FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2006

 

Studie zur Situation gefährdeter Kinder

von Prof. Maud Zitelmann

 

An der Universität Osnabrück wird derzeit eine umfangreiche Befragung von Notaufnahmeheimen durchgeführt, in denen Kinder bei akuter Gefahr untergebracht werden. Aus Anlass der aktuellen Diskussion um den staatlich mitverantworteten Tod misshandelter Kinder, werden einige Daten vorab veröffentlicht.

Die erstellte Studie ist von weitreichender Aussagekraft: Nur selten liegen ähnlich repräsentative Daten zum Kindesschutzbereich vor. An der Befragung haben sich bundesweit über 64 Prozent aller Notaufnahmeheime beteiligt, die Tag und Nacht mehr als 1000 Plätze für die Inobhutnahme gefährdeter Kinder und Jugendlicher vorhalten. Da diese Plätze nach einigen Tagen, Wochen manchmal auch Monaten wieder neu belegt werden, spiegeln die vorliegenden Daten das Erfahrungswissen aus der pädagogischen Begleitung mehrerer Tausend gefährdeter Kinder.

1.) Heimunterbringungen ohne regelmäßige gerichtliche Prüfung des Sorgerechts

Nur in jedem fünften Fall, in dem Kinder und Jugendliche aus der Familie genommen und in einem Heim untergebracht werden müssen, findet nach Auskunft der Heimleiter auch ein familiengerichtliches Kindesschutzverfahren statt. So war in unserer Stichprobe nur bei 146 von mind. 874 Fällen der in Obhut genommenen bzw. vorläufig außerhalb der Familie untergebrachten Kinder ein Familiengericht eingeschaltet worden. In der Mehrheit aller Fälle blieb das gesamte Sorgerecht folglich trotz der zumeist vermuteten Kindeswohlgefährdung ohne irgendeine familiengerichtliche Überprüfung bei den Eltern. Diese behalten damit die vollständige Kontrolle über das Leben des betroffenen Kindes oder Jugendlichen, gleich ob es z. Bsp. um seinen Aufenthalt im Heim, um die Einleitung therapeutischer Hilfen oder um die Ausübung von Umgangskontakten (auch im Haushalt der Eltern) geht. Bedenkt man, dass der Inobhutnahme der Kinder jedoch in der Regel ein schwerwiegendes Versagen oder sogar Gewalthandlungen der Eltern vorausgegangen sind, erscheint diese Praxis objektiv hochgradig riskant und wird wohl auch von vielen Kindern subjektiv als extreme Unsicherheit erlebt. Es empfiehlt sich, die gesetzlichen Rahmenbedingungen dahingehend zu ändern, dass bei jeder Herausnahme eines gefährdeten Kindes auch regelhaft eine familiengerichtliche Überprüfung der elterlichen Sorge- und Umgangsrechte stattfindet.  Bedenkt man, dass dieser Rechtsschutz noch vor wenigen Jahren selbst jedem Kind anlässlich einer Scheidung der Eltern zuteil wurde, ist dieser Aufwand der Justiz im Bereich des Kindesschutzes sicher nicht zu viel verlangt.

2.) Amtsermittlung der Familiengerichte ist oft unvollständig

Alle Notaufnahmeheime wurden befragt, ob es in den letzten 5 Jahren einen Fall gab, in dem die Einrichtung ein Kind / einen Jugendlichen für gefährdet hielt, ohne dass das Jugendamt die nötigen Schritte einzuleiten schien. Immerhin jede dritte Einrichtung beantwortete diese Frage mit „Ja“ (36,7%; N=188). Aber nur jede fünfte Einrichtung wandte sich daraufhin direkt an die Justiz. Die anderen Heime beriefen sich überwiegend darauf, das Jugendamt sei über ihre Bedenken informiert worden. Teils nannten die Heimleiter auch die Sorge, bei einem offenen Konflikt um den Schutz eines anvertrauten Kindes nicht mehr vom zuständigen Jugendamt belegt zu werden.

Auch wenn ein gerichtliches Kindesschutzverfahren (§§ 1666, 1666a BGB) eingeleitet wird, ist dieses Verfahren kein Garant für den Schutz eines gefährdeten Kindes. So wendet sich das ermittelnde Familiengericht nur in jedem dritten Fall (29,8 %) routinemäßig direkt an das betreuende Heim, um wenigstens ein Gespräch über die Situation und Wünsche des dort betreuten Kindes oder Jugendlichen zu führen. Ebenso selten werden schriftliche Berichte des Heimes angefordert. Die Bitte des Gerichtes, eine gezielte Diagnostik durchzuführen, erfolgt sogar nur gegenüber acht Prozent aller Einrichtungen. So gehen entscheidende Informationen und Einschätzungen aus dem Betreuungsalltag der Kinder und von Kontakten mit den Eltern verloren.

Auch die Antworten auf die Frage, ob die Richter (wie vom Gesetz gemäß § 50b FGG verbindlich vorgesehen) regelmäßig einen persönlichen Eindruck von dem Kind oder Jugendlichen gewinnen und ihm rechtliches Gehör geben, fallen ernüchternd aus. Nur eine Minderheit (44 von 173) der Notaufnahmeheime gibt an, die Kindesanhörung werde „immer“ durchgeführt. Weitere 91 Heime antworteten mit „häufig“. Deutliche Versäumnisse der Familiengerichte werden aber in jedem fünften Heim offenkundig. So geben 38 der 173 Heime an, die örtlichen Familiengerichte würden das Kind selbst „selten“ oder sogar „nie“ anhören.

Diese Befunde werden übrigens auch durch den 1998 neu eingeführten „Anwalt des Kindes“ kaum gemildert. Denn soweit überhaupt ein solcher Verfahrenspfleger eingesetzt wird, (hierzu konnten nur 143 Einrichtungen Auskunft geben), übernehmen die Vertreter der Kinder nach Erfahrung von immerhin 30,8 % dieser Einrichtungen nur selten oder nie die persönliche Begleitung und Information des Kindes. Dies obwohl Kinder einen solchen Rechtsbeistand während des Verfahrens sicher noch nötiger hätten als Erwachsene.

Häufig keine persönliche Hilfe für die traumatisierten Kinder

Kritisch hervorzuheben ist die viel zu häufige Aufnahme von akut verstörten Kinder in normale Dauergruppen, die es immerhin in vier von zehn Einrichtungen gibt (39,3 %, N = 196)! Dagegen hält nur jede fünfte Einrichtung (22,4 %) spezifische Gruppen zur Inobhutnahme vor, in denen gezielt auf die Situation der zumeist traumatisierten Kinder eingegangen und ihre Gefährdung abgeklärt werden kann. Jedes zweite Notaufnahmeheim für Kinder (56,1 % = 106 von 189) muss ohne fachliche Mitwirkung eines Heimpsychologen bzw. Heimpsychologin auskommen.  Diese Strukturen sind nicht nur für die dauerhaft im Heim lebenden Kinder und Jugendlichen eine Zumutung. Dies trägt auch den spezifischen Bedürfnissen der Kinder in der Notaufnahme und den fachlichen Anforderungen an eine gezielte, umfassende Krisenintervention und Perspektivklärung keine Rechnung.

Jede zweite Notaufnahmeeinrichtung (50,8, N = 193) ist chronisch überbelegt, häufig sogar mehr als sechs Monate im Jahr. In den Heimen, die am Erhebungstag angaben durchschnittlich belegt zu sein, wurden pro Gruppe sieben und mehr Kinder tagsüber nur von ein oder zwei Pädagogen betreut, in der Nacht war für alle Kinder nur eine Person verfügbar. Macht man sich klar, in was für einer seelisch belasteten Situation sich Kinder nach der Herausnahme aus der Familie befinden und in welchem Ausmaß sie der Zuwendung und alltäglichen Versorgung bedürfen, während ihre Gruppenbetreuer auch Außenkontakte mit den Eltern, dem Jugendamt, der Schule, Gutachtern etc. wahrnehmen sowie Fallbesprechungen durchführen und Berichte anfertigen müssen, ist dieser Betreuungsschlüssel unverantwortbar. Es bedarf offenkundig erheblicher finanzieller Anstrengungen der Kommunen, dieses hochsensible Praxisfeld fachgerechter auszustatten.

Für weitere Informationen nehmen Sie bitte Kontakt auf mit:

Prof. Dr. Maud Zitelmann
Juniorprofessur Sozialpädagogik
Universität Osnabrück
Erziehungs- und Kulturwissenschaften
Heger Tor Wall 9
49069 Osnabrück

 

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