FORUM: Internetzeitschrift des Landesverbandes für Kinder
in Adoptiv und Pflegefamilien S-H e.V. (KiAP) und der Arbeitsge-
meinschaft für Sozialberatung und Psychotherapie (AGSP)


 

Diskussion / Jahrgang 2006

 

Sonderausschuss „Vernachlässigte Kinder“

Gemeinsam handeln für Hamburgs Kinder

Empfehlungskatalog

 

Vorbemerkung

Die Hamburgische Bürgerschaft hat als politische Reaktion auf den Tod der siebenjährigen Jessica im April 2005 den Sonderausschuss „Vernachlässigte Kinder“ eingesetzt. Seitdem sind weitere gravierende Fälle von Vernachlässigung und Kindeswohlgefährdung in Hamburg und ganz Deutschland bekannt geworden.

Um Kinder, die unter schwierigen Lebensbedingungen aufwachsen, wirksam vor Vernachlässigung zu schützen, sind weitere konkrete Maßnahmen und Angebote, die die Kinder gleich von Geburt an schützen, notwendig. Diese Angebote sollten sich neben den Familien auch an das familiäre und gesellschaftliche Umfeld richten. Darüber hinaus gilt es auch diejenigen Familien anzusprechen, in denen die Kinder zwar noch nicht vernachlässigt werden, bei denen aber belastende Lebensumstände das Risiko einer Vernachlässigung erhöhen.

Der Sonderausschuss „Vernachlässigte Kinder“ hat für die Zukunft Empfehlungen an den Senat verfasst, die den Kindern und Familien in unserer Stadt eine verbesserte Unterstützung und Begleitung bieten sollen.

Zielvorgaben für das Handeln des Senats und der Behörden

  • Hamburg braucht ein dichtes Netz, das alle Kinder erreicht.
  • Das Hilfesystem muss klar, zielgerichtet und verbindlich sein. Es darf kein Verschieben von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten zu Lasten der Kinder geben
  • Risikofamilien müssen rechtzeitig identifiziert werden, damit Hilfen schnell eingeleitet werden können. Das Dunkelfeld muss aufgehellt werden. Das Hilfesystem muss für die Menschen nah und zugänglich sein und es muss die Risikofamilien aufsuchen. 
  • Die rechtlichen Grundlagen über Kindeswohlgefährdung müssen weiterentwickelt werden.

Der Senat wird ersucht der Bürgerschaft über die Empfehlungen des Sonderausschusses bis November 2006 zu berichten.

I. Ämter u. Behörden – Vernetzung / Zusammenarbeit

1. Zusammenarbeit
Derzeit sind erhebliche Unterschiede in der Qualität der Zusammenarbeit, ausgehend von den beteiligten Personen, vorherrschend.

Eine Verbesserung und Systematisierung der Zusammenarbeit zwischen allen beteiligten Institutionen (Jugendamt einschließlich des ASD, Kita, Schule/REBUS, Freien Trägern der Jugendhilfe und Polizei) ist herbeizuführen.

Mit dem Senats-Programm „Hamburg schützt seine Kinder“ wurde ein weiterer weiterer wichtiger Schritt für eine geregelte Zusammenarbeit geschaffen. Die Maßnahmen müssen frühzeitig überprüft und ggf. weiter optimiert werden.

2. Allgemeine Soziale Dienste
Die bestehenden Einrichtungen – etwa Jugendamt und Allgemeine Soziale Dienste – müssen personell so ausgestattet werden, dass sie alle gesetzlich begründeten Aufgaben  ordnungsgemäß und zeitnah erledigen können. Dazu zählen auch Trennungs- und Scheidungsberatung, Pflegeelternüberprüfungen, Beteiligung an Sorgerechtsverfahren, Regelungen von Besuchskontakten und Elternarbeit. Wartezeiten von mehreren Monaten zur Bearbeitung dieser Aufgaben sind nicht mehr akzeptabel. Die Allgemeinen Sozialen Dienste müssen wieder in die Lage versetzt werden, Familien aufzusuchen.

Der Senat wird gebeten

  • darauf hinzuwirken, dass die Bezirksämter der Besetzung von freien Stellen des ASD – unter Berücksichtigung der konkreten Problemlagen – eine hohe Priorität einräumen. gemeinsam mit den Bezirksämtern dafür Sorge zu tragen, dass alle vakanten Personalstellen des ASD umgehend besetzt werden,
  • bei nachgewiesenem Bedarf zusätzliche Mittel für die Allgemeinen Sozialen Dienste zur Verfügung zu stellen. Die Bezirke sollen aufgefordert werden, die Mittel für zusätzliche ASD-Stellen nur zweckgebunden zur Schaffung dieser Stellen beim ASD einzusetzen und 
  • dass bei konkretem Bedarf auch Stellen extern ausgeschrieben werden können.
  • zu prüfen, ob die Kriterien zur Ermittlung der Soll-Stellen bei den Allgemeinen Sozialen Diensten noch den tatsächlichen Problemlagen und den sich dynamisch verändernden Bedarfen in den Bezirken entsprechen und dem zuständigen Fachausschuss über das Ergebnis der Prüfung zu berichten.

3. Verbindliches Fall-Management einführen
Die ASD müssen im Zuge der Geschäftsprozess-Optimierung ein verbindliches Konzept für ihre Arbeit erhalten.

Unter anderem ist ein ergebnis- und wirkungsorientiertes Fallmanagement, das den gesamten Familienzusammenhang und die sozialen Bezüge erfasst, als verbindliche Arbeitsmethode der Allgemeinen Sozialen Dienste bei der Bearbeitung von Kindeswohlgefährdungen und Erziehungshilfen einzuführen.

Insbesondere muss ein Fallmanagement die Ressourcen der Jugendlichen und ihrer Familie sowie die Beurteilungen und Hilfsmöglichkeiten anderer Beteiligter einbeziehen.

Darüber hinaus ist die Zusammenarbeit im Sinne eines ämterübergreifenden Fallmanagements zu optimieren (hierzu zählen neben den ASD auch z. B. die Schulen, Kindertageseinrichtungen und die freien Träger).

4. Sozialdatenaustausch
Klärung und gegebenenfalls Änderung der Rechtslage hinsichtlich des Austauschs von Sozialdaten über Kinder und deren Familien als Voraussetzung für eine systematische Erfassung und Begleitung von potenziellen Problemfamilien.

Die Durchführung einer Schwachstellen-Analyse ist in diesem Bereich nötig.

Überprüfung und Fortentwicklung der Zuständigkeits- und Informationsweitergabe bei Wohnortwechsel

    • innerhalb Hamburgs
    • in andere Bundesländer

II. Prävention, Früherkennung, Unterstützung

5. Vernachlässigung früh erkennen
Lücken in der (gesundheitlichen) Begleitung von Kindern zwischen 2. und 4./5. Lebensjahr sollen wirksam geschlossen werden.

Die U1-U9 Vorsorge- und Früherkennungsuntersuchungen bei Kindern sind verbindlicher zu gestaltet. Dazu startet Hamburg eine weitergehende Bundesratsinitiative. Falls verpflichtende Untersuchungen rechtlich nicht umsetzbar bleiben, wären beispielsweise Bonusregelungen oder Einladungswesen durch gesetzliche Krankenkassen geeignet, Anreizpunkte für die potenzielle Zielgruppe zu setzen.

Im Rahmen der verpflichtenden Meldekette müssen auch Kitas Auffälligkeiten bei Kindern melden und weiterverfolgen.

Die zusätzliche Einführung einer Vorstellung der Kinder in der Kindertagesstätte (Kita) / Kindergarten (KiGa) mit ca. 3 Jahren soll sinnvoll umgesetzt werden. Die Bedeutung einer Ganztagsbetreuung für Kinder aus einem schwierigen Umfeld wird von allen Beteiligten als wichtige Herausforderung gesehen. Dieses wurde zuletzt durch die Debattenbeiträge und die einstimmige Überweisung des Themas (Bürgerschaft vom 08.12.2005) in den Kinder- Jugend- und Familienausschuss unterstrichen.

Gegenüber dem zuständigen gemeinsamen Bundestagsausschuss ist anzuregen, Hinweise auf Vernachlässigung oder sexuellen Missbrauch in den Untersuchungskatalog der Vorsorgeuntersuchungen aufzunehmen. Zudem ist eine Überprüfung des zeitlichen Ablaufs wünschenswert, um die Lücke in der Kindesentwicklung zwischen dem 2. und 4. Lebensjahr zu schließen.

6. Unterstützung
Personen, die dringend Unterstützung bedürfen, aber die vorhandenen freiwilligen Angebote nicht annehmen, müssen identifiziert und an niedrigschwellige Angebote herangeführt werden. Diese Angebote bieten effektive Hilfe vor Ort. So sollte z.B. der Ausbau von Familienhebammen und Familienhelferprojekten, die bereits in der Schwangerschaft und von der Geburt an die Familien begleiten, verfolgt werden.

7. Mitwirkung bei der 4½-jährigen Untersuchung
Die bereits verpflichtende Vorstellung der Kinder zur 4½-jährigen Untersuchung nach dem Hamburger Schulgesetz (HmbSG) ist so zu gestalten, dass die Eltern tatsächlich mitwirken müssen. Damit werden auch Kinder vorstellig, die nicht in Kinderbetreuungseinrichtungen untergebracht sind.

Bei Verweigerung sollen verpflichtende Maßnahmen möglich sein bzw. durch Meldung an den ASD zeitnah eine nachgehende Kontrolle erfolgen. Dies unterliegt der Hamburger Gesetzgebungskompetenz.

8. Aufsuchende Jugendarbeit und Straßensozialarbeit
Oft werden die Beratungs- und Unterstützungsangebote für Eltern und Familien in den Bezirken aus verschiedensten Gründen nicht wahrgenommen und dann auch nicht in Anspruch genommen. Mit neuen Methoden muss deswegen sichergestellt werden, dass Hilfeangebote durch eine zielgruppenorientierte und aufsuchende Sozialarbeit auch die Eltern erreichen. Die Angebote müssen klarer strukturiert und für Hilfesuchende transparenter werden.

Voraussetzung ist das Aufsuchen dieser Eltern in ihren Lebensräumen, also den Orten, an denen sie regelmäßig verkehren. Erst der Kontakt zu den Eltern ermöglicht auch gezielte Hilfe für das Kind.

Von besonderer Bedeutung ist auch die Arbeit der freien Träger. Eine Qualitätsoffensive ist erforderlich. Die Qualität der freien Träger in der Jugendhilfe soll zukünftig zertifiziert werden.

9. Niedrigschwellige Angebote sind auszubauen bzw. zu unterstützen
Ausbau von Mütterberatungsstellen und Kinder- und Familienzentren.

Mütterberatungsstellen sind hervorragend geeignet, um die Anschlussbetreuung nach der Versorgung durch Hebammen zu übernehmen. Voraussetzung dafür ist eine Übergabe von Informationen und die Möglichkeit der aufsuchenden Beratung.

10. Erweiterung der schulärztlichen Meldepflicht
Der Sonderausschuss empfiehlt eine Erweiterung der Meldepflicht und verstärkte Zusammenarbeit der Schulärzte mit dem ASD und den Jugendämtern bei Hinweisen auf Vernachlässigung, Misshandlung oder sexuellen Missbrauch.

Es ist zu prüfen, ob das Öffentliche-Gesundheitsdienst-Gesetz (ÖGD-Gesetz) hierzu geändert werden muss bzw. kann.

Diesbezüglich sollten die Untersuchungsinhalte der staatlichen Untersuchungen gemäß Hamburger Schulgesetz und Kinderbetreuungsgesetz bzgl. Hinweisen auf Vernachlässigung, Misshandlung oder sexuellen Missbrauch erweitert werden.

11. Öffentlichkeitsarbeit
Die Öffentlichkeitsarbeit in Hamburg soll weiter verstärkt werden.

Nachdem das Problem der Kindesvernachlässigung durch die letzten Fälle verstärkt ins Bewusstsein der Bevölkerung gelangt ist, sollten nun umfangreich Unterstützungsangebote und Möglichkeiten des nachbarschaftlichen Einmischens propagiert werden.

Insbesondere auch vermehrt zielgruppenorientierte Ansprache (z.B. Personen mit Migrationshintergrund, mehrsprachige Informationsverbreitung, sozialraumorientierte Öffentlichkeitsarbeit).

12. Aus- und Fortbildung
Alle Berufsgruppen, die mit Kindern zu tun haben - von der Schwangerschafts- und Geburtshilfe, über Sozialarbeiter, Erzieher, Lehrer und Familienrichter - haben Bedarf an Fortbildung, um Risikofaktoren in der Familie sicher und früh erkennen zu können. Diese Menschen brauchen mehr Handlungssicherheit und Klarheit auch über gesetzliche Grundlagen.

Der Altersdurchschnitt des ASD im Bezirk Mitte liegt bei über 50 Jahren, die Ausbildungen der Mitarbeiter liegen somit rund 30 Jahre zurück.

Entsprechendes ist im Rahmen der Ausbildung der Sozialpädagogen sicherzustellen.

13. Zentrale Polizeidienststelle
Es ist zu prüfen, ob eine zentrale Polizeidienststelle nach Berliner Vorbild eingerichtet werden soll, die sich um Fälle von Vernachlässigung und Misshandlung Schutzbefohlener kümmert und die mit fest zugewiesenen Staatsanwälten zusammen arbeitet.

14.  Mehr Klarheit für Hilfesystem und Rechtssprechung
Dem Hilfesystem und der Rechtssprechung sollen zukünftig mehr Klarheit gegeben werden, wann das Kindswohl gefährdet ist, damit Hilfe früh durchgesetzt werden kann. Hamburg prüft eine Bundesratsinitiative mit dem Ziel, den § 1666 BGB dahingehend konkreter zu fassen, was besonders in den ersten 6 Lebensjahren unter „Gefährdung des Kindswohls“ zu verstehen ist.

III. Evaluation

15. Erfahrungen aus den staatlichen Pflichtuntersuchungen nach dem HmbSG und dem Kinderbetreuungs-Gesetz (KibeG) sollten nach ca. 3 Jahren ausgewertet und der Bürgerschaft über die Erkenntnisse Bericht erstattet werden.

16. Im Zusammenhang mit einer Vereinheitlichung der Arbeitsabläufe in den unterschiedlichen Dienststellen des ASD sollten die Organisationsstrukturen der ASD zielgerichtet untersucht und somit Erfahrungen über gute und weniger gute Funktionsweisen gesammelt und berücksichtigt werden. In diesem Zusammenhang ist auch die Effizienz der Hilfekonferenzen zu überprüfen und zu verbessern.

 

 

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