FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2002

 

Ökonomische Anmerkungen zur Pisa-Studie

von Fritz Mewe und Kurt Eberhard (Jan. 2002)

 

Vorbemerkung: In den Massenmedien werden die Ergebnisse der Pisa-Studie, insbesondere der besonders niedrige Rangplatz der deutschen Schüler auf den dort verwendeten Leistungs-Skalen, für eine massive Kritik unseres Bildungssystems genutzt. Es gibt viele Gründe, das deutsche Bildungssystem zu kritisieren (vgl. Sachgebiet Erziehungskrise), die Pisa-Studie aber scheint dafür nicht allzuviel herzugeben. Das jedenfalls meinen die beiden Psychologen Prof. Dr. Fritz Mewe und Prof. Dr. Kurt Eberhard.
C.M.


Zur inneren Gültigkeit

In dieser Studie werden die Schulleistungen 15-jähriger Schüler aus 32 Ländern untersucht. Die Experten dieser Länder einigten sich, was als schulische Grundbildung betrachtet werden soll: nicht angelerntes Wissen, sondern lernen, wie man lernt, Probleme zu lösen.
Dazu gehören:

  • Lesekompetenz: Die Fähigkeit, Aussagen, Absichten und formale Strukturen zu erkennen und in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Daraus ergeben sich 3 Aspekte: Informationen ermitteln, interpretieren, reflektieren.
  • Mathematische Grundbildung: Fähigkeit, die Rolle der Mathematik in der Welt zu verstehen und damit konstruktiv umzugehen. Z.B. Maria wohnt 5 km von der Schule, Karl 3 km entfernt. Wie weit wohnen Karl und Maria von einander entfernt?
  • Naturwissenschaftliche Grundbildung: Fähigkeit, naturwissenschaftliches Wissen zu verstehen, naturwissenschaftliche Fragen zu erkennen und Schlußfolgerungen, die die natürliche Welt betreffen, zu ziehen. Z.B. Kräfte, Artenvielfalt, Physiologie Relevanz für den Alltag.

Bei dieser Einigung, was Bildung ist, wurde diese inhaltlich definiert. Die Gruppe legte sozusagen durch logische Analyse fest, was Bildung ist. Damit hat sie ihren Wert in sich. Ihre Gültigkeit ist rein immanent und muß damit nicht unbedingt etwas über die reale Außenwelt aussagen. Es fehlt die Kontrolle, ob die so festgelegte Bildung etwas über „Außenkriterien“ wie z.B. die Zufriedenheit der Bevölkerung, ihre Produktivität oder ihren Lebensstandard aussagt. Ohne eine solche Kontrolle kann man keine Vorhersagen in dem Sinne machen, je höher die Bildung, um so höher der Lebensstandard. Testpsychologisch würde man sagen, die Pisastudie hat, da offenbar kein Außenkriterium berücksichtigt wurde, nur eine innere Gültigkeit. Gruppendynamisch würde man bei der Festlegung der Bildung von einer Leistung des Bestimmens und nicht des Findens sprechen.

Zur äußeren Gültigkeit

Die Ergebnisse der Pisastudie zeigt die nachfolgende Tabelle, in der die Länder nach ihrem Leseergebnis ranggeordnet sind.

 

Lesen

Mathe

Naturw.

 

 

Lesen

Mathe

Naturw.

 

Finnland

546

536

538

17

Dänemark

497

514

481

1

Kanada

534

533

529

18

Schweiz

494

529

496

2

Neuseeland

529

537

528

19

Spanien

493

476

491

3

Australien

528

533

528

20

Tschechien

492

498

511

4

Irland

527

503

513

21

Italien

487

457

476

5

Korea

525

547

552

22

Deutschland

484

490

487

6

England

523

529

532

23

Liechtenstein

483

514

461

7

Japan

522

557

550

24

Ungarn

480

488

496

8

Schweden

516

510

512

25

Polen

479

470

483

9

Island

507

514

496

26

Griechenland

474

447

460

10

Österreich

507

515

519

27

Portugal

470

454

443

11

Belgien

507

520

496

28

Russland

462

478

460

12

Norwegen

505

499

500

29

Lettland

458

463

359

13

Frankreich

505

517

500

30

Luxemburg

441

446

422

14

USA

504

493

499

31

Mexiko

422

387

478

15

Mittelwert

500

500

500

32

Brasilien

396

334

375

16

Es fällt jedoch sofort auf, daß einige Länder mit einem hohen Lebensstandard, wie z.B. Luxemburg, Schweiz oder Deutschland relativ weit unten stehen. Natürlich hat Bildung einen Sinn in sich, aber sie soll sich auch auswirken auf den Kultur- und Zivilisations-Status der Gesellschaft. Dazu gehört auch der Lebensstandard, für den man als Maßzahl das Bruttosozialprodukt pro Kopf annehmen kann. Um einen evtl. Zusammenhang zwischen Bildung und Lebensstandard aufzufinden, ist auf der nächsten Tabelle für jedes Land das Bruttosozialprodukt pro Kopf (BSP/K)1990 in US-Dollar in der letzten Spalte eingetragen. Die Länder sind jetzt nach der Höhe des BSP ranggeordnet.

 

 

Lesen

Mathe

Naturwiss.

BSP/Kopf

1

Schweiz

494

529

496

33510

2

Liechtenstein

483

514

461

33510

3

Luxemburg

441

446

422

32250

4

Japan

522

557

550

26400

5

Norwegen

505

499

500

25480

6

Finnland

546

536

538

24470

7

Schweden

516

510

512

24320

8

Deutschland

484

490

487

23970

9

Island

507

514

496

23610

10

Dänemark

497

514

481

23480

11

USA

504

493

499

22600

12

Kanada

534

533

529

19790

13

Frankreich

505

517

500

19750

14

Österreich

507

515

519

19440

15

Belgien

507

520

496

18250

16

Italien

487

457

476

17400

17

Australien

528

533

528

16930

18

England

523

529

532

16130

19

Mittelwert

500

500

500

16064

20

Neuseeland

529

537

528

12680

21

Spanien

493

476

491

11220

22

Irland

527

503

513

11130

23

Griechenland

474

447

460

7530

24

Portugal

470

454

443

6240

25

Korea

525

547

552

5760

26

Lettland

458

463

459

4550

27

Russland

462

478

460

4000

28

Tschechien

492

498

511

3460

29

Ungarn

480

488

496

2880

30

Mexiko

422

387

478

2830

31

Brasilien

396

334

375

2670

32

Polen

479

470

483

1700

Offensichtlich haben einige Länder einen hohen Lebensstandard aber keine hohe Bildung. Wie hängen Lebensstandard und Bildung zusammen? Um diese Frage zu beantworten, wurden die in der Tabelle aufgeführten Variablen untereinander korreliert (Produkt-Moment-Korrelation). Die Korrelationen einschließlich der Irrtumswahrscheinlichkeiten finden sich in folgender Tabelle.

Korrelierte Variablen
 

Korrelations-
koeffizienten

Irrtumswahr-
scheinlichkeit

Lesekompetenz * Mathematische Grundbildung

0,92

<0,05

Lesekompetenz * Naturwissenschaftliche Grundbildung

0,89

<0,05

Mathematische Grundbildung * Naturwissenschaftl. Grundbildung

0,85
 

<0,05
 

Lesekompetenz * Bruttosozialprodukt/Kopf (BSP/K)

0,37

<0,05

Lesekompetenz *.BSP/K, nur die obere Hälfte

-0,43

>0,05!!

Lesekompetenz * BSP/K, nur die obersten 8

-0,61

>0,05!!

Lesekompetenz * BSP/K, untere Hälfte

0,69

<0,05

Zunächst kann man erkennen, daß die 3 in der Pisastudie gemessenen Variablen sehr eng zusammenhängen. Die Lesekompetenz korreliert mit der Mathematischen Grundbildung mit 0,92, mit der Naturwissenschaftlichen Grundbildung mit 0,89. Um den Zusammenhang zwischen Bildung und Lebensstandard zu erkennen, genügt es deshalb, die Korrelation zwischen Lesekompetenz und BSP/K auszurechnen. Es ergibt sich ein Koeffizient, der zwar gerade noch nicht zufällig, aber doch erstaunlich niedrig ist. Hiernach haben Bildung und Lebensstandard nur eine gemeinsame Varianz von 0,372 = 0,14, also 14%. Kann das sein? Betrachtet man noch einmal die nach dem BSP/K geordnete Tabelle, so könnte man auf den Gedanken kommen, daß es nicht angemessen sei, die Länder, die lange unter einer Parteidiktatur zu leiden und unter marxistischen Einflüssen eine „Beschäftigungswirtschaft“ aber keine „Effektivitätswirtschaft“ hatten, mit den Ländern zu vergleichen, die schon lange eine Effektivitätswirtschaft praktizieren.

Um einen ersten Trend zu erkennen, genügt es, da alle Länder mit einer ehemaligen Beschäftigungswirtschaft in der unteren Tabellenhälfte stehen, die obere und die untere Tabellenhälfte getrennt zu korrelieren. Es ergeben sich verblüffende Zahlen. Bei den stark effektiv ausgerichteten Ländern ergibt sich eine negative Korrelation (-0,43)! Betrachtet man sogar nur die ersten 8 Länder, wird die negative Korrelation (trotz verringerter Streuungen) noch höher: –0,61. Allerdings sind diese letzten beiden Koeffizienten nicht signifikant.
In der unteren Hälfte finden wir eine recht hohe positive Korrelation von 0,69.
Wie sind diese Zahlen zu interpretieren?

Interpretation der äußeren Gültigkeit

Länder mit niedrigem BSP zeigen eine positive Korrelation zwischen Lesekompetenz und Lebensstandard. Fast die Hälfte (48%; 0,692 =0,48) der BSP-Varianz kann durch die Bildung erklärt werden. Bei diesen Ländern kann man sagen, je besser die Bildung, um so höher der Lebensstandard bzw. umgekehrt: je höher der Lebensstandard, desto besser die Bildung.

Die Pisastudie sagt außerdem, je einheitlicher ein Schulsystem, je später also die Differenzierung in Realschule, Oberschule usw. um so höher die Lesekompetenz. Wenn man in Deutschland die Lesekompetenz erhöhen wollte, sollte man Hauptschüler, Realschüler und Oberschüler nicht schon nach der 4. Klasse, sondern erst später voneinander trennen. Jedoch scheint die Auswirkung einer höheren Lesekompetenz auf Gesellschaften, die einen relativ hohen Lebensstandard haben, nicht positiv zu sein. Darauf weist die nicht signifikante Korrelation hin, die außerdem noch negativ ist. Wie ist solch ein fast paradox erscheinendes Ergebnis zu erklären?

Eine Erklärung könnte sein, daß in wirtschaftlich hoch entwickelten Ländern eine große Vielfalt von beruflichen Tätigkeiten verlangt wird. Sowohl eine starke Elite, spezielle Techniker, qualifizierter Service, aber auch ausreichend Angelernte müssen zur Verfügung stehen. Hier reicht es nicht aus, sich in neue Probleme hineindenken zu können, auch viel differenziertes angelerntes Wissen für den Umgang mit Maschinen, Computern und Menschen ist erforderlich.

Eine andere – die erste nicht ausschließende – Erklärung könnte sein, daß viele Eltern und Kinder in wirtschaftlich erfolgreichen Staaten, die ein besonders dichtes soziales Netz geknüpft haben (wie z.B. Dänemark, die Schweiz und Deutschland), sich nicht zu besonderen Bildungsanstrengungen herausgefordert fühlen, weil sie darauf ökonomisch nicht angewiesen sind. Danach müßte man eher über sozialpolitische als über bildungspolitische Korrekturen nachdenken.

Es ist jedenfalls voreilig, aus den Ergebnissen der Pisastudie auf ein Versagen des deutschen Schulsystems zu schließen. Aussprüche, unsere Schüler seien nicht zukunftsfähig oder nicht anschlußfähig, sind nicht nur nicht bewiesen, sondern unsere ökonomische Produktivität zeigt eher das Gegenteil. Wahrscheinlich ist das Pisa-Bildungskonzept zu eindimensional. Ähnlich wie mit zunehmender Intelligenzhöhe eine Differenzierung zu mehr Faktoren erfolgt, so könnten auch die Bildungsanforderungen an eine hoch technisierte Gesellschaft ganz anders, jedenfalls wesentlich vielseitiger sein.

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