden hätten. Von einer Fachaufsicht kann nicht gesprochen werden. In einem Klima, welches Kontrollen den Eltern gegenüber für nicht angemessen hält, überrascht auch nicht, dass Kontrollen der Mitarbeiter nicht stattfinden. Es finden aus Zeitgründen lediglich „Mengenkontrollen“ bzw. ein reines Verwaltungscontrolling, jedoch keine fachlichen Kontrollen statt. Das Controlling ist auf die mögliche Vermeidung kostenträchtiger Fälle konzentriert, die aber hat der Casemanager im vorliegenden Fall ja vermieden. Bemerkenswert war bei der Lektüre, dass eine Jahrespraktikantin und nicht Kollegen des Casemanagers es war, der die Aggressivität des Ziehvaters aufgefallen war: Der Ziehvater habe bei dieser Begegnung geäußert, er werde in Bremen Geschichte schreiben, wenn man ihm das Kind wegnehme. Dass er Geschichte geschrieben hat, das ist richtig. Die Sorge dieser Jahrespraktikantin, ob man das Kind bei einer so bedrohlich auftretenden Person lassen könne, sei dann weder vom Casemanager noch von ihrer Ausbilderin geteilt worden (S. 139).

Akten werden nicht nur nicht geführt, auch findet eine Lektüre der Akten vor Fallkonferenzen, durch Vorgesetzte und durch andere mit dem Fall Befassten kaum oder nicht statt – wahrscheinlich kennen diese Insider die mangelhafte Aktenführung. Hinsichtlich des Amtsleiters stellte der Ausschuss fest: „Im Rahmen der Aufgabendelegation hat sich der Amtsleiter auf seine Mitarbeiter verlassen. Er hat insofern seiner Dienst- und Fachaufsicht nicht in ausreichendem Maße Genüge getan. Insofern trägt auch der Amtsleiter Mitverantwortung für den tragischen Verlauf des Falles Kevin“ (S. 156).

In der verbleibenden Rahmen will ich mich zunächst mit der Rolle des Vormundes, seinen Aufgabe und deren Erfüllung im Fall Kevin, sodann mich den Mitwirkenden aus dem Gesundheits- und Justizsystem zuwenden.

Der Amtsvormund
Der Vormund gab in seiner staatsanwaltlichen Vernehmung an, weder über den Verdacht der Kindesmisshandlung noch über Bedenken hinsichtlich der Rückgabe des Kindes aus dem Heim informiert worden zu sein. Zu Recht vertritt der Untersuchungsausschuss den Standpunkt, dass der Vormund verpflichtet gewesen sei, sich umfassend über sein Mündel zu informieren. Es klingt beinahe zynisch, zu welchem Ergebnis der Ausschuss kommt: „Die Vermögenssorge betreffenden Angelegenheiten (z.B. Stellungnahme gegenüber dem Nachlassgericht) hat der Vormund auch ordnungsgemäß erledigt. Demgegenüber wurde die ihm ebenfalls obliegende Personensorge vernachlässigt. Das Nachlassgericht – wie das Vormundschaftsgericht waren tätig geworden, weil Kevins Mutter am 25. November 2005 verstorben war; Todesursache unbekannt, Fremdverschulden nicht auszuschließen. Der Vormund hat sich wegen seiner hohen Arbeitsbelastungen darauf berufen, er könne keine eigenen Ermittlungen anstellen und müsse sich hundertprozentig auf die Angaben des Casemanagers verlassen (S. 143). Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass der Vormund wiederholt die Zeit gefunden hat, sich um die Belage des Ziehvaters zu kümmern, „Während er sich mit der an ihn ausdrücklich gerichteten Frage nach dem Gewaltrisiko für das Kind überhaupt nicht beschäftigt“. So hat er zu keinem Zeitpunkt Kontakt zum Kinderarzt aufgenommen. Ebenso wie der Casemanager hat der Vormund den Darstellungen des Vaters Glauben geschenkt. Hinsichtlich der ungewöhnlich hohen Fallzahl als Ursache für ein Versagen des Vormundes kommt der Untersuchungsausschuss zu folgendem Befund: „In diesem Fall hat sich weniger das knapp vorhandene Zeitkontingent, sondern mehr die von Anfang an festzustellende Parteilichkeit (des Vormundes) zugunsten des Ziehvaters ausgewirkt.“ (S. 148). Der Bericht stellt lapidar fest: „Es soll erneut darauf aufmerksam gemacht werden, dass an erster Stelle das Kindeswohl und nicht das Elternwohl zu stehen hat. Gerade in Fällen, in denen sich das Kind noch nicht selbst äußern kann, sollte der Vormund sich daher zwingend einen eigenen Eindruck vom Kind und der häuslichen Situation machen“ (S. 149).

Das Gesundheitssystem
Zunächst ist eine sehr erfahrene und aktive Familiehebamme bereits vorgeburtlich beteiligt, die aber von der Mutter von Kevin abgelehnt wird.  Nachdem sie zufällig Mutter und Kind in einer für das Kind bedrohlichen Situation auf der Strasse antrifft, meldet sie dies dem Casemanager, und weist darauf hin, dass ihrer Einschätzung nach das Kind nicht bei den Eltern leben könne. Der Untersuchungsausschuss schätzt die Rolle dieser Familienhebammen sehr hoch ein: Sie „hätte aufgrund ihrer eindeutig dem Kindeswohl verpflichteten Profession ein wertvolles Gegenstück zu dem verstärkt die Eltern fokussierenden Drogenhilfesystem und der konflikthaften Doppelrolle des Casemanagers zwischen Hilfe und Eingriff bieten können“ (S. 168).

Die Ärzte der Geburtsklinik
Der Oberarzt der Entbindungsklinik strebte aufgrund der Beobachtungen, der Gewaltdrohungen seitens des Ziehvaters – die Klinik musste ein Hausverbot aussprechen- eine „familienrichterliche Anhörung“ an. Bis zuletzt stand die Geburtsklinik der Entlastung des Kindes zu den Eltern kritisch gegenüber, weil sie eine alleinige Versorgung durch die Mutter für nicht möglich hielt. Trotz dieses Hintergrundes und ihrer Einschätzung, Kevin müsse in einer Pflegefamilie unterkommen, stimmte die Klinik schließlich dem Verbleib bei den Eltern zu. Die Sozialdienstleiterin der Klinik begründet dies damit, dass wohl auch das Familiengericht nicht anders entschieden hätte, da die Eltern sich freiwillig in die Entgiftung begeben wollten.

Der Arzt der Klinik, in die Kevin im Alter von 9 Monaten vom Kinderarzt eingewiesen worden war
Er habe die Röntgenbilder gesehen. „Verletzungen diesen Ausmaßes und dieser Konstellation habe er vorher noch nie gesehen“ (S. 171). Seinen Kollegen sei es ebenso ergangen. Es war klar, dass die Verletzungen nur durch äußerlich angewendete Gewalt entstanden sein konnten.
„Da die Eltern vor dem Klinikpersonal vehement abstritten Kevin körperlich misshandelt zu haben und sich nach Aussagen der Stationsärztin während des Klinikaufenthaltes im Umgang mit Kevin durchaus liebevoll zeigten, wurde der Verdacht, die Eltern könnten als Täter in Frage kommen, nicht weiter verfolgt und auch im Entlassungsbericht nicht angesprochen. Die Stationsärztin rechtfertigte dieses Verhalten damit, dass sie letztlich nur die Verletzungen habe diagnostizieren, nicht aber den Täter ermitteln könne“ (S. 172). Der Casemanager habe auf die Entlassung zu den Eltern gedrängt und die Ausweitung des Hilfs- und Kontrollsystems in Aussicht gestellt. Auf diese Aussage habe sich die Ärztin verlassen. Der Ausschuss kommt zu der Einschätzung hinsichtlich des Verhaltens der Klinik, dass diese keine Veranlassung hatte, an den Aussagen des Casemanagers zu zweifeln, allerdings kritisiert der Ausschuss, dass „angesichts der außergewöhnlichen Schwere der Verletzungen weitere Nachforschungen hinsichtlich des Verursachers der Verletzungen“ unterblieben.
Da der Kinderarzt wegen des Verdachts auf „battered child syndrom“ das Kind in die Klinik eingewiesen hatte, in welcher die oben beschriebenen Verletzungen festgestellt worden waren, ist er im weiteren Verlauf des Falles vom Casemanager zur Teilnahme an Fallkonferenzen nicht eingeladen worden.
Der einzige aus dem Gesundheitssystem, der mE die Rechtslage völlig  verkannt hat, war der Kinderarzt, der die Tagesmutter abgewiesen hat, mit dem Hinweis, es sei unzulässig mit einem fremden Kind ohne Einwilligung des Erziehungsberechtigten einen Kinderarzt aufzusuchen. Ihm war ein Akutfall eines Kindes mit erheblichen Schmerzen vorgestellt worden.

Der substituierende Arzt

  • keinerlei kritische Distanz zu den Eltern, seinen Patienten
  • überengagiert sich laufend in hohem Maße zugunsten der Eltern
  • missachtet alle Richtlinien zum Verhalten bei Beigebrauch
  • bescheinigt dennoch Beigebrauchsfreiheit
  • stellt Diagnosen bezüglich des Kindes, ohne es gesehen zu haben und verschreibt für dieses Medikamente
  • drängt nicht auf Vorstellung des Kindes beim Kinderarzt
  • auch von ihm wird Kevin offenbar zur Stabilisierung einer extrem schwierigen familiären Situation instrumentalisiert

„Der substituierende Arzt hat damit nach Auffassung des Untersuchungsausschusses einen erheblichen Beitrag zu der Entwicklung geleistet, die letztendlich zum Tode des Kindes führte“ (S. 193).

Abschließend zum Gesundheitssystem sei noch erwähnt, dass die Drogenberaterin der Mutter von der von den Ärzten empfohlenen vorgeburtlichen Retroviren Behandlung abgeraten hatte. Ein anderer Drogenberater hielt es trotz seiner grundsätzlichen Überzeugung, dass „Elternschaft und aktiver Konsum nicht zusammenpassen“ für verantwortbar, den Eltern zunächst die Verantwortung für das Kind zu übertragen (S. 199).

Die Justiz
a. Familien- und Vormundschaftsgericht
Der Casemanager kennt nicht die Zuständigkeiten von Familien- und Vormundschaftsgericht. Wiederholt hat die Familienrichterin sich beim Casemanager nach dem Sachstand erkundigt. Diesem Hinweise zur Unzuverlässigkeit des Drogenarztes der Eltern gegeben. Den Vormund musste die Familienrichterin dahingehend belehren, dass dieser jederzeit Zugang zu seinem Mündel habe und er auch ohne Gerichtsbeschluss das Kind aus der Wohnung herausholen könne. „Statt sich …für den schnellsten möglichen Weg, also den Hausbesuch in Polizeibegleitung zu entscheiden, baten (Vormund und Casemanager) um Bedenkzeit und teilten erst später mit, man habe sich für den zivilrechtlichen Herausgabeweg entschieden (S. 205).
Dem Vormundschaftsgericht gegenüber gab es von Seiten des Vormundes nur positiv verfasste Berichte, so dass von Seiten des Vormundschaftsgerichts keine Veranlassungen bestanden anzunehmen, der Vormund würde seine Aufgaben nicht pflichtgemäß wahrnehmen. Der Ausschuss schlägt vor, dass Erkenntnisse des Familiengerichts zwingend an das Vormundschaftsgericht weitergegeben werden müssten. Ein richtiger Vorschlag, der sich ohnehin durch anstehende Reformen erledigen würde. Alle Minderjährige betreffenden Angelegenheiten soll beim Familiengericht konzentriert werden.

b. Die Bewährungshelferin
„Am 25. Januar 2006 rief die Bewährungshelferin des Ziehvaters den Casemanageran und erklärte, dass dieser ihrer Meinung nach ein hohes Aggressionspotential aufweise.
Sie habe die Sorge, der Ziehvater sei mit der Versorgung des Kindes überfordert.
237 In ihrer öffentlichen Vernehmung schilderte sie den Hintergrund ihres Anrufs:
Am Tag zuvor hatte sie einen Termin mit dem Ziehvater, bei dem dieser zum ersten
Mal sehr aggressiv aufgetreten sei, geschimpft und geweint habe und offensichtlich
außer Methadon auch Drogen oder Tabletten und Alkohol konsumiert habe. Er habe
ihr geschildert, dass er keine Unterstützung erhalte und Sorge habe, dass man ihm
seinen Sohn wegnehmen könne. Die Bewährungshelferin machte deutlich, sie sei
nach diesem Gespräch in großer Sorge um das Wohl des Kindes gewesen. Deshalb
habe sie am nächsten Tag sofort den Casemanager angerufen. Dieser habe ihr bestätigt,
dass es zunehmend kritischer mit dem Ziehvater und dessen Sohn werde und
versprochen, sie auf dem Laufenden zu halten. Dies sei aber nicht geschehen“ (S.73f).

FIM
„Der insgesamt positive Abschlussbericht von FIM war sicherlich geeignet, die ohnehin schon recht positive Sicht des Casemanagers von den Erziehungsqualitäten der Eltern noch zu verstärken“. Etliche Beobachtungen anderer lassen sich nicht mit diesen Einschätzungen in Einklang bringen.
„Die durchweg als beschönigend zu beschreibende Darstellungsweise der Familiensituation in Berichten Freier Träger fand sich nicht nur im Fall von Kevin, sondern auch in etlichen anderen vom Untersuchungsausschuss geprüften Fallakten. Dies mag mit dem seit einiger Zeit verbreiteten „systemischen ressourcenorientierten Ansatz“ in der Jugendhilfe zusammenhängen……Diesen fachlich begründbaren Ansatz zu kritisieren, ist nicht Aufgabe des Ausschusses. Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass bei einer zu starken Fokussierung auf die positiven Elemente in der Familiensituation die Gefahr der selektiven Wahrnehmung bis hin zur Negierung der ebenso vorhandenen Defizite besteht. Genau dies ist im Bericht der FIM hier geschehen. Dadurch hat die FIM einen Beitrag dazu geleistet, dass sich die Familie nach Beendigung der sechswöchigen Kontrolle wieder entziehen konnte und der Casemanager sich in seiner positiven Einschätzung der Gesamtsituation bestätigt sehen musste“ (S. 208).
Sehr kritisch betrachtet der Ausschuss die Arbeit weiterer involvierter Freier Träger.

Aus Zeitgründen ein erstes, vorläufiges Resume:
Individuelles Versagen, Überforderung, Totalausfall fast aller Kontrollsysteme, ideologische Verblendung, ein miserables Arbeitsklima, Überlastung, „burning out“ des Mitarbeiterstabes, Ungeeignete Methoden, verfehlte Einstellungen zum Verhältnis von Hilfen und Kontrollen, ein schlechtes Gewissen, Political Correctnes, Opportunismus während der Entscheidungsfindung in Fallkonferenzen, Fehleinschätzungen zu den Möglichkeiten und vor allem der Grenzen von Methadonsubstituierung bei Müttern, all dies und noch viel mehr haben den Tod von Kevin verursacht. Ermutigend ist, dass es einige wenige Beteiligte gab, die das Wohl von Kevin und die realen Lebensgefahren frühzeitig erkannt haben, allerdings konnten sie sich nicht gegenüber der Übermacht von Ignoranz durchsetzen. Zu dieser Gruppe zählen die Familienhebamme, Polizeibeamte, der Kinderarzt, die Bewährungshelferin, die Familienrichterin und als einzige aus dem System der Kinder- und Jugendhilfe die Jahrespraktikantin. Alle diese Personen – bis auf die Letztgenannte - gehören nicht der Kinder- und Jugendhilfe an, deren gesetzlicher Auftrag doch ist, Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen. Die Beiträge der Familienhebamme, Polizeibeamten, des Kinderarztes, der Bewährungshelferin, der Familienrichterin und der Jahrespraktikantin konnten deshalb nichts ausrichten, weil die zahlreichen wichtigen Informationen sternförmig bei einem Untätigen zusammenliefen, der nicht kontrolliert wurde (S. 216). Immerhin war zum nach wie vor nicht exakt bestimmbaren Todeszeitpunkt von Kevin – zwischen Ende März und April/ Mai 2006, seine Leiche wies 25 alte und neue Knochenbrüche auf - § 8a SGB VIII bereits längst in Kraft. Diese neue gesetzliche Bestimmung verdeutlicht den Schutzauftrag der Jugendamtes und verpflichtet die freien Träger zur Wahrnehmung dieses Auftrages in entsprechender Weise. Ob diese neue Vorschrift einschließlich der damit verbundenen datenschutzrechtlichen Klarstellungen und Lockerung den Beteiligten bekannt waren, daran bestehen erhebliche Zweifel. Zudem können die besten Gesetze bei einem totalen Systemausfall wenig ausrichten. Die Wahrnehmung und Umsetzung von § 8 a SGB VIII stellt eine viel größere Herausforderung dar als viele dachten. Die ersten in Bremen auf den Weg gebrachten und begrüßenswerten Schritte sind angesichts der Herausforderungen bei weitem nicht ausreichenden, ihre Effekte werden schnell verpufft sein, wenn sie nicht von einem grundlegenden Umdenken bestimmt sind und mit vielen anderen Maßnahmen verbunden werden.

In einem Beitrag von mir finden Sie erste Versuche einer Erklärung dafür, wieso es zu solch´ desaströsen Verhältnissen kommen kann. Die Lektionen aus dem Osnabrücker-Fall scheinen manche noch nicht gelernt zu haben. Auch hier war ein Kleinkind gestorben durch Verhungern, obwohl eine Reihe von Helfern im Einsatz war und auch im Osnabrücker Fall haben die deutlichen Warnungen von Ärzten das jugendamtliche Handeln nicht beeinflussen können. Leider waren die bisherigen wenigen Strafverfahren gegen Sozialarbeiter notwendig – es wird vermutlich weitere geben. Auch der Fall von Kevin bedarf noch einer strafrechtlichen Aufarbeitung. Gegen den Vater wurde am 18.4.2007 Anklage wegen Mordes erhoben. Die Ermittlungsverfahren gegen den Casemanager und den Vormund sind noch nicht angeschlossen. Meines Wissen gibt es keine Ermittlungsverfahren gegen Mitarbeiter in der Vorgesetztenebene.

„Der Tod von Kevin hat tief greifende Auswirkungen auf das gesamte soziale System innerhalb Bremens“ (S. 318). Hoffentlich, aber hoffentlich auch außerhalb Bremens.

 

 

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